Polizeiforschung

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Mit dem Wort "Polizeiforschung" ist in diesem Beitrag die empirische Untersuchung der Institution "Polizei" gemeint.

Geschichte

Die deutsche Polizeiforschung begann mit der Untersuchung von Feest und Blankenburg (1972), die das Alltagshandeln von Polizeibeamten mittels teilnehmender Beobachtung untersuchten und zu dem Ergebnis gelangten, daß sich außerhalb der formellen Eingriffsermächtigungen, welche die Strafprozeßordnung unter Berücksichtigung der Ermessensspielräume bietet, einiger Raum zur Definition der Situation für die Beamten selbst fand, welcher gesetzlich nicht abgedeckt war. Die Beamten hätten, so die Untersuchung, Selektionsmechanismen entwickelt um eine Situation vorzudefinieren, da sie trotz des Legalitätsprinzips nicht alle Straftaten mit gleicher Intensität bearbeiten könnten. Ob die Beamten strafverfolgend tätig werden oder nicht, hängt nach dieser Untersuchung neben der Definition vom gesamten Verhalten des Bürgers ab – unabhängig ob er Opfer, Täter, Zeuge oder Beschwerdeführer ist - und davon, welche „Beschwerdemacht“ demselben zugeordnet wird. Die Wahrscheinlichkeit des Einschreitens der Beamten sinkt mit der Zunahme der potentiellen Beschwerdemöglichkeit, welche die Beamten mit dem Bürger verbinden (vgl. Ohlemacher 1999, S.5).


empirische Erkenntnisse

Manfred Brusten, ein weiterer Pionier der Polizeiforschung, kommt 1972 aufgrund einer Befragung von Polizeibeamten zu dem Schluß, daß Unterschichtsangehörige in der Kriminalstatistik überrepräsentiert seien, da sie durch polizeiliche Selektionsmechanismen systematisch benachteiligt werden. Hierdurch würden bestehende Vorurteile über und zwischen den Schichten verfestigt und insbesondere stünde die Polizei im Verdacht die herrschende Klasse und deren Machtanspruch zu sichern. Hinzu kommt nach der Untersuchung, daß die befragten Beamten den Polizeiberuf von der Bevölkerung, insbesondere der Ober- und Unterschicht, hinsichtlich des sozialen Status als zu gering eingeschätzt sahen. Brusten kommt zu dem Schluß, daß sich verschärfte Sanktionen als Reaktion seitens der Beamten nur gegen die Unterschichtangehörigen finden, da die soziale Machtposition der Oberschichtangehörigen mit ihrem Instrumentarium an Interventionsmöglichkeiten, auch zum potentiellen Nachteil der agierenden Beamten, dieselben abschrecke. Brusten thematisiert in seiner Arbeit auch den Rollenkonflikt der Polizeibeamten, die zum einen helfend handeln sollen und zum anderen sanktionierend tätig werden müssen und zeigt Reaktionsmuster der Beamten auf (vgl. Ohlemacher 1999, S. 6 f.).
Die Untersuchungen kritsicher Sozialwissenschaftler wie Feest/ Blankenburg, Brusten, Lautmann u.a. wollten zur Demokratisierung der Polizei beitragen und dieselbe und ihr Handeln für eine interessierte Öffentlichkeit transparenter machen (vgl. Ohlemacher 1999, S.7). Diese Art der Forschung führte in der Wissenschaft, vor allem aber in der Polizei zu massiver Ablehnung. Weite Teile der Institution Polizei und ihrer Mitglieder fühlten sich zu Unrecht durch die Wissenschaftler angegriffen und lehnten die Analyseergebnisse ab. Diese Abwehrhaltung übertrug sich analog auf weitere Forschungsprojekte auf diesem Gebiet. Auf verbrannter Erde forscht es sich schwierig. So waren die Folgen hinsichtlich des Feldzuganges für Sozialwissenschaftler in der Polizeiforschung noch bis Mitte der neunziger Jahre merkbar (vgl. ebd. S.7).


Entwicklung von Mitte der siebziger Jahre bis Anfang der neunziger Jahre

Die Anfangsenergie der Forschung über die Polizei ebbte bereits Ende der siebziger Jahre ab. Sozialwissenschaftler beschäftigten sich nunmehr nur vereinzelt mit dem Forschungsbereich. Ein eigener Forschungsbereich Polizei hatte sich trotz positiver Anfänge nicht entwickelt. An die Stelle der Forschung über die Polizei traten Forschungen für die Polizei, von der Polizei selbst in Auftrag gegeben und zumeist in polizeiinternen Institutionen bzw. Einrichtungen umgesetzt. Das polizeiinterne Interesse an Forschung resultierte aus dem in diese Zeit fallenden politischen Wechsel hin zu einer sozialliberalen Regierung und dem vorherrschenden politischen Willen, die staatliche und gesellschaftliche Erneuerung unter Zuhilfenahme von Steuerungstechnologien und Planungselementen zu realisieren – und hier eben auch sozialwissenschaftliche Ansätze und Methoden. Ziel der Institution Polizei war es, das eigene Handeln effektiver zu gestalten und damit als Hauptziel die Kriminalitätsbekämpfung zu optimieren. So wurden im Bundeskriminalamt, an der Polizeiführungsakademie in Hiltrup und den Landeskriminalämtern in Hamburg und Bayern eigene Forschungsinstitute eingerichtet. In diese Zeit fallen auch strukturelle Veränderungen in der Polizei, wie bspw. die Einstellung von Frauen und Sozialwissenschaftlern. Da sich seit den achziger Jahren bis heute das Forschungsinstitut des BKA zur personal- und finanzstärksten Einrichtung auf dem Gebiet der empirischen Polizeiforschung entwickelt hat, überwiegt auf diesem Gebiet die Forschung für die Polizei von der Polizei und nicht über die Polizei. Neben diesem „Leuchtturm“ der Polizeiforschung befassten sich die Universität Hamburg im Rahmen ihres Postgraduiertenstudiums Kriminologie seit 1984, das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen und Arbeitsgruppen an den Universitäten Berlin, Wuppertal und Heidelberg mit dem Gegenstand Polizeiforschung. Freilich in vergleichsweise bescheidener Form. Obschon in der Forschung für die Polizei von der Polizei nicht explizit ein Nachteil gegenüber externer Forschung auszumachen ist, zeitigt doch der Fokus der internen Polizeiforschung auf die Effektivität der Kriminalitätsbekämpfung Defizite in der Forschung, da bestimmte Fragestellungen implizit vernachlässigt werden. Ohlemacher (ebd. S. 9 f.) bezieht sich auf Funk (Funk, Albrecht, 1990, Polizeiforschung in der BRD. Kriminologisches Journal, 2/1990: 109 f.), wonach folgende Themen im Fokus der polizeilichen Forschung standen:

  • "Quantiative Erfassung und Beurteilung von Kriminalität
  • Relation Polizei-Opfer
  • Analyse von Deliktbereichen, denen wachsende Bedeutung zugemessen wird
  • Analyse von Tat- und Tätermerkmalen
  • Empirische Untersuchungen kriminologischer Doktrinen und Handlungsstrategien"

Dies führt nach Funk (1990, 113) zu Erkenntnismängeln in den folgenden Bereichen:

  • "Analyse der Aufgabenstruktur und mögliche Alternativen
  • Die Polizei im Alltag
  • Die Polizei als Betrieb: Die Rolle der Polizeibeamten
  • Polizei und Bürger
  • Politische und gesellschaftliche Effekte polizeilicher Aufgabenwahrnehmung"

Nach wie vor steht die Polizeiforschung der Polizei unter dem Verdacht, sich allzusehr dem Duktus der Effektivierung der Kriminalitätsbekämpfung zu verschreiben. Festzuhalten ist allerdings auch, daß hierbei immer auch Erkenntnisse anderer Bereiche zu Tage gefördert und verwandt werden konnten und können. Das Feld des zu Erforschenden war und ist groß. Neben dem bereits Genannten ging es um Faktoren die das polizeiliche Ermittlungsverfahren beeinflussen, die Auswahlkriterien für die Bewältigung der im Dienst anfallenden Arbeit, wobei es hier im Gegensatz zu Feest/ Blankenburg, Brusten u.a. nicht um schichtspezifische Auswahlmechanismen ging, sondern um die Beurteilung, welcher Fall hinsichtlich weiterer Ermittlungen und eines erwartbaren Erfolges Priorität bei den Polizeibeamten hat und die Frage der jeweiligen Kategorisierung auf einer Skala von leichter bis mittlerer Kriminalität. Erforscht wurden auch spezielle Taten und Tätergruppen wie bspw. Organisierte Kriminalität mit allen Teilbereichen, Ausländer-, Jugend- und Drogenkriminalität. Aus methodischer Sicht überwogen bei den Forschungen insgesamt Sekundäranalysen amtlich gewonnener und erzeugter Daten/ Akten und Experteninterviews. Sehr selten wurden Beamte zu Forschungszwecken direkt befragt (vgl. Ohlemacher 1999, S. 10 ff.).


Entwicklung seit den neunziger Jahren

In den neunziger Jahren wurden verstärkt Forschungen durch polizeiexterne Geldgeber und Wissenschaftler durchgeführt. Zum Teil waren dies Projekte, welche bereits in den achtziger Jahren geplant und mittels Feldarbeiten in diesem Jahrzehnt durchgeführt werden konnten. Die bereits genannten polizeiinternen Forschungsinstituite öffneten sich zudem zunehmend einer kritischen Betrachtung der Organisation Polizei und richteten das analytische Interesse auch auf das Verhältnis zwischen Polizei und Öffentlichkeit. Das von den internen Polizeiforschern bisher favorisierte Feld der Kriminalitätsbekämpfung wurde von externen Forschern aufgegriffen und unter anderen Fragestellungen bearbeitet. Damit kommt es zu einem Wandel der Forschung für die Polizei dergestalt, daß nunmehr kritische Aspekte, auch das Binnenklima in der Institution betreffend, Eingang finden in Forschungsprojekte. Dies kann als Indiz einer Polizei im Wandel gesehn werden, die ihre Rolle überdenken, neu definieren, den gesellschaftlichen Bedingungen national und international anpassen muß. Bei Ohlemacher (1999, S. 14 ff.) findet sich eine Kurzübersicht empirischer Forschungen zur Polizei in der Bundesrepublik Deutschland mit einem repräsentativen Ausschnitt der Forschungsgegenstände der Polizeiforschung seit den achtziger Jahren mit Themen-, Methoden- und Erhebungseinheitenangabe dokumentiert. Gegenstand der Forschung war hiernach bspw.: Polizeiliche Ermittlungsarbeit, Polizeiliche Konfliktbewältigung-Trainingskurse, Gesundheit und Arbeitszufriedenheit, Fremdenfeindlicheit, Polizei als Organisation u.a. Resümierend kann gesagt werden, daß die Methoden der empirischen Polizeiforschung vielfältiger geworden sind. Festzustellen ist allerdings auch, daß sich die Polizeiforschung verglichen mit anderen kriminologischen Forschungsgebieten noch immer bescheiden ausnimmt. In Folge der Etablierung außerpolizeilicher Forschungseinrichtungen zu diesem Gebiet läßt sich allerdings heute bereits von einer Institutionalisierung der Polizeiforschung sprechen. So verstärkt gegenwärtig das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen seine Forschung in diesem Bereich. Bemängelt wird von Wissenschaftlern, daß es nach wie vor an einer übergreifenden Theorie mangelt und auch Finanz- und Personalressourcen für eine kontinuierliche Arbeit fehlen (vgl. ebd. S. 36 f.).

aktuelle Entwicklung

Sowohl in Wissenschaftskreisen als auch in der Polizei scheint sich heute Akzeptanz gegenüber der Entwicklung einer Polizeiforschung etabliert zu haben. Deutliches Indiziez hierfür ist die bereits genannte Vielfältigkeit heutiger Polizeiforschung und ihrer polizeiexternen und -internen Forschungseinrichtungen und Geldgeber. Beleg hierfür sind aber auch eine Vielzahl an Tagungen, Konferenzen und Workshops. Das Thema ist in der Polizei kein Reizwort mehr, einige Polizeiführungen haben den Nutzen derartiger Forschungen für die Institution Polizei erkannt. Die polizeiinternen Unterstützer agieren nicht am Rande, sondern bekleiden zentrale Positionen. So finden sich unter ihnen bspw. der Präsident der Polizei-Führungsakademie K. Neidhardt und J. Stock, Leiter des Kriminalistischen Instituts des BKA. Hinzu kommen Dozenten von Fachhochschulen der Polizei aus mehreren Bundesländern, so zum Beispiel B. Frevel (NRW), K. Liebl (Sachsen), H. Asmus (Sachsen-Anhalt), T. Ohlemacher (Niedersachsen) u.a., unter deren Regie die „Tagung zur empirischen Polizeiforschung“ entstanden ist, welche vom 08.VII. - 10.VII.2004 in Frankfurt/M. zum sechsten Mal stattfindet. Auf universitärer Ebene treiben vor allem Kriminologen, Soziologen und Politologen mit zahlreichen theoretischen Beiträgen und empirischen Arbeiten die Diskussion voran. In Summa waren die externen und internen Bemühungen um die Polizeiforschung nie zuvor so intensiv und von Erfolg (vgl. Feltes: Frischer Wind und Aufbruch zu neuen Ufern? Was gibt es Neues zum Thema Polizeiforschung und Polizeiwissenschaft? Quelle: Internet, 25.03.2004).
Thematisiert werden muß allerdings auch eine weiter vorhandene Tendenz der "Traditionalisten" innerhalb der Polizei und Teilen der Politik, eine Öffnung und angestrebte Transparenz der Polizei zu verhindern. Prominentestes Beispiel ist 2004 die Landespolizeischule Sachsen in Bautzen, deren inhaltliche und formale Selbständigkeit Anfang des Jahres im Rahmen einer Strukturreform aufgegeben wurde. Seither ist die polizeiliche Fortbildungseinrichtung nicht nur ohne Namen, sondern auch in ihren progressiven Entwicklungen ausgebremst worden. Die inhaltliche und organisatorische Hoheit liegt nun bei der Landesbereitschaftspolizei Sachsen – ein Rückschritt ohne Vergleich in der jüngsten Geschichte einer sich öffnenden Polizei. Die Absage aller Tagungen und Seminare der Einrichtung mit externen Bildungsträgern läßt den düsteren Schluß zu, daß die zehnjährigen Bemühungen der Sozialwissenschaftler an der Einrichtung in Bautzen einen herben Rückschlag erlitten haben und mit ihnen die Entwicklung der Polizeiforschung. In diesem Zusammenhang liegt die Zukunft der Polizeiforschung auch in der Verantwortung politischer Mandatsträger, die auf Bundes-und Landesebene den beschriebenen Entwicklungen abwartend bis skeptisch gegenüberstehen. Insgesamt gesehen besteht allerdings Grund zur Hoffnung für eine sich immer weiter nach vorn entwickelnde Polizeiforschung in Deutschland.

Literatur

  • Feltes, Thomas: Frischer Wind und Aufbruch zu neuen Ufern? Was gibt es Neues zum Thema Polizeiforschung und Polizeiwissenschaft? Quelle: Internet, 25.03.2004
  • Ohlemacher, Thomas (1999): Empirische Polizeiforschung in der Bundesrepublik Deutschland - Versuch einer Bestandsaufnahme - Hannover (KFN Vorschungsberichte Nr. 75)