Situationale Kriminalprävention

Die situationale (situative oder situationsbezogene) Kriminalprävention geht von der Vermutung aus, dass Kriminalität bzw. ein krimineller Akt eine Kopplung von situationalen Faktoren und Kriminalität beinhaltet. Kriminalität entsteht demnach durch das Zusammentreffen von Täter und Opfer in einer bestimmten Situation. Vorbeugungsstrategien können sich dann auf die Täter, auf die Opfer oder auf Elemente der Situation beziehen. Wenn man die "kriminogenen" Elemente von Situationen kennt, kann man sie präventiv entschärfen, indem man Tatgelegenheiten reduziert.

Begriff, Inhalt und Entstehung der situationalen Kriminalprävention

Im Gegensatz zu früheren Maßnahmen der Kriminalprävention, bei denen der Schwerpunkt darauf gerichtet war, die Ursachen der Kriminalität oder die Rehabilitation der Täter zu erforschen, wird im Rahmen der situationalen Kriminalprävention versucht, die Kriminalität effizient unter Kontrolle zu halten.


Begriff und Inhalt

Die situationale Kriminalprävention ist eine vergleichsweise junge Präventionsmethode, die Ende der 60er Jahre in Großbritannien und den U.S.A. entwickelt wurde. Dabei wird ein präventiver Ansatz verfolgt, der nicht auf gesellschaftlichen oder institutionellen Verbesserungsvorschlägen basiert, sondern alleine die Reduzierung der Tatgelegenheiten zum Ziel hat. Sie stützt sich auf die Annahme, dass sich Menschen bewusst dazu entscheiden eine Straftat zu begehen, wobei die Entscheidung jedoch von äußeren, situationalen Faktoren beeinflusst wird.

Begründet wurde die situationale Kriminalprävention von Ronald V. Clarke. Die situationale Kriminalprävention ist unterschiedlichen Tätern, Tatmotiven und Tatmethoden ausgesetzt und muss bei der Wahl der Strategien deshalb speziell auf diese Elemente eingehen. Ein weiterer Schwerpunkt der situationalen Kriminalprävention besteht darin, potentielle Täter durch umweltgestalterische Maßnahmen (z.B. mit Videoüberwachung) von der Tat abzuhalten. Auch soll verhindert werden, dass potentielle Täter Entschuldigungsgründe vorbringen, die die Tat für sie selber rechtfertigen sollen. Als Ziel soll eine Veränderung auf der moralischen Ebene vollzogen werden. Die situationale Kriminalprävention ist auf alle Formen der Kriminalität anwendbar.


Entstehung / theoretischer Hintergrund

Die situationale Kriminalprävention ist britischen Ursprungs, wurde aber von verschiedenen Konzepten aus den U.S.A. beeinflusst.

Die ''Defensible Space Theory'' von Oscar Newman, die innerhalb der „verteidigunsfähigen Räume“ eine natürliche Überwachung fordert und, die ''Crime Prevention Through Environmental Design'' von C. Ray Jeffrey durch ihren wichtigsten Eckpfeiler der Schaffung von Zugangskontrollen haben eine wichtige Grundlage für die Entwicklung der Techniken der situationalen Kriminalprävention geliefert.

Das SARA-Model (Scanning, Analysis, Response, Assessment) des Problem-Orientieted Policing von Herman Goldstein reflektiert das gleiche Forschungsdesign, das der situationalen Kriminalprävention zugrunde gelegt wird.

Gleichzeitig hat die ''Routine-Activity-Theory'' von Larry Cohen und Marcus Felson einen Rahmen geschaffen, innerhalb der die gewonnenen Erkenntnisse eingeordnet werden können. Auch konnte die ''Routine-Activity-Theory'' durch die Dreigliederung - motivierter Täter, geeignetes Tatobjekt/-subjekt, Abwesenheit fähiger Beschützer - dabei behilflich sein, präventive Möglichkeiten auszuweiten. Die ''Lifestyle-Theory'' von Michael J. Hindenlang, Michael Gottfredson und James Garofalo hat hingegen gezeigt, wie potentielle Opfer sich verhalten und was sie tun können, um das Risiko eines Verbrechens zu senken. Das Phänomen der Deliktsverlagerung schließt schließlich an die ''Rational Choice Theory'', u.A vertreten von Gary Becker, an und besagt, dass der Täter stets vor Begehung der Tat eine Abwägung der Vor- und Nachteile trifft.


Techniken der situationalen Kriminalprävention

Die situationale Kriminalprävention soll durch verschiedene Techniken die Reduzierung der Kriminalität bewirken. Dabei werden Tatgelegenheiten erschwert, bzw. Tatgelegenheitsstrukturen verändert. Als Tatgelegenheitsstrukturen werden Umweltelemente bezeichnet, die in der konkreten Tatsituation als Tatanreiz bzw. als Tathemmnis für den Tatentschluss des mehr oder weniger rational handelnden Straftäters relevant sind. Dabei sind objektive Bedingungen wie Ort, Zeit, Beute und subjektiv wahrgenommene Chancen von Bedeutung.

Als wesentliche Strukturelemente gelten in der Regel das Vorhandensein geeigneter Zielobjekte, die zur Tatbegehung erforderliche kriminelle Energie, insbesondere die Zugänglichkeit des Zielobjekts oder Tatmittels, das Risiko der Tataufklärung (einschließlich Verurteilungswahrscheinlichkeit, Sanktionsmaß und sonstige soziale Kosten) sowie der Tatertrag.

Um die Tatgelegenheitsstrukturen gezielt zu verändern, wurde im Rahmen der situationalen Kriminalprävention eine Klassifizierung der Interventionsmethoden, sog. Techniken, durchgeführt. Man unterscheidet daher 16 Techniken, die in vier verschiedenen Arten von Maßnahmen zusammengefasst werden. Diese Maßnahmen können einzeln oder auch kombiniert eingesetzt werden.


Erhöhung des Tataufwand (Increasing perceived effort)

Durch Maßnahmen, die den Aufwand für die Straftat erhöhen, sollen der Zugang zu den Zielobjekten deliktischen Handelns erschwert und gleichzeitig die psychische Hemmschwelle sowie die physische Barrieren zur Tatbegehung wesentlich gesteigert werden. Man unterscheidet dabei zwischen vier verschiedene Interventionsmethoden, die den Tataufwand erhöhen können: Sicherung von Zielobjekten (Target Hardening), Zugangskontrollen (Access Control), Umlenkung von Straftätern (Deflecting Offenders) und Kontrolle der Tatwerkzeuge (controling facilitators).


Erhöhung des Täterrisikos (increasing perceived risks)

Die mit einer Straftat verbundenen Risiken für Täter werden erhöht, wenn die reelle oder subjektiv empfundene Gefahr der Aufdeckung, Festnahme und/oder Verurteilung erhöht werden kann. Hier werden vier verschiedene Maßnahmen, die das Täterrisiko erhöhen können, unterschieden: Ein-/Ausgangskontrollen (entry/exit screening), Formelle Überwachung (formal surveillance), Überwachung durch Mitarbeiter (surveillance by employees) und natürliche Überwachung (natural surveillance).


Minderung des Taterfolgs/-ertrags (reducing anticipated rewards)

Durch Minderung des Taterfolgs soll der erwünschte Taterfolg/-ertrag der Straftat ganz oder teilweise beeinträchtigt werden. Dies kann durch vier verschiedene Methoden erfolgen: Beseitigung von Zielobjekten (traget removal), Markierung von Eigentum (identifying property), Beseitigung von Anreizen (reducing temptation) und Nutzenverwehrung (denying benefits).


Beseitigung von Rechtfertigungselementen (removing excuses)

Vor Begehung einer Straftat treffen Täter eine moralische Abwägung ihres Verhaltens. Dabei werden vier Techniken differenziert: Aufstellen von Regeln (rule setting), Stimulierung des Gewissens (stimulating conscience), Kontrolle von Enthemmungsmitteln (controlling disinhibitors) und ein Angebot von Möglichkeiten, die das Einhalten von Regeln ermöglichen (faciliating compliances).


Effektivität der situationalen Kriminalprävention

Die Effektivität der situationalen Kriminalprävention wird im Hinblick auf die Phänomene Deliktsverlagerung und die Erzielung von zielübergreifenden Gewinnen beurteilt.


Deliktsverlagerung (Displacement)

Die Veränderung von Tatgelegenheitsstrukturen führt nicht ohne weiteres zu einer Deliktsverringerung, sondern birgt auch die Gefahr in sich, dass Delikte verlagert werden. Die Verlagerung ist zentraler Kritikpunkt an der situationalen Kriminalprävention und nimmt daher bei der Evaluation eine wichtige Rolle. Man unterscheidet dabei die räumliche Verlagerung in ein anderes Gebiet, die funktionale Veränderung auf ein anderes Delikt, die zeitliche Veränderung auf eine andere Tatzeit, die taktische Veränderung zu einer anderen Methode und letztlich die Veränderung auf ein anderes Angriffsziel oder Opfer. Eine Kombination der Verlagerungsarten ist dabei durchaus möglich. Das Phänomen der Verlagerung schließt an den Rational Choice-Ansatz an, der besagt, dass der Täter stets vor Begehung der Tat eine Abwägung der Vor- und Nachteile trifft, da der Täter sich rational für eine Verlagerung der Tat entscheidet.


Zielübergreifende Gewinne (diffusion of benefits)

Auch wenn situationale Maßnahmen zu einer Verlagerung führen können, können diese ebenso positive Effekte bewirken. Das Pendant zur Verlagerung bildet daher die „diffusion of benefits“, sog. zielübergreifende Gewinne oder Vorteile, die nicht durch die Präventionsmaßnahme an sich gewonnen werden, sondern als positiver Nebeneffekt zur situationalen Kriminalprävention auftreten. Die zielübergreifenden Gewinne können ebenso wie die Verlagerung in verschiedenen Formen auftreten: Die positiven Wirkungen eines Präventionskonzepts können sich örtlich auf andere Gebiete erstrecken, die nicht unter die Sicherheitsmaßnahmen fallen. In der Regel ist das der Fall, wenn die Sicherheitsmaßnahmen durch Öffentlichkeitskampagnen angepriesen werden, aber ihre Grenzen nicht definiert sind. Auch können sie Kriminalität verhindern, wenn die Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr durchgeführt werden, also zeitlich befristet sind. Letztlich können sich auch funktionale Vorteile ergeben, wenn neben den eigentlichen Delikten, die verhindert werden sollen, auch andere Delikte verhindert werden oder zurückgehen.


Literatur

Clarke, Ronald V. (1992) Deterring Obscene Phone Callers: The New Jersey Experience, in: Clarke, Ronald V. (Hrsg.), Situational Crime Prevention, Successful Case Studies, S. 124-132, Albany, N.Y..

Clarke, Ronald V. (1995) Situational Crime Prevention, in: Tonry, Michael/ Farrington, David P (Hrsg.), Building a Safer Society: Strategic Approaches to Crime Prevention Crime and Justice: A Review of Research, Vol. 19, S. 91-150, Chicago, IL.

Clarke, Ronald V. (1997) Situational Crime Prevention, Successful Case Studies, Second Edition, Albany, N.Y..

Riedel, Claudia (2003) Situationsbezogenen Kriminalprävention, Kriminalitätsreduzierung oder lediglich Deliktsverlagerung? Frankfurt am Main