Normgenese: Unterschied zwischen den Versionen

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=== 1.1.5 Soziale Normen als antizipierte Erwartungshaltung ===
=== 1.1.5 Soziale Normen als antizipierte Erwartungshaltung ===


Eine in der Soziologie gängige Definition von sozialer Norm liefert Opp: „Unter einer „Norm“ wird eine von Individuen geäußerte Erwartung der Art verstanden, daß etwas der Fall sein soll oder muß oder nicht der Fall sein soll oder muß. Normen sind also Standards, Regeln oder Vorschriften“ (Opp, 1983, S. 4). Nach Opp können sich diese auf Verhalten, Motive oder Kognitionen beziehen. Normen müssen dabei nicht zwingend verbal oder schriftlich geäußert werden, weshalb Verhalten oft auch eine Reaktion auf „unterstellte“ Erwartungen darstellt (vgl. Paul Watzlawick, ''[http://www.dr-mueck.de/HM_Denkhilfen/HM_Therapeutische_Geschichten/HM_Hammergeschichte_Watzlawick Die Geschichte vom Hammer]'').  
Eine in der Soziologie gängige Definition von sozialer Norm liefert Opp: „Unter einer „Norm“ wird eine von Individuen geäußerte Erwartung der Art verstanden, daß etwas der Fall sein soll oder muß oder nicht der Fall sein soll oder muß. Normen sind also Standards, Regeln oder Vorschriften“ (Opp, 1983, S. 4). Nach Opp können sich diese auf Verhalten, Motive oder Kognitionen beziehen. Normen müssen dabei nicht zwingend verbal oder schriftlich geäußert werden, weshalb Verhalten oft auch eine Reaktion auf „unterstellte“ Erwartungen darstellt (vgl. Paul Watzlawick, ''[http://www.dr-mueck.de/HM_Denkhilfen/HM_Therapeutische_Geschichten/HM_Hammergeschichte_Watzlawick Die Geschichte mit dem Hammer]'').  
Nach Opp besitzt, die sogenannte Werterwartungstheorie bzw. die ökonomische [http://de.wikipedia.org/wiki/Nutzen_%28Wirtschaft%29 Nutzentheorie], größte empirische Evidenz.
Nach Opp besitzt, die sogenannte Werterwartungstheorie bzw. die ökonomische [http://de.wikipedia.org/wiki/Nutzen_%28Wirtschaft%29 Nutzentheorie], größte empirische Evidenz.
Im Weiteren soll diese, auf ökonomischen Annahmen fußende, Bedeutung des Begriffes „Norm“ als Grundlage angenommen werden.
Im Weiteren soll diese, auf ökonomischen Annahmen fußende, Bedeutung des Begriffes „Norm“ als Grundlage angenommen werden.
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=== 3.1 Normgenese aus Sicht des Labeling Approaches ===
=== 3.1 Normgenese aus Sicht des Labeling Approaches ===


In den 1970’er Jahren brachte die Kritische Kriminologie, namentlich an dieser Stelle zu erwähnen, [http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Sack Fritz Sack], einen Paradigmenwechsel, der die bisherigen Grundannahmen ätiologischer Theorien in Frage stellte. Waren es zuvor positivistische Annahmen über eine biologisch, psychologisch, oder soziologisch begründete Determiniertheit menschlichen Verhaltens, welche den kriminologischen Diskurs beherrschten, so erkannte die Kritische Kriminologie den Akteuren „Rationalität“, „Authentizität“, „Kompetenz und Verantwortlichkeit“ (Sack, 1993, S. 335) zu.
In den 1970’er Jahren brachte die [[Kritische Kriminologie]], namentlich an dieser Stelle zu erwähnen, [http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Sack Fritz Sack], einen Paradigmenwechsel, der die bisherigen Grundannahmen ätiologischer Theorien in Frage stellte. Waren es zuvor positivistische Annahmen über eine biologisch, psychologisch, oder soziologisch begründete Determiniertheit menschlichen Verhaltens, welche den kriminologischen Diskurs beherrschten, so erkannte die Kritische Kriminologie den Akteuren „Rationalität“, „Authentizität“, „Kompetenz und Verantwortlichkeit“ (Sack, 1993, S. 335) zu.
Ausgestattet mit dem Rüstzeug des [[Labeling|Labeling Approaches]] machte sich die Kritische Kriminologie daran die undifferenzierte Akzeptanz gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen, sowie die daraus resultierende Marginalisierung devianten Verhaltens, zu hinterfragen. Normen büßen, im Lichte dieser Betrachtung, ihren vorsozialen Pathos ein und werden schließlich zu variablen Produkten gesellschaftlichen Interessenhandelns. Durch den Prozess der Normgenese werden bestimmte Verhaltensweisen als abweichend bezeichnet. Dieser Zuschreibungsprozess verläuft individuell und kontextabhängig, je nach der ihn beherbergenden Gesellschaft. So richtet der Labeling Approach den Blick vom (devianten) Individuum auf gesamtgesellschaftliche Definitions- und Aushandlungsprozesse. Verkürzt könnte man, in gewollter Anlehnung an den §1 StGB also auch sagen: „Keine Straftat ohne Gesetz“.
Ausgestattet mit dem Rüstzeug des [[Labeling|Labeling Approaches]] machte sich die Kritische Kriminologie daran die undifferenzierte Akzeptanz gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen, sowie die daraus resultierende Marginalisierung devianten Verhaltens, zu hinterfragen. Normen büßen, im Lichte dieser Betrachtung, ihren vorsozialen Pathos ein und werden schließlich zu variablen Produkten gesellschaftlichen Interessenhandelns. Durch den Prozess der Normgenese werden bestimmte Verhaltensweisen als abweichend bezeichnet. Dieser Zuschreibungsprozess verläuft individuell und kontextabhängig, je nach der ihn beherbergenden Gesellschaft. So richtet der Labeling Approach den Blick vom (devianten) Individuum auf gesamtgesellschaftliche Definitions- und Aushandlungsprozesse. Verkürzt könnte man, in gewollter Anlehnung an den §1 StGB also auch sagen: „Keine Straftat ohne Gesetz“.
Carolin Reese schreibt zur Bedeutung der Normgenese folgendes:
Carolin Reese schreibt zur Bedeutung der Normgenese folgendes:
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Die Geschichte des § 175 des deutschen StGB beginnt im Jahre 1871. Seinerzeit wurden explizite homosexuelle Handlungen und Sodomie unter diese Strafnorm subsumiert.
Die Geschichte des § 175 des deutschen StGB beginnt im Jahre 1871. Seinerzeit wurden explizite homosexuelle Handlungen und Sodomie unter diese Strafnorm subsumiert.
In seiner Fassung vom 01.09.1935 erfuhr der Paragraph durch die Nationalsozialisten eine Verschärfung, welche nunmehr alle denkbaren homosexuellen Handlungen unter Strafe stellte. Es folgten weitere Anpassungen in den Jahren 1941 und 1949 (in der BRD: Übernahme des bereits 1935 formulierten Gesetzes). Im Jahre 1969 fiel das „Totalverbot“ von Homosexualität mit der Einführung von Schutzaltern für Jungen (21 Jahre) und Mädchen (14 Jahre). Dieses Schutzalter wurde, im Jahre 1973, für Jungen auf 18 Jahre herabgesetzt. Erst am 10.06.1994 wurde das Gesetz (auf dem Gebiet der alten Bundesländer) gestrichen. Als das zur Legitimation der Strafnorm angeführte Schutzgut wurde stets die „Volksgesundheit“, bzw. ab 1973 die „ungestörte sexuelle Entwicklung des männlichen Jugendlichen“ herangezogen. Neben dieser legitimatorischen Begründung bestand (historisch betrachtet) stets auch die Absicht der Sicherstellung eines Nachwuchses zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit des Landes (vgl. Henner Hess / Johannes Stehr, 1987, S. 42). Doch bereits die seit 1970 sinkenden Verurteilungszahlen bildeten den Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen trefflich ab. Schließlich reagierte der Gesetzgeber mit Streichung des Gesetzes. So veranschaulicht der § 175 StGB, wie zwischenzeitlich inkriminiertes Verhalten schließlich wieder zu legalem Handeln metamorphosiert und wie gesellschaftliche Prozesse - wie Säkularisierung, Aufklärung und Toleranz - dies ermöglichen.
In seiner Fassung vom 01.09.1935 erfuhr der Paragraph durch die Nationalsozialisten eine Verschärfung, welche nunmehr alle denkbaren homosexuellen Handlungen unter Strafe stellte. Es folgten weitere Anpassungen in den Jahren 1941 und 1949 (in der BRD: Übernahme des bereits 1935 formulierten Gesetzes). Im Jahre 1969 fiel das „Totalverbot“ von Homosexualität mit der Einführung von Schutzaltern für Jungen (21 Jahre) und Mädchen (14 Jahre). Dieses Schutzalter wurde, im Jahre 1973, für Jungen auf 18 Jahre herabgesetzt. Erst am 10.06.1994 wurde das Gesetz (auf dem Gebiet der alten Bundesländer) gestrichen. Als das zur Legitimation der Strafnorm angeführte Schutzgut wurde stets die „Volksgesundheit“, bzw. ab 1973 die „ungestörte sexuelle Entwicklung des männlichen Jugendlichen“ herangezogen. Neben dieser legitimatorischen Begründung bestand (historisch betrachtet) stets auch die Absicht der Sicherstellung eines Nachwuchses zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit des Landes (vgl. Henner Hess / Johannes Stehr, 1987, S. 42) (Siehe auch unter [http://de.wikipedia.org/wiki/Bev%C3%B6lkerung "Peuplierung"].). Doch bereits die seit 1970 sinkenden Verurteilungszahlen bildeten den Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen trefflich ab. Schließlich reagierte der Gesetzgeber mit Streichung des Gesetzes. So veranschaulicht der § 175 StGB, wie zwischenzeitlich inkriminiertes Verhalten schließlich wieder zu legalem Handeln metamorphosiert und wie gesellschaftliche Prozesse - wie Säkularisierung, Aufklärung und Toleranz - dies ermöglichen.


=== 4.2 Weitere Beispiele ===
=== 4.2 Weitere Beispiele ===
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* Lemma "[[Kriminalisierung]]"
* Lemma "[[Kriminalisierung]]"
* Lemma "[[Normvalidierung]]"


== Weblinks ==
== Weblinks ==
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WBMA Kriminologie 2009/10, Prüfungsleistung Modul 1
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