Schnüffeln in Deutschland: Unterschied zwischen den Versionen

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''Rehwald, Rainer et al.'' (2007): Betriebliche Suchtprävention und Suchthilfe, Handbuch der IG Metall. BUND Verlag. Frankfurt am Main.
''Rehwald, Rainer et al.'' (2007): Betriebliche Suchtprävention und Suchthilfe, Handbuch der IG Metall. BUND Verlag. Frankfurt am Main.
[[Kategorie:Drogen und Rauschmittel]]

Aktuelle Version vom 29. April 2022, 22:21 Uhr

Schnüffeln in Deutschland - also das Inhalieren von sog. Schnüffelstoffen zur Erzielung einer halluzinogenen Wirkung - ist nicht nur, aber auch in Deutschland verbreitet und insofern eine Besonderheit unter den Drogenkonsumphänomenen, als die weit über eintausend Substanzen, die sich dazu eignen (und die eine psychische Abhängigkeit hervorrufen können), auch in Deutschland legal erhältlich sind.

Geschichte

Das Inhalieren von chemischen Dämpfen zur Rauscherzeugung war schon im Altertum bekannt. Narkosemittel wurden bereits in den 1920er Jahren als Rauschmittel missbraucht. Die erste Form des Missbrauchs von Schnüffelstoffen war die Chloroformsucht, die bereits im 18. Jhd. bekannt war. Seit den 1950er Jahren ist das Schnüffeln in Deutschland bekannt. Der Missbrauch von Schnüffelstoffen nahm Anfang der 1980er Jahre stark zu und wird seit dem vermehrt als Problem wahrgenommen.

Konsumenten

Der Missbrauch von Schnüffelstoffen entstand ursprünglich aus dem Kontext der Arbeit heraus. So schnüffelten Ärzte und Apotheker Chloroform, Handschuhwäscherinnen schnüffelten Benzin. Es hing davon ab, welches Lösungsmittel in einer Branche verfügbar war. Dieses wurde genutzt und der Geruch als angenehm empfunden. In den proletarischen Bevölkerungsschichten war das Schnüffeln am verbreitetsten. Heute hat sich der Zusammenhang von Arbeit und Sucht in Bezug auf Lösungsmittel aufgelöst und das Schnüffeln ist in allen Bevölkerungsschichten bekannt. Allerdings entstehen starke Abhängigkeiten meist in den ärmsten Bevölkerungsschichten. Oft handelt es sich hierbei um Kinder und Jugendliche, die dem sogenannten Broken-Home-Milieu entstammen.


Broken-Home-Milieu

In der Umgebung von Slum- und Obdachlosensiedlungen, Sanierungsgebieten, in Satelliten- bzw. Trabantensiedlungen der industriellen Städte und in ländlichen strukturschwachen Gebieten und Gemeinden leben überwiegend die ärmsten Bevölkerungsschichten, das sogenannte Broken-Home-Milieu. Dazu zählen vor allem unvollständige Familien mit einem geringen Einkommen und einem niedrigen sozialen Status, die außerdem mit Wohnungsnot, Kinderreichtum, Arbeitslosigkeit u.a. belastet sind. Kinder die schnüffeln, stammen oft aus Familien, in denen sie Alkoholismus, Gewalt, Kriminalität und Prostitution erfahren haben. Straßenkinder schließen sich zu Überlebensgemeinschaften zusammen in denen das Ritual des gemeinsamen Schnüffelns die verlorengegangenen familiären Bindungen zu ersetzen versucht.


Es wird außerdem differenziert zwischen:

Probierern und Experimentierern

Jugendliche in der Experimentierphase, die neben Alkohol und Nikotin auch das Schnüffeln ausprobieren.

Schnüffelgruppen

Entstehen oftmals in Heimen oder Schulen, betreiben regelmäßigen Missbrauch von Lösungsmitteln und das Schnüffeln ist ein Merkmal der Gruppe. Wer dazu gehören will muss mitschnüffeln.

und chronischen Einzelschnüfflern

Setzen den Missbrauch Jahre lang fort und verwenden meist keine anderen Drogen. Der Missbrauch wird bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt.

Produkte

Für den Schnüffler existiert kein spezifischer Markt für seine Suchtmittel. Die missbrauchten Industriemittel befinden sich in greifbarer Nähe, im Haushalt, in der Schule, oder am Arbeitsplatz. Lösungsmittel sind legal und preisgünstig zu erwerben. Außerdem sind sie unauffällig in Kontrollsituationen. Häufig werden Produkte mit folgenden Inhaltsstoffen verwendet: Aliphatische Kohlenwasserstoffe (z.B. n-Hexan), Cycloaliphatische Kohlenwasserstoffe (z.B. Cyclohexan), aromatische Kohlenwasserstoffe (z.B. Benzol), Chlorwasserstoffe (z.B. Chloroform), Alkohole (z.B. Methanol), Ketone (z.B. Aceton), Ester (z. B. Methylacetan) sowie Äther und Glykolether (z.B. Diethylether). Diese Lösungsmittel haben unter anderem die Aufgabe robuste Stoffe, wie Farben, Wachse, Öle, Leim, Gummi u.a. aufzulösen und verflüchtigen sich leicht, da viele schon bei Zimmertemperatur verdunsten. Dies vereinfacht das Inhalieren der Dämpfe.

Wirkungsweise der Stoffe

Das eingeatmete Lösungsmittel wird im Blut aufgelöst und zu den verschiedenen Organen transportiert. Es lagert sich vor allem im Fettgewebe und dem Gewebe des Nervensystems ab. Daher entstehen oft vorübergehende oder chronische Effekte im Nervensystem. Durch das Schnüffeln entsteht eine hohe Konzentration der Lösungsmittel in der Lunge.

Die Lösungsmittel haben eine schnell einsetzende, berauschende und einschläfernde Wirkung.

Beim Schnüffeln spielen sich verschiedene Phasen während der Inhalation ab. Je nach dem welcher Stoff verwendet wird, ändert sich dabei das Zeitverhältnis. Während der ersten Atemzüge können Reizerscheinungen in den oberen Atemwegen, Atemnot, Herzklopfen oder Blutdrucksteigerungen auftreten. In der nächsten Phase und bei weiterem Einatmen kann es zu Erregungszuständen, Stimmungsschwankungen oder Euphorie kommen. In späteren Stadien sind dann Verkennungen der Umwelt oder von Gegenständen sowie Veränderungen in der Farb- oder akustischen Wahrnehmung zu beobachten. Speziell in den ersten sechs Monaten des Missbrauchs können auch halluzinatorische Ereignisse auftreten.

Der Rausch hält anfangs meist nur wenige Minuten an, kann aber durch wiederholtes Einatmen bis zu mehreren Stunden andauern.

Vorgehen/Ablauf

Das Lösungsmittel wird meist in einen Plastikbeutel gegossen und wie aus einer Narkosemaske tief durch Mund und Nase eingeatmet. Manchmal werden Dämpfe auch direkt aus Dosen oder von Lappen eingeatmet. Klebstofftuben werden oft in Dosen ausgedrückt, um die Dämpfe besser einatmen zu können. Um die Dämpfe komplett auszunutzen, wird oft ein weiterer großer Plastikbeutel zusätzlich über den Kopf gestülpt. Noch weitaus gefährlicher ist es Sprays direkt in Nase oder Mund zu sprühen.

Gefahren

Eine Anekdote

Im Herbst 1975 wurde eine Welle von Vergiftungserscheinungen bei Schnüfflern bekannt, die von der Veränderung des häufig verwendeten Pattexverdünners herrührte. Dem Verdünner wurde ein Vergällungsmittel hinzugefügt, das vom Missbrauch dieses Lösungsmittels abschrecken sollte. In allen Vergiftungsfällen waren langfristige stationäre Behandlungen erforderlich. Dieses Ereignis gab den Ausschlag, die gesundheitlichen Folgen des Schnüffelns näher zu untersuchen.

Die Komplikationen hängen von den verwendeten Produkten und deren Zusammensetzung ab, diese wird allerdings oft auf der Verpackung nicht dargelegt, sodass der Schnüffler oft nicht weiß wie gefährlich der Stoff ist, den er gerade einatmet. Bei Vergiftungen stellt sich zudem die Analyse als schwierig heraus, welcher der enthaltenen chemischen Stoffe die Ursache war.

Folgen während oder unmittelbar nach dem Inhalieren der Lösungsmittel:

  • Selbstüberschätzung kann zu Stürzen aus großer Höhe führen. Wagemut zu Unfällen.
  • Die Lösungsmittel sind hochexplosiv, bereits der kleinste Funke kann eine Explosion auslösen, die schwerwiegende Verbrennungen oder schlimmere Folgen haben kann.


Nebenwirkungen:

  • Chronische Effekte im zentralen Nervensystem, Schwindelgefühl, Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit, Irritationen, Konzentrationsschwierigkeiten, Tiefschlaf, Koma sowie Erinnerungsverlust für die Intoxikationsperiode.
  • Ohnmacht, Herzstillstand oder epileptische Krampfanfälle können sowohl durch die Wirkung von Lösungsmittel als auch durch den bedingten Sauerstoffmangel im Gehirn entstehen.

Lösungsmittelvergiftung ist gekennzeichnet durch: Gang-, Stand- und Bewegungsstörungen, der Betroffene wirkt verwirrt, enthemmt, später apathisch oder schläfrig, der Geruch der Substanz ist aus der Atemluft zu wahrzunehmen. Auftreten von Hautirritationen im Bereich von Mund und/oder Nase, Reizerscheinungen im Rachenraum.

Weitere Folgen: Durch direktes Einatmen von Lösungsmittel (z.B. Sprays) kann ein Kehlkopfkrampf oder ein toxisches Lungenödem entstehen. Durch den über den Kopf gezogenen Plastikbeutel kann es zu Sauerstoffmangel oder zur Erstickung kommen. Atemstörungen können ebenso durch Erbrochenes oder durch Zungenverlagerungen entstehen.

Chronische Folgeerscheinungen (abhängig vom missbrauchten Produkt):

  • Schädigungen des Nervensystems, Lähmungserscheinungen, Gefühlsstörungen, Störungen im Bereich des Rückenmarks können zu spastischen Erscheinungen oder Blasen-Mastdarm-Störungen führen.
  • Kleinhirnerkrankungen, Sehnervstörungen, Nierenerkrankungen.
  • Bei schwangeren Frauen muss mit schweren Schädigungen der Gehirnentwicklung und der Ausreifung des Kindes gerechnet werden.

Bei einem langfristigen Missbrauch addieren sich die Folgeschäden und sind nicht mehr auf einzelne Stoffe zurückzuführen. Es entstehen toxische Multisystemschäden im zentralen und peripheren Nervensystem (im Großhirn, im Kleinhirn, im Hirnstamm, im Rückenmark und in peripheren Nervenbahnen). Daraus resultieren hirnorganische Wesensveränderungen, schwere Intelligenzdefekte, Gedächtnisstörungen, Affektstörungen, Störungen der Koordination, Sprachstörungen, Augenmuskelzittern, Augenbewegungsstörungen, psychotische Symptome sowie Lähmungserscheinungen. Im Gehirn ist ein massiver Gewebsuntergang festzustellen. Verwechslungen mit dem Krankheitsbild der Multiplen Sklerose sind denkbar. Es können auch Schizophrenie oder paranoide Psychosen entstehen.

Therapie

Beim Schnüffeln entsteht keine körperliche Abhängigkeit, sofern es nicht mit Alkohol oder anderen Drogen kombiniert wird. Allerdings ist die psychische Abhängigkeit sehr stark. Die Dosierung sowie die Dauer der Schnüffelzeiten werden schnell erhöht und selbst nach entstandenen Verletzungen wird das Schnüffeln oftmals fortgesetzt. Mit körperlichen Entzugserscheinungen ist während einer Therapie nicht zu rechnen, allerdings sind immer wieder Rückfälle möglich.

Schnüffeln ist oft ein Alarmsignal und deutet auf eine schwere soziale Entwicklungsstörung hin oder auf eine Störung innerhalb der Familie. Präventive Maßnahmen können schwerwiegende Folgen des Schnüffelns vermeiden. Ein Dialog zwischen Herstellern, Industrie, Behörden, Medizinern und Drogenfachleuten wäre sinnvoll. Über Verwendungen von bestimmten chemischen Substanzen oder Verkaufsbeschränkungen sollte diskutiert werden. Es ist allerdings nicht durchführbar, alle potenziellen Schnüffelstoffe vom Markt zu verbannen. Mit der Vergällung von Produkten wurden bereits schlechte Erfahrungen durch auftretende starke Vergiftungen gesammelt, diese präventiv Maßnahme erwies sich als ineffektiv.

Bei langfristigem Lösungsmittelmissbrauch ist eine Entzugstherapie notwendig, auch stationär in einem Krankenhaus. Der Schwerpunkt der Entzugstherapie sollte im sozialtherapeutischen Ansatz liegen.

Bereits entstandene Gesundheitsschäden sind jedoch meist irreparabel. Die Patienten werden oft zu sozialpsychiatrischen Problemfällen.

Weblinks

weitere Informationen:

Schnüffeln: Tödlicher Rausch aus der Dose http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,710566,00.html

Erfahrungen mit Schnüffelstoffen http://www.suchtzentrum.de/drugscouts/dsv3/stoff/erfahrber/erfschnueffelstoffe7.html

Quellen

Ahrens, Helmut; Altenkirch, Holger (1986): Schnüffelstoffe, Probleme und Risiken beim Missbrauch lösemittelhaltiger Industrieprodukte. Neuland-Verlagsgesellschaft mbH. Hamburg

Rehwald, Rainer et al. (2007): Betriebliche Suchtprävention und Suchthilfe, Handbuch der IG Metall. BUND Verlag. Frankfurt am Main.