Normgenese

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Die Normgenese beschreibt den Entstehungs- und Entwicklungsprozess von Normen. Der Begriff beschränkt sich dabei nicht auf eine bestimmte Definition von Norm. Er umfasst, angefangen bei einer der soziologischen Bedeutungen von Norm als Erwartungsäußerung, über die Entstehung erster gesellschaftlicher Gesetze, schließlich auch komplexe Gesetzgebungsverfahren. Normgenese ist ein Kompositum (Zusammensetzung) der zwei folgenden Wörter:

Norm (von lat. norma, Winkelmaß, Richtschnur, Regel, Norm, Übersetzung von griech. κανών, Maßstab) steht u. A. für eine Werteordnung innerhalb einer Gesellschaft, siehe soziale Norm.

-genese (von griechisch γένεσις, genesis ‚Geburt‘, ‚Ursprung‘ ‚ ‚Entstehung‘)

Visualisierter Prozeß der Normgenese.

1. Definition

1.1 Normen

Im Gegensatz zu einer eindeutigen Begriffsdefinition im Bereich der Naturwissenschaften wie etwa der technischen Norm (z.B. DIN-Norm) oder der mathematischen Norm (z.B. normierter Raum) wird der Begriff der Norm innerhalb der sozialwissenschaftlichen Literatur in sehr verschiedener und auch oft in unpräziser Weise verwendet (Karl-Dieter Opp, 1983, S. 1). So ist beispielsweise strittig inwieweit mit den Normen (als kontrafaktische Verhaltenserwartungen) verbundene Sanktionsdrohungen charakteristisch sind. Die Begriffsbedeutung ist oftmals kontextabhängig; eine einheitliche Definition besteht nicht. Zur Abgrenzung von Normen gegenüber Werten siehe unter Soziale Normen.

1.1.1 Soziale Normen als „soziale Tatsachen“

Der sozialwissenschaftlichen Annahme von sozialen Normen als soziale Tatsachen liegt die Vorstellung zugrunde, dass durch ein bestimmtes Verhalten einer Personenmehrheit eine Regel für alle Gruppenmitglieder geschaffen werden kann. Georg Jellinek bezeichnet diesen Zusammenhang als „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek, 1976, S. 338). Dieser Logik entspricht z.B. die Auffassung von David Émile Durkheim. Er wertete die Selbstmordrate verschiedener Bevölkerungsgruppen aus und leitete daraus eine „Selbstmord-Norm“ ab. „Was die Ziffern ausdrücken, ist ein bestimmter Zustand des gesellschaftlichen Geistes“ (Durkheim, 1965, S. 33). Nach Durkheim ist also z.B. das durchschnittliche Verhalten das Maß für den gesellschaftlichen Geist bzw. die soziale Norm (Klaus Eichner, 1981, S. 39). Peter Berger/Thomas Luckmann folgend finde Institutionalisierung statt, sobald habitualisierte Handlungen reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen werde, sei eine Institution. Für das Zustandekommen einer Institution seien nicht nur die Reziprozität der Typisierung entscheidend, sondern ebenso die Typik der Akte, wie auch der Akteure. (Berger/Luckmann, 1972, S. 59)

1.1.2 Normen als gesollte Verhaltensgleichförmigkeiten

Heinrich Popitz' Ansatz stellt auf das praktisch ablaufende Verhalten der Menschen in Gesellschaft ab. Alles Handeln, welches gleichförmig, regelmäßig abläuft und dabei nicht natürlich bedingt ist, bezeichnet er als sozial gesollt, resp. Norm. Gesollt sind Handlungen dann, wenn andere Handelnde auf Abweichungen mit Sanktionen reagieren. So unterscheidet Popitz sanktionable Normen vom unverbindlichen Mehrheitshandeln. Hierin ähnelt er im Übrigen Geiger.

1.1.3 Normen als Orientierungen

Talcot Parsons beschreibt Normen als "verbale Beschreibungen konkreter Handlungsabläufe, die wünschenswerte Modelle zukünftigen Handelns bieten" (Talcot Parsons, 1937, S. 75). Nach Parsons spielen Sanktionen als Komponente von Normen eine sehr untergeordnete Rolle. Nicht die unmittelbare Angst vor Sanktionen leitet konformes Verhalten, sondern die bereits in der Vergangenheit verinnerlichte Summe positiver, wie negativer Sanktionen, steuert das Handeln. Für Parsons sind Normen wesentlicher Bestandteil kultureller Systeme, die im Prozess der Orientierung von Akteuren aktualisiert werden.

1.1.4 Normen als reziproke Verhaltenserwartungen

Jürgen Habermas' Auffassung von Normen ähnelt der Parsons. Habermas geht davon aus, daß -via kommunikativen Handelns- zunächst Verständigung über Absichten unter den Akteuren erfolgt. Nach, verbalem wie nonverbalem Austausch, werden diese Positionen in Erwartungen festgehalten. So entstehen gegenseitige Erwartungshaltungen an künftiges Verhalten. Diese für alle am Handlungszusammenhang beteiligten "reziproken Verhaltenserwartungen" nennt er Normen.

1.1.5 Soziale Normen als antizipierte Erwartungshaltung

Eine in der Soziologie gängige Definition von sozialer Norm liefert Opp: „Unter einer „Norm“ wird eine von Individuen geäußerte Erwartung der Art verstanden, daß etwas der Fall sein soll oder muß oder nicht der Fall sein soll oder muß. Normen sind also Standards, Regeln oder Vorschriften“ (Opp, 1983, S. 4). Nach Opp können sich diese auf Verhalten, Motive oder Kognitionen beziehen. Normen müssen dabei nicht zwingend verbal oder schriftlich geäußert werden, weshalb Verhalten oft auch eine Reaktion auf „unterstellte“ Erwartungen darstellt (vgl. Paul Watzlawick, Die Geschichte mit dem Hammer). Nach Opp besitzt, die sogenannte Werterwartungstheorie bzw. die ökonomische Nutzentheorie, größte empirische Evidenz. Im Weiteren soll diese, auf ökonomischen Annahmen fußende, Bedeutung des Begriffes „Norm“ als Grundlage angenommen werden.

1.2 Normgenese

Hier sollen zunächst kurz und definitorisch Bedingungen dargestellt werden, unter denen Normen entstehen können.

1.2.1 Irle nimmt an, dass mit zunehmendem gegenseitigen Misstrauen in einer sozialen Beziehung die Menge der Komplexität von Normen steigen dürfte (Irle, 1976, S. 445)

1.2.2 Normen entstehen als ein Produkt der ständigen Interaktion, des Zusammenspielens zwischen Interessen, sich verändernden Situationen, Macht, Dominanz, Gewalt, Ignoranz, Wissen, etc. (Blake und Davis, 1964, S. 461)

1.2.3 Ein hohes Konfliktpotential, innerhalb einer Gruppe, führt eher zu Normen als ein niedriges, so Bonacich (1972, S. 357)

1.2.4 „Wenn in einem Kollektiv mit der Setzung bestimmter Normen (…) ein höherer Nettonutzen verbunden ist, als mit alternativen Handlungen, dann entstehen Normen (…)“ (Opp, 1978, S. 13)

1.2.5 „Norms are learned by individuals in social intercourse with others – that is, in the process of socialization.“ (Williams, 1968, S. 205)

2. Grundannahmen von Normenentstehung

Als die vielleicht allgemeinste Funktion gesellschaftlicher Gemeinschaft, bezeichnete Parsons das Hervorbringen eines einheitlichen und kohärenten Normensystems. Zwar schafft dieses Abhängigkeiten und Hierarchien, doch bietet es andererseits auch Schutz und liefert dem "Mängelwesen Mensch" (vgl. Arnold Gehlen) eine Lebenssicherung und (transparente) Perspektive. Normgenese findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Hans Haferkamp spricht in diesem Zusammenhang von der Institutionalisierung von Handlungserwartungen und unterscheidet die a) Zweier-Gesellschaft (z.B. Partnerschaft), die b) Kleingruppengesellschaft (bis zu einer Größe, die keine Face-to-face-Beziehungen mehr zulässt), sowie die c) Mehrgruppengesellschaft (z.B. Bevölkerung). Allen gemein seien die zur Aushandlung institutionalisierter Handlungserwartungen notwendigen Unterkategorien: 1) Produktion 2) Definition 3) Integration 4) Identifikation. Während bei Zweier-Gesellschaften idealerweise alle Beteiligten gleichermaßen am kommunikativen Prozess der Normformulierung (1-4) partizipieren, reduziert sich deren Einfluss bei Gruppen der Kategorien b) und c) (vgl. Lamnek, 2008, S. 73). Eine andere Annäherung stellt der spieltheoretische Ansatz dar. Dieser sieht in jeder Form von kooperativem Verhalten zur Lösung einer Mängellage, ein Äquivalent zu Normen. Der zum Zweck des Überholens anderer zur Seite tretende Passant, auf einer überfüllten Rolltreppe, würde so zum Normsender einer schlichten Norm á la: „Links geh‘, rechts steh!“. Normgenese ist stets auch ein Begleiter von Machtbildung. Popitz spricht von der dauerhaften Besetzung von Verfügungsgewalten. In diesem Prozess dient die Normgenese der normativen Absicherung von Positionsvorteilen. Wenngleich unter Soziologen, wie Sozialpsychologen, oftmals deutliche Kritik an der Eignung des "utilitaristischen Ansatzes" geäußert wird, geht doch eine Vielzahl dieser Sozialwissenschaftler von einer Abhängigkeit zwischen der Entstehung von Normen einerseits und den damit verbundenen Kosten und Nutzen andererseits aus. Nach Victor Kraft ergeben sich die Normen (der Moral) daraus, dass alle Menschen das Ziel haben, ihre Begehren zu befriedigen. Nachdem dies aber, so Kraft, nicht möglich sei, ohne dass die Menschen sich gegenseitig behindern bzw. ohne dass es zum Kampf kommt, muss die Befriedigung der individuellen Begehren insoweit eingeschränkt werden, als dass alle wenigstens ihre lebenswichtigen Begehren befriedigen können. Genau diese Funktionen erfüllen die Normen (der Moral) (Kraft, 1973, S. 72). Unter Soziologen existiert also ein gewisser Konsens bezüglich der Brauchbarkeit der wirtschaftwissenschaftlichen „Theorie der Verfügungsrechte“ zur Erklärung von Normenentstehung. (vgl.Opp, 1983)

2.1 Die Nutzentheorie

In der Ökonomie werden die Ursachen menschlichen Handelns in zwei Gruppen unterteilt. Die Präferenzen beinhalten Bedürfnisse und Wünsche oder auch den Nutzen, den ein Individuum beliebigen Sachverhalten beimisst. Das können bevorzugte Lebensmittel, angestrebte Lebensumstände oder Vermeidung störender Umwelteinflüsse sein. Der Nutzen kann also positiv oder negativ sein. Diese Präferenzen variieren unter den Mitgliedern einer Gesellschaft. Die Restriktionen stellen gewissermaßen die individuellen Beschränkungen zur Realisierung der Präferenzen dar. Limitierende Faktoren können z.B. begrenztes Einkommen, eingeschränkte Fertigkeiten, ablehnende Reaktionen anderer oder mangelnder Besitz des Individuums darstellen. Gemäß der Nutzentheorie bestimmen Präferenzen und Restriktionen das Handeln von Individuen dergestalt, dass jeweils die Handlungsalternative gewählt wird, von der der größte Nutzen erwartet wird und zugleich die geringsten negativen Handlungskonsequenzen (z.B. Haft bei geplantem Diebstahl) ausgehen. Der sogenannte „Nettonutzen“ einer Handlung lässt sich folgendermaßen darstellen:

Formel der Nutzentheorie.


NN = Nettonutzen

Hi = Eine bestimmte Handlung

Nj = Nutzen einer Handlungskonsequenz j

Wij = Subjektive Wahrscheinlichkeit einer Handlungskonsequenz j einer Handlung i


Obwohl vorgenannte Formel es suggerieren mag, meint das ökonomische Verhaltensmodell keineswegs, dass Individuen derart binär kalkulieren. Selbstverständlich stehen dem Individuum dafür nie alle entscheidungsrelevanten Informationen zur Verfügung und mithin sind Handlungskonsequenz und deren Eintrittswahrscheinlichkeit stets subjektiv perzipiert.

2.2 Entstehung von Normen durch die Existenz externer Effekte

Individuelle Handlungspräferenzen und -entscheidungen können in Konflikt zu Handlungspräferenzen anderer Gruppenmitglieder stehen. Eine solche störende Außenwirkung einer Handlungentscheidung bezeichnet Opp auch als externen Effekt. Allerdings können externe Effekte auch positiver Natur sein, also dann, wenn sie für andere Gruppenmitglieder von Nutzen sind (vgl. positive Externalität). Kommt es zu derartigen gegenseitigen Beeinträchtigungen bei der Zielerreichung und Bedürfnisbefriedigung (z.B. zwei Menschen möchten denselben Apfel ernten und verzehren) dann bedarf es einer Regulation. Die Wahrscheinlichkeit des Entstehens von Normen ist dann stets sehr hoch. Negative Externalitäten werden dabei internalisiert. Es bleibt jedoch auch (um im Bespiel zu bleiben) die (möglicherweise gewalttätige) Aneignung des Apfels und dessen exklusiver Verzehr durch ein Individuum. Negative Externalitäten sind somit eliminiert. Dies schlösse eine Normbildung i.e.S. aus.

2.2.1 Prominentes Beispiel: die „Labrador Indianer“

Zeichnung eines Labrador Indianers. Aus Brockhaus' Konversations-Lexikon, 14. Auflage.

Harold Demsetz (1967, S. 34-37) beschreibt in seinem Aufsatz die Entwicklung von privaten Eigentumsrechten auf der von den Labrador Indianern bewohnten/verwalteten Insel. Das verhältnismäßig frühe Entstehen dieser Eigentumsrechte, bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts, begründet Demsetz mit dem Aufkommen des zeitgleich einsetzenden Pelzhandels. Zuvor war das Jagen von Wild jedem uneingeschränkt erlaubt. Besitz an Wild konnte sich ausschließlich auf die schließlich erlegte Jagdbeute beziehen, nicht jedoch auf das freilebende Tier. Mithin fühlte sich kein Jäger für den Erhalt des Wildbestandes verantwortlich, niemand investierte in konservierende Maßnahmen. Mit jedem erlegten Tier wuchs der Jagdaufwand für die Jäger. Das Jagdverhalten eines Jägers A zog also negative externe Effekte für die anderen Jäger nach sich. Diese für die anderen entstehenden Kosten nennt man daher externe Kosten. Da es zu keinem Kostenausgleich in dem Sinne kommt, dass Jäger A den Jäger B für dessen künftigen Mehraufwand entschädigt, mehr noch Jäger A dies in seinem Jagdverhalten keineswegs berücksichtigt / kalkuliert, werden die externen Kosten von Jäger A nicht internalisiert. Bei einem ausreichend großen Wildbestand und einem Jagdverhalten, welches nur der individuellen Bedürfnisbefriedigung dient, sind die externen Kosten derart gering, dass die Einführung eines Verteilungsschlüssels, bzw. Vorkehrungen zur Internalisierung dieser Kosten (letztlich einer Norm), vermutlich mit einem Mehr an Kosten verbunden wären. Im Ergebnis entstand also zunächst keine Norm, die die Güterverteilung reglementierte. Durch den aufkommenden Pelzhandel stieg die Jagdaktivität der Indianer über deren individuelles Maß hinaus. Pelze waren gegen andere Güter einzutauschen und gewannen an Wert. Das übermäßige Jagdverhalten dezimierte den Wildbestand und es entstanden hohe externe Kosten, die aus a) den erschwerten Jagdbedingungen und b) dem gestiegenen Wert des Pelzes resultierten. Diese Bedingungen schufen die Voraussetzungen zur Entstehung von Eigentumsrechten. Das Jagdgebiet wurde in Abschnitte unterteilt, die jeweils von einer bestimmten Gruppe exklusiv bejagt wurden. Diese Territorien waren ferner farblich gekennzeichnet. Die Durchsetzung der neuen Eigentumsrechte war mit wenig Aufwand / Kosten verbunden, sodass keine Zäune errichtet, oder Wächter installiert werden mussten, die ihrerseits mit Transaktionskosten verbunden gewesen wären. Das Setzen der Eigentumsrechte half also die gestiegenen externen Kosten in den einzelnen Gruppen zu internalisieren / nach außen zu eliminieren.

2.2.2 Die Internalisierungsthese

Aufbauend auf der von Demsetz (1967, S. 34) formulierten These: „Property rights develop to internalize externalities when the gains of internalization become larger than the cost of internalization.“ schreibt Opp (1983, S. 84):

„Wenn externe Effekte bestehen oder erwartet werden, und wenn der erwartete Nutzen der Internalisierung oder Eliminierung dieser Effekte durch die Setzung bestimmter Normen größer ist als die mit der Internalisierung oder Eliminierung verbundenen erwarteten Kosten, dann, und nur dann entstehen die betreffenden Normen.“

„Die Internalisierungsthese lässt offen, ob Normen durch Vereinbarung entstehen, ob Normen durch eine Instanz gesetzt werden, oder ob sie sich evolutionär entwickeln.“ (Opp, 1983, S. 107)

2.3 Einfluss der Kirche resp. Religion

Mit Moses' Empfang der beschriebenen Gesetzestafeln, auf dem Berg Sinai, hat der biblische Glaube seine ganz eigene Form der Normgenese. Die Zehn Gebote stellen im Judentum und Christentum das Zentrum und den Inbegriff der Tora (Weisung) für das Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen dar. Davon unabhängig war/ist der normative Einfluss der Institution Kirche von stets beträchtlichem Ausmaß. Über lange Zeit regelte, in zahlreichen Kulturen, überwiegend die Kirche das gesellschaftliche Leben. Siehe hierzu auch die Bedeutung der Schari'a (شريعة) im Islam.

3. Bedeutung von Normgenese für die Kritische Kriminologie

Die Normgenese ist aus Sicht der Kritischen Kriminologie von zentraler Bedeutung. Mit ihrer Hilfe lassen sich Fragen nach den Prozessen, Wirkungsweisen und beteiligten Akteuren (Benefiziare / Malefiziare) der Gesetzgebung beantworten. Infolge normativer und kultureller Differenzierung moderner Gesellschaften, sowie des rapiden Wandels von Rechtsnormen, lehnt die „neue Kriminologie“ die Annahme eines gesellschaftsübergreifenden Konsenses (vgl. Konsensmodell) ab und führt partikulare Interessen als Begründung eines Konfliktmodells an. Dazu schreiben Henner Hess und Sebastian Scheerer: „In akephalen Gesellschaften, die die längste Zeit der Menschheitsgeschichte bestimmten, gab es keine zentrale Instanz, die mit zwingender Autorität sagen konnte, was richtig und was falsch sei. [...] Erst an dem Punkt der sozialen Evolution, wo Konflikte um Güter und Positionen nicht mehr im Interesse aller geregelt wurden, sondern wo es einigen Gesellschaftsmitgliedern gelang, die bisherigen Kontrollen zu durchbrechen und sich privilegierte Positionen zu verschaffen, wo Herrschaft politisch als institutionalisierte Macht und ökonomisch als Herrengewalt an den entscheidenden Wirtschaftsmitteln entstand, kam es zu jener drastischen Änderung von Konflikten und Konfliktregelungen, aus der sich die Phänomene Recht (als durch Erzwingungsstäbe garantierte Normen), Verbrechen (als Verstöße gegen solche Rechtsnormen) und Kriminalstrafen (als Sanktionierungen von Verbrechen) entwickelten.“ (Hess; Scheerer, 2003, S. 69-92) Normen entfalten eine regulative Wirkung, die verschiedene Gesellschaftsmitglieder möglicherweise unterschiedlich stark tangiert. Sinngemäß folgend dem Bonmot: „Die großartige Gleichheit vor dem Gesetz verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen“ (Anatole France, „Le lys rouge“, 1894). Die Kritische Kriminologie interessiert daher die Frage nach den geistigen Vätern heutiger Normen und deren gesellschaftlicher Verortung. Welche Auswirkungen mögen von der Tatsache der - jeher durch Oberschichtsangehörige geprägten - Gesetzgebungsorgane ausgehen? Was bedeutet dies für den Fokus dieser Normen? Kann es zur Bildung eines „blinden Fleckes“ kommen? Opp formuliert: „In modernen Industriegesellschaften werden viele Normen und Maßnahmen zu deren Durchsetzung von Institutionen oder Personen gesetzt, die zur Regulierung bestimmter Verhaltensweisen legitimiert sind. Solche Institutionen können Parlamente oder Behörden sein, aber auch Vorstände von Unternehmen, Freizeitclubs oder Abteilungen einer Organisation. [...] Charakteristisch für diese Art der Normentstehung ist, dass die Normen nicht nur (oder überhaupt nicht) die Normsender, sondern andere Gruppen binden sollen“ (Opp, 1983, S. 205). Normen, insbesondere in ihrer Gestalt als Strafgesetze haben eine herrschaftssichernde, auf Machterhalt ausgerichtete Komponente. Die Kritische Kriminologie betrachtet hier die Mechanismen derer sich der Gesetzgeber (z.B. durch „symbolische Politik“) bedient, um Massenloyalität qua Strafgesetz zu gewährleisten.

3.1 Normgenese aus Sicht des Labeling Approaches

In den 1970’er Jahren brachte die Kritische Kriminologie, namentlich an dieser Stelle zu erwähnen, Fritz Sack, einen Paradigmenwechsel, der die bisherigen Grundannahmen ätiologischer Theorien in Frage stellte. Waren es zuvor positivistische Annahmen über eine biologisch, psychologisch, oder soziologisch begründete Determiniertheit menschlichen Verhaltens, welche den kriminologischen Diskurs beherrschten, so erkannte die Kritische Kriminologie den Akteuren „Rationalität“, „Authentizität“, „Kompetenz und Verantwortlichkeit“ (Sack, 1993, S. 335) zu. Ausgestattet mit dem Rüstzeug des Labeling Approaches machte sich die Kritische Kriminologie daran die undifferenzierte Akzeptanz gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen, sowie die daraus resultierende Marginalisierung devianten Verhaltens, zu hinterfragen. Normen büßen, im Lichte dieser Betrachtung, ihren vorsozialen Pathos ein und werden schließlich zu variablen Produkten gesellschaftlichen Interessenhandelns. Durch den Prozess der Normgenese werden bestimmte Verhaltensweisen als abweichend bezeichnet. Dieser Zuschreibungsprozess verläuft individuell und kontextabhängig, je nach der ihn beherbergenden Gesellschaft. So richtet der Labeling Approach den Blick vom (devianten) Individuum auf gesamtgesellschaftliche Definitions- und Aushandlungsprozesse. Verkürzt könnte man, in gewollter Anlehnung an den §1 StGB also auch sagen: „Keine Straftat ohne Gesetz“. Carolin Reese schreibt zur Bedeutung der Normgenese folgendes: „Insbesondere die Normgenese geriet verstärkt in den Blick der Kriminologen; damit einher ging ein völlig anderes Verständnis der Definition von Kriminalität. Die letztlich als kriminell eingestufte Handlung sei nur ein Teil des schwierigen Prozesses der Kriminalisierung, fraction sei sie statt action“ (Reese, 2004, S. 110). Karl Marx prägte das Zitat „Der Charakter der Dinge ist ein Produkt des Verstandes.“ in seinen Debatten über das Holzdiebstahlgesetz. In der Diskussion ging es um die Abgrenzung vom a) Holzfrevel zum b) Holzdiebstahl. Ein und dieselbe Handlung (das „Sammeln“ von Holz, im Wald) stellen also a) eine legale Handlung bzw. b) eine Straftat dar. Ein Holzsammler wird nunmehr als „Krimineller“ stigmatisiert. Bei der normativen Formulierung eines entsprechenden Gesetzes (durch Anwendung von „Verstand“) kommt es zudem zwangsläufig zu einer Reduktion des Lebenssachverhaltes. Der „Charakter“ des Holzsammelns wandelt sich in eine Delinquenz ohne eigenes Dazutun, sondern indem es zu einer gesellschaftlichen Zuschreibung dieses Verhaltens (askriptiv) als Devianz kommt. Sack spricht davon, dass es kein „kriminelles“ Verhalten als solches gibt (Sack, 1968, S. 465). Kriminalität wird erst im Prozess einer „Etikettierung“ durch die Gesellschaft produziert. Diese verurteilt das Handeln nicht, weil es „kriminell“ ist, sondern dies wird es erst durch die gesellschaftliche Zuschreibung. Vgl. dazu auch Durkheim, der ähnlichen Sachverhalt bereits 1893 umschrieb: "Man darf nicht sagen, daß eine Tat das gemeinsame Bewußtsein verletzt, weil sie kriminell ist, sondern sie ist kriminell, weil sie das gemeinsame Bewußtsein verletzt. Wir verurteilen sie nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen."

4. Beispiele aus der deutschen Gesetzgebung

Normgenese beschreibt, neben der Entstehung, auch den Prozess der weiteren Entwicklung von Normen und Gesetzen. Die Gesellschaft steht in permanenter, gegenseitiger Beeinflussung zu den -sie ordnenden- Gesetzen. Diese haben häufig einen wertevermittelnden Charakter. Werner Lehne nennt dies „Verhaltenssteuerung über Moralproduktion“ (Werner Lehne, 1994, "Symbolische Politik mit dem Strafrecht", in: Kriminologisches Journal 26, S. 210-224). Kommt es zu einem gesamtgesellschaftlichen Wertewandel, so führt dies auch zu Anpassungen auf Seiten des Gesetzes. Anschaulich wird dieser Prozess an den folgenden Beispielen.

4.1 § 175 StGB

Die Geschichte des § 175 des deutschen StGB beginnt im Jahre 1871. Seinerzeit wurden explizite homosexuelle Handlungen und Sodomie unter diese Strafnorm subsumiert. In seiner Fassung vom 01.09.1935 erfuhr der Paragraph durch die Nationalsozialisten eine Verschärfung, welche nunmehr alle denkbaren homosexuellen Handlungen unter Strafe stellte. Es folgten weitere Anpassungen in den Jahren 1941 und 1949 (in der BRD: Übernahme des bereits 1935 formulierten Gesetzes). Im Jahre 1969 fiel das „Totalverbot“ von Homosexualität mit der Einführung von Schutzaltern für Jungen (21 Jahre) und Mädchen (14 Jahre). Dieses Schutzalter wurde, im Jahre 1973, für Jungen auf 18 Jahre herabgesetzt. Erst am 10.06.1994 wurde das Gesetz (auf dem Gebiet der alten Bundesländer) gestrichen. Als das zur Legitimation der Strafnorm angeführte Schutzgut wurde stets die „Volksgesundheit“, bzw. ab 1973 die „ungestörte sexuelle Entwicklung des männlichen Jugendlichen“ herangezogen. Neben dieser legitimatorischen Begründung bestand (historisch betrachtet) stets auch die Absicht der Sicherstellung eines Nachwuchses zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit des Landes (vgl. Henner Hess / Johannes Stehr, 1987, S. 42) (Siehe auch unter "Peuplierung".). Doch bereits die seit 1970 sinkenden Verurteilungszahlen bildeten den Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen trefflich ab. Schließlich reagierte der Gesetzgeber mit Streichung des Gesetzes. So veranschaulicht der § 175 StGB, wie zwischenzeitlich inkriminiertes Verhalten schließlich wieder zu legalem Handeln metamorphosiert und wie gesellschaftliche Prozesse - wie Säkularisierung, Aufklärung und Toleranz - dies ermöglichen.

4.2 Weitere Beispiele

§ 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB regelte, bis zu seinem Wegfall am 01.07.1975, die Entwendung oder Unterschlagung von Nahrungs- oder Genussmitteln oder von anderen Gegenständen des hauswirtschaftlichen Gebrauchs in geringer Menge oder von unbedeutendem Wert zum alsbaldigen Verbrauch. Was zu Zeiten großer Armut oder Lebensmittelknappheit (z.B. Krieg) den Diebstahl geringwertiger Sachen (so die heutige juristische Definition) privilegierte, wird nunmehr nur auf Antrag verfolgt. Interessant hier auch die vermutlich alttestamentarische Quelle: „Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehest, so magst du Trauben essen nach deinem Willen, bis du satt bist, aber Du sollst nichts in Dein Gefäß tun“ (5 Mos. 23, 2). So stellt der Wegfall dieser Norm möglicherweise a) eine zugenommene Säkularisierung, andererseits b) eine bessere Grundversorgung der Gesellschaft mit Lebensmitteln dar. Abschließend ein Beispiel außerhalb der Strafrechtsnormen, auf die sich Normgenese schließlich nicht exklusiv beziehen. Unter deutschen Juristen gemeinhin bekannt lautet ein Merksatz: "Der Heil’ge Geist schaut sehr verwundert, Maria klagt aus Dreizehnhundert." Gemeint ist der am 04.05.1998 ersatzlos gestrichene § 1300 BGB. Das dort verbriefte Kranzgeld bezeichnete eine finanzielle Entschädigung, die eine Frau von ihrem ehemaligen Verlobten fordern konnte, wenn sie ihm auf Grund eines Eheversprechens die Beiwohnung gestattet hatte, also die Jungfräulichkeit verlor und er anschließend das Verlöbnis löste. Diese Form des Schadenersatzes, der nicht auf einen Vermögensschaden zurückgeht, war der "Entehrung" der Jungfrau geschuldet und ist allenfalls mit dem noch heute gültigen Schmerzensgeld vergleichbar. Kompensiert werden sollte die geringere Chance auf die standesgemäße Heirat mit einem anderen Mann. Bereits fünf Jahre vor seiner Abschaffung, im Jahre 1993, lehnte ein Gericht eine Klage auf Kranzgeld mit dem Hinweis auf gewandelte Moralvorstellungen und den damit verbundenen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 GG) ab (AG Münster, NJW 1993, 1720).

Literatur / Quellen

  • Karl-Dieter Opp: Die Entstehung sozialer Normen, 1983, ISBN 3169446703
  • Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1976, ISBN 9780710628824
  • Carolin Reese: Großverbrechen und kriminologische Konzepte – Versuch einer theoretischen Integration, Kölner Schriften zur Kriminologie und Kriminalpolitik, Band 7, ISBN 3825878929
  • Michael Schabdach: Soziale Konstruktion des Drogenkonsums und soziale Arbeit, 1. Aufl. 2009, ISBN 9783531167527
  • Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, ISBN
  • Siegfried Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens II "Moderne Ansätze", 3. Aufl. 2008, ISBN 9783825217747
  • Michael Hechter/Karl-Dieter Opp: Social Norms, 2008, ISBN 0871543559
  • Heinrich Popitz: Soziale Normen, 2006, ISBN 9783518293942
  • Heinrich Popitz: Prozesse der Machtbildung, 2. Aufl. 1969, ISBN 3165380716
  • Klaus Eichner: Die Entstehung sozialer Normen, 1981, ISBN 3531115634
  • Henner Hess/Sebastian Scheerer: Theorie der Kriminalität, In: Oberwitter, Karstedt (Hg): Soziologie der Kriminalität, Sonderheft 43 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden 2003, S. 69-92
  • Hans Haferkamp: Herrschaft und Strafrecht, 1980, ISBN 3531115081
  • Helge Peters: Devianz und soziale Kontrolle, 3. Aufl. 2009, ISBN 9783779914860
  • Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung, 2006, ISBN 3531334514

Siehe auch

  • Henner Hess / Johannes Stehr (1987): Die ursprüngliche Erfindung des Verbrechens, in: Kriminologisches Journal 19, 2. Beiheft, S. 33-56

Weblinks

Zugriff auf die aufgeführten Seiten am 28. Feb. 2010, soweit nichts anderes vermerkt.