Normgenese: Unterschied zwischen den Versionen

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Die '''Normgenese''' beschreibt den Entstehungs- und Entwicklungsprozess von Normen. Der Begriff beschränkt sich dabei nicht auf eine bestimmte Definition von Norm. Er umfasst, angefangen bei einer der soziologischen Bedeutungen von Norm als Erwartungsäußerung, über die Entstehung erster gesellschaftlicher Gesetze, schließlich auch komplexe Gesetzgebungsverfahren. Normgenese ist ein Kompositum (Zusammensetzung) der zwei folgenden Wörter:
Die '''Normgenese''' beschreibt den Entstehungs- und Entwicklungsprozess von Normen. Der Begriff beschränkt sich dabei nicht auf eine bestimmte Definition von Norm. Er umfasst, angefangen bei einer der soziologischen Bedeutungen von Norm als Erwartungsäußerung, über die Entstehung erster gesellschaftlicher [http://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz Gesetze], schließlich auch komplexe [http://de.wikipedia.org/wiki/Gesetzgebungsverfahren Gesetzgebungsverfahren]. Normgenese ist ein [http://de.wikipedia.org/wiki/Komposition_%28Grammatik%29 Kompositum] (Zusammensetzung) der zwei folgenden Wörter:


'''Norm''' (von lat. ''norma'', Winkelmaß, Richtschnur, Regel, Norm, Übersetzung von griech. κανών, Maßstab) steht u. A. für eine Werteordnung innerhalb einer Gesellschaft, siehe soziale Norm.
'''Norm''' (von lat. ''norma'', Winkelmaß, Richtschnur, Regel, Norm, Übersetzung von griech. κανών, Maßstab) steht u. A. für eine Werteordnung innerhalb einer Gesellschaft, siehe [[Soziale Normen|soziale Norm]].


'''-genese''' (von griechisch ''γένεσις'', genesis ‚Geburt‘, ‚Ursprung‘ ‚ ‚Entstehung‘)
'''-genese''' (von griechisch ''γένεσις'', genesis ‚Geburt‘, ‚Ursprung‘ ‚ ‚Entstehung‘)


[[bild:Normgenese_grey_pp.jpg|miniatur|150px|rechts|Visualisierter Prozeß der Normgenese.]]
[[bild:Normgenese_grey_pp.jpg|miniatur|250px|right|Visualisierter Prozeß der Normgenese.]]


== 1. Definition ==
== 1. Definition ==


=== 1.1 Normen ===
=== 1.1 Normen ===


 
Im Gegensatz zu einer eindeutigen Begriffsdefinition im Bereich der Naturwissenschaften wie etwa der technischen Norm (z.B. [http://de.wikipedia.org/wiki/DIN-Norm DIN-Norm]) oder der mathematischen Norm (z.B. [http://de.wikipedia.org/wiki/Normierter_Raum normierter Raum]) wird der Begriff der Norm innerhalb der sozialwissenschaftlichen Literatur in sehr verschiedener und auch oft in unpräziser Weise verwendet (Karl-Dieter Opp, 1983, S. 1). So ist beispielsweise strittig inwieweit mit den Normen (als kontrafaktische Verhaltenserwartungen) verbundene Sanktionsdrohungen charakteristisch sind. Die Begriffsbedeutung ist oftmals kontextabhängig; eine einheitliche Definition besteht nicht. Zur Abgrenzung von Normen gegenüber Werten siehe unter [[Soziale Normen#Exkurs:_Abgrenzung_von_.28sozialen.29_Normen_zu_Werten|Soziale Normen]].
Im Gegensatz zu einer eindeutigen Begriffsdefinition im Bereich der Naturwissenschaften wie etwa technischen Norm (z.B. DIN-Norm) oder mathematischen Norm (z.B. normierter Raum) wird der Begriff der Norm innerhalb der sozialwissenschaftlichen Literatur wird der Begriff der Norm in sehr verschiedener und auch oft in unpräziser Weise verwendet (Karl-Dieter Opp, 1983, S. 1). So ist beispielsweise strittig inwieweit mit den Normen (als kontrafaktische Verhaltenserwartungen) verbundene Sanktionsdrohungen charakteristisch sind. Die Begriffsbedeutung ist oftmals kontextabhängig; eine einheitliche Definition besteht nicht.


=== 1.1.1 Soziale Normen als „soziale Tatsachen“ ===
=== 1.1.1 Soziale Normen als „soziale Tatsachen“ ===


Der sozialwissenschaftlichen Annahme von sozialen Normen als soziale Tatsachen liegt die Vorstellung zugrunde, dass durch  ein bestimmtes Verhalten einer Personenmehrheit eine Regel für alle Gruppenmitglieder geschaffen werden kann. Georg Jellinek bezeichnet diesen Zusammenhang als „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek, 1976, S. 338). Dieser Logik entspricht z.B. die Auffassung von David Émile Durkheim. Er wertete die Selbstmordrate verschiedener Bevölkerungsgruppen aus und leitete daraus eine „Selbstmord-Norm“ ab. „Was die Ziffern ausdrücken, ist ein bestimmter Zustand des gesellschaftlichen Geistes“ (Durkheim, 1965, S. 33). Nach Durkheim ist also z.B. das durchschnittliche Verhalten das Maß für den gesellschaftlichen Geist bzw. die soziale Norm (Klaus Eichner, 1981, S. 39).
Der sozialwissenschaftlichen Annahme von sozialen Normen als soziale Tatsachen liegt die Vorstellung zugrunde, dass durch  ein bestimmtes Verhalten einer Personenmehrheit eine Regel für alle Gruppenmitglieder geschaffen werden kann. [http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Jellinek Georg Jellinek] bezeichnet diesen Zusammenhang als „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek, 1976, S. 338). Dieser Logik entspricht z.B. die Auffassung von David Émile [[Emile Durkheim|Durkheim]]. Er wertete die Selbstmordrate verschiedener Bevölkerungsgruppen aus und leitete daraus eine „Selbstmord-Norm“ ab. „Was die Ziffern ausdrücken, ist ein bestimmter Zustand des gesellschaftlichen Geistes“ (Durkheim, 1965, S. 33). Nach Durkheim ist also z.B. das durchschnittliche Verhalten das Maß für den gesellschaftlichen Geist bzw. die soziale Norm (Klaus Eichner, 1981, S. 39).
Peter Berger/Thomas Luckmann folgend finde Institutionalisierung statt, sobald habitualisierte Handlungen reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen werde, sei eine Institution. Für das Zustandekommen einer Institution seien nicht nur die Reziprozität der Typisierung entscheidend, sondern ebenso die Typik der Akte, wie auch der Akteure. (Berger/Luckmann, 1972, S. 59)
Peter Berger/Thomas Luckmann folgend finde Institutionalisierung statt, sobald habitualisierte Handlungen [http://de.wikipedia.org/wiki/Reziprozit%C3%A4t_%28Soziologie%29 reziprok] typisiert werden. Jede [[Typisierung]], die auf diese Weise vorgenommen werde, sei eine [http://de.wikipedia.org/wiki/Institution Institution]. Für das Zustandekommen einer Institution seien nicht nur die Reziprozität der Typisierung entscheidend, sondern ebenso die Typik der Akte, wie auch der Akteure. (Berger/Luckmann, 1972, S. 59)


=== 1.1.2 Normen als gesollte Verhaltensgleichförmigkeiten ===
=== 1.1.2 Normen als gesollte Verhaltensgleichförmigkeiten ===
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=== 1.1.5 Soziale Normen als antizipierte Erwartungshaltung ===
=== 1.1.5 Soziale Normen als antizipierte Erwartungshaltung ===


Eine in der Soziologie gängige Definition von sozialer Norm liefert Opp: „Unter einer „Norm“ wird eine von Individuen geäußerte Erwartung der Art verstanden, daß etwas der Fall sein soll oder muß oder nicht der Fall sein soll oder muß. Normen sind also Standards, Regeln oder Vorschriften“ (Opp, 1983, S. 4). Nach Opp können sich diese auf Verhalten, Motive oder Kognitionen beziehen. Normen müssen dabei nicht zwingend verbal oder schriftlich geäußert werden, weshalb Verhalten oft auch eine Reaktion auf „unterstellte“ Erwartungen darstellt.  
Eine in der Soziologie gängige Definition von sozialer Norm liefert Opp: „Unter einer „Norm“ wird eine von Individuen geäußerte Erwartung der Art verstanden, daß etwas der Fall sein soll oder muß oder nicht der Fall sein soll oder muß. Normen sind also Standards, Regeln oder Vorschriften“ (Opp, 1983, S. 4). Nach Opp können sich diese auf Verhalten, Motive oder Kognitionen beziehen. Normen müssen dabei nicht zwingend verbal oder schriftlich geäußert werden, weshalb Verhalten oft auch eine Reaktion auf „unterstellte“ Erwartungen darstellt (vgl. Paul Watzlawick, ''[http://www.dr-mueck.de/HM_Denkhilfen/HM_Therapeutische_Geschichten/HM_Hammergeschichte_Watzlawick Die Geschichte mit dem Hammer]'').  
Nach Opp besitzt, die sogenannte Werterwartungstheorie bzw. die ökonomische Nutzentheorie, größte empirische Evidenz.
Nach Opp besitzt, die sogenannte Werterwartungstheorie bzw. die ökonomische [http://de.wikipedia.org/wiki/Nutzen_%28Wirtschaft%29 Nutzentheorie], größte empirische Evidenz.
Im Weiteren soll diese, auf ökonomischen Annahmen fußende, Bedeutung des Begriffes „Norm“ als Grundlage angenommen werden.
Im Weiteren soll diese, auf ökonomischen Annahmen fußende, Bedeutung des Begriffes „Norm“ als Grundlage angenommen werden.


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Als die vielleicht allgemeinste Funktion gesellschaftlicher Gemeinschaft, bezeichnete Parsons das Hervorbringen eines einheitlichen und kohärenten Normensystems. Zwar schafft dieses Abhängigkeiten und Hierarchien, doch bietet es andererseits auch Schutz und liefert dem "Mängelwesen Mensch" (vgl. Arnold Gehlen) eine Lebenssicherung und (transparente) Perspektive. Normgenese findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Hans Haferkamp spricht in diesem Zusammenhang von der Institutionalisierung von Handlungserwartungen und unterscheidet die a) Zweier-Gesellschaft (z.B. Partnerschaft), die b) Kleingruppengesellschaft (bis zu einer Größe, die keine Face-to-face-Beziehungen mehr zulässt), sowie die c) Mehrgruppengesellschaft (z.B. Bevölkerung). Allen gemein seien die zur Aushandlung institutionalisierter Handlungserwartungen notwendigen Unterkategorien: 1) Produktion 2) Definition 3) Integration 4) Identifikation. Während bei Zweier-Gesellschaften idealerweise alle Beteiligten gleichermaßen am kommunikativen Prozess der Normformulierung (1-4) partizipieren, reduziert sich deren Einfluss bei Gruppen der Kategorien b) und c) (vgl. Lamnek, 2008, S. 73).
Als die vielleicht allgemeinste Funktion gesellschaftlicher Gemeinschaft, bezeichnete Parsons das Hervorbringen eines einheitlichen und kohärenten Normensystems. Zwar schafft dieses Abhängigkeiten und Hierarchien, doch bietet es andererseits auch Schutz und liefert dem "Mängelwesen Mensch" (vgl. Arnold Gehlen) eine Lebenssicherung und (transparente) Perspektive. Normgenese findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Hans Haferkamp spricht in diesem Zusammenhang von der Institutionalisierung von Handlungserwartungen und unterscheidet die a) Zweier-Gesellschaft (z.B. Partnerschaft), die b) Kleingruppengesellschaft (bis zu einer Größe, die keine Face-to-face-Beziehungen mehr zulässt), sowie die c) Mehrgruppengesellschaft (z.B. Bevölkerung). Allen gemein seien die zur Aushandlung institutionalisierter Handlungserwartungen notwendigen Unterkategorien: 1) Produktion 2) Definition 3) Integration 4) Identifikation. Während bei Zweier-Gesellschaften idealerweise alle Beteiligten gleichermaßen am kommunikativen Prozess der Normformulierung (1-4) partizipieren, reduziert sich deren Einfluss bei Gruppen der Kategorien b) und c) (vgl. Lamnek, 2008, S. 73).
Eine andere Annäherung stellt der spieltheoretische Ansatz dar. Dieser sieht in jeder Form von kooperativem Verhalten zur Lösung einer Mängellage, ein Äquivalent zu Normen. Der zum Zweck des Überholens anderer zur Seite tretende Passant, auf einer überfüllten Rolltreppe, würde so zum Normsender einer schlichten Norm á la: „Links geh‘, rechts steh!“.
Eine andere Annäherung stellt der [http://de.wikipedia.org/wiki/Spieltheorie spieltheoretische Ansatz] dar. Dieser sieht in jeder Form von kooperativem Verhalten zur Lösung einer Mängellage, ein Äquivalent zu Normen. Der zum Zweck des Überholens anderer zur Seite tretende Passant, auf einer überfüllten Rolltreppe, würde so zum Normsender einer schlichten Norm á la: „Links geh‘, rechts steh!“.
Normgenese ist stets auch ein Begleiter von Machtbildung. Popitz spricht von der dauerhaften Besetzung von Verfügungsgewalten. In diesem Prozess dient die Normgenese der normativen Absicherung von Positionsvorteilen.
Normgenese ist stets auch ein Begleiter von Machtbildung. Popitz spricht von der dauerhaften Besetzung von Verfügungsgewalten. In diesem Prozess dient die Normgenese der normativen Absicherung von Positionsvorteilen.
Wenngleich unter Soziologen, wie Sozialpsychologen, oftmals deutliche Kritik an der Eignung des "utilitaristischen Ansatzes" geäußert wird, geht doch eine Vielzahl dieser Sozialwissenschaftler von einer Abhängigkeit zwischen der Entstehung von Normen einerseits und den damit verbundenen Kosten und Nutzen andererseits aus.  
Wenngleich unter Soziologen, wie Sozialpsychologen, oftmals deutliche Kritik an der Eignung des "[[Utilitarismus|utilitaristischen Ansatzes]]" geäußert wird, geht doch eine Vielzahl dieser Sozialwissenschaftler von einer Abhängigkeit zwischen der Entstehung von Normen einerseits und den damit verbundenen Kosten und Nutzen andererseits aus.  
Nach Victor Kraft ergeben sich die Normen (der Moral) daraus, dass alle Menschen das Ziel haben, ihre Begehren zu befriedigen. Nachdem dies aber, so Kraft, nicht möglich sei, ohne dass die Menschen sich gegenseitig behindern bzw. ohne dass es zum Kampf kommt, muss die Befriedigung der individuellen Begehren insoweit eingeschränkt werden, als dass alle wenigstens ihre lebenswichtigen Begehren befriedigen können. Genau diese Funktionen erfüllen die Normen (der Moral) (Kraft, 1973, S. 72).
Nach Victor Kraft ergeben sich die Normen (der Moral) daraus, dass alle Menschen das Ziel haben, ihre Begehren zu befriedigen. Nachdem dies aber, so Kraft, nicht möglich sei, ohne dass die Menschen sich gegenseitig behindern bzw. ohne dass es zum Kampf kommt, muss die Befriedigung der individuellen Begehren insoweit eingeschränkt werden, als dass alle wenigstens ihre lebenswichtigen Begehren befriedigen können. Genau diese Funktionen erfüllen die Normen (der Moral) (Kraft, 1973, S. 72).
Unter Soziologen existiert also ein gewisser Konsens bezüglich der Brauchbarkeit der wirtschaftwissenschaftlichen „Theorie der Verfügungsrechte“ zur Erklärung von Normenentstehung. (vgl.Opp, 1983)
Unter Soziologen existiert also ein gewisser Konsens bezüglich der Brauchbarkeit der wirtschaftwissenschaftlichen „[http://de.wikipedia.org/wiki/Theorie_der_Verf%C3%BCgungsrechte Theorie der Verfügungsrechte]“ zur Erklärung von Normenentstehung. (vgl.Opp, 1983)


=== 2.1 Die Nutzentheorie ===
=== 2.1 Die Nutzentheorie ===
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Die Präferenzen beinhalten Bedürfnisse und Wünsche oder auch den Nutzen, den ein Individuum beliebigen Sachverhalten beimisst. Das können bevorzugte Lebensmittel, angestrebte Lebensumstände oder Vermeidung störender Umwelteinflüsse sein. Der Nutzen kann also positiv oder negativ sein. Diese Präferenzen variieren unter den Mitgliedern einer Gesellschaft.
Die Präferenzen beinhalten Bedürfnisse und Wünsche oder auch den Nutzen, den ein Individuum beliebigen Sachverhalten beimisst. Das können bevorzugte Lebensmittel, angestrebte Lebensumstände oder Vermeidung störender Umwelteinflüsse sein. Der Nutzen kann also positiv oder negativ sein. Diese Präferenzen variieren unter den Mitgliedern einer Gesellschaft.
Die Restriktionen stellen gewissermaßen die individuellen Beschränkungen zur Realisierung der Präferenzen dar. Limitierende Faktoren können z.B. begrenztes Einkommen, eingeschränkte Fertigkeiten, ablehnende Reaktionen anderer oder mangelnder Besitz des Individuums darstellen.
Die Restriktionen stellen gewissermaßen die individuellen Beschränkungen zur Realisierung der Präferenzen dar. Limitierende Faktoren können z.B. begrenztes Einkommen, eingeschränkte Fertigkeiten, ablehnende Reaktionen anderer oder mangelnder Besitz des Individuums darstellen.
Gemäß der Nutzentheorie bestimmen Präferenzen und Restriktionen das Handeln von Individuen dergestalt, dass jeweils die Handlungsalternative gewählt wird, von der der größte Nutzen erwartet wird und zugleich die geringsten negativen Handlungskonsequenzen (z.B. Haft bei geplantem Diebstahl) ausgehen. Der sogenannte „Nettonutzen“ einer Handlung lässt sich folgendermaßen darstellen:
Gemäß der Nutzentheorie bestimmen Präferenzen und Restriktionen das Handeln von Individuen dergestalt, dass jeweils die Handlungsalternative gewählt wird, von der der größte Nutzen erwartet wird und zugleich die geringsten negativen Handlungskonsequenzen (z.B. Haft bei geplantem Diebstahl) ausgehen. Der sogenannte [http://de.wikipedia.org/wiki/Nettonutzen „Nettonutzen“] einer Handlung lässt sich folgendermaßen darstellen:


[[bild:Formel_Nutzentheorie.jpg|miniatur|150px|rechts|Formel der Nutzentheorie.]]
[[bild:Formel_Nutzentheorie.jpg|miniatur|150px|Formel der Nutzentheorie.]]




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Obwohl vorgenannte Formel es suggerieren mag, meint das ökonomische Verhaltensmodell keineswegs, dass Individuen derart binär kalkulieren. Selbstverständlich stehen dem Individuum dafür nie alle entscheidungsrelevanten Informationen zur Verfügung und mithin sind Handlungskonsequenz und deren Eintrittswahrscheinlichkeit stets subjektiv perzipiert.
Obwohl vorgenannte Formel es suggerieren mag, meint das ökonomische Verhaltensmodell keineswegs, dass Individuen derart binär kalkulieren. Selbstverständlich stehen dem Individuum dafür nie alle entscheidungsrelevanten Informationen zur Verfügung und mithin sind Handlungskonsequenz und deren Eintrittswahrscheinlichkeit stets subjektiv [http://de.wikipedia.org/wiki/Perzeption perzipiert].


=== 2.2 Entstehung von Normen durch die Existenz externer Effekte ===
=== 2.2 Entstehung von Normen durch die Existenz externer Effekte ===


Individuelle Handlungspräferenzen und -entscheidungen können in Konflikt zu Handlungspräferenzen anderer Gruppenmitglieder stehen. Eine solche störende Außenwirkung einer Handlungentscheidung bezeichnet Opp auch als externen Effekt. Allerdings können externe Effekte auch positiver Natur sein, also dann, wenn sie für andere Gruppenmitglieder von Nutzen sind (vgl. positive Externalität). Kommt es zu derartigen gegenseitigen Beeinträchtigungen bei der Zielerreichung und Bedürfnisbefriedigung (z.B. zwei Menschen möchten denselben Apfel ernten und verzehren) dann bedarf es einer Regulation. Die Wahrscheinlichkeit des Entstehens von Normen ist dann stets sehr hoch. Negative Externalitäten werden dabei internalisiert. Es bleibt jedoch auch (um im Bespiel zu bleiben) die (möglicherweise gewalttätige) Aneignung des Apfels und dessen exklusiver Verzehr durch ein Individuum. Negative Externalitäten sind somit eliminiert. Dies schlösse eine Normbildung i.e.S. aus.
Individuelle Handlungspräferenzen und -entscheidungen können in Konflikt zu Handlungspräferenzen anderer Gruppenmitglieder stehen. Eine solche störende Außenwirkung einer Handlungentscheidung bezeichnet Opp auch als [http://de.wikipedia.org/wiki/Externer_Effekt externen Effekt]. Allerdings können externe Effekte auch positiver Natur sein, also dann, wenn sie für andere Gruppenmitglieder von Nutzen sind (vgl. [http://de.wikipedia.org/wiki/Positive_Externalit%C3%A4t#Positiver_externer_Effekt positive Externalität]). Kommt es zu derartigen gegenseitigen Beeinträchtigungen bei der Zielerreichung und Bedürfnisbefriedigung (z.B. zwei Menschen möchten denselben Apfel ernten und verzehren) dann bedarf es einer Regulation. Die Wahrscheinlichkeit des Entstehens von Normen ist dann stets sehr hoch. Negative Externalitäten werden dabei internalisiert. Es bleibt jedoch auch (um im Bespiel zu bleiben) die (möglicherweise gewalttätige) Aneignung des Apfels und dessen exklusiver Verzehr durch ein Individuum. Negative Externalitäten sind somit eliminiert. Dies schlösse eine Normbildung i.e.S. aus.
 


=== 2.2.1 Prominentes Beispiel: die „Labrador Indianer“ ===
=== 2.2.1 Prominentes Beispiel: die „Labrador Indianer“ ===
[[bild:Labrador_indianer.jpg|miniatur|150px|gerahmt|rechts|Zeichnung eines Labrador Indianers. Aus Brockhaus' Konversations-Lexikon, 14. Auflage.]]
[[bild:Labrador_indianer.jpg|miniatur|150px|right|Zeichnung eines Labrador Indianers. Aus Brockhaus' Konversations-Lexikon, 14. Auflage.]]
Harold Demsetz (1967, S. 34-37) beschreibt in seinem Aufsatz die Entwicklung von privaten Eigentumsrechten auf der von den Labrador Indianern bewohnten/verwalteten Insel. Das verhältnismäßig frühe Entstehen dieser Eigentumsrechte, bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts, begründet Demsetz mit dem Aufkommen des zeitgleich einsetzenden Pelzhandels. Zuvor war das Jagen von Wild jedem uneingeschränkt erlaubt. Besitz an Wild konnte sich ausschließlich auf die schließlich erlegte Jagdbeute beziehen, nicht jedoch auf das freilebende Tier. Mithin fühlte sich kein Jäger für den Erhalt des Wildbestandes verantwortlich, niemand investierte in konservierende Maßnahmen. Mit jedem erlegten Tier wuchs der Jagdaufwand für die Jäger. Das Jagdverhalten eines Jägers A zog also negative externe Effekte für die anderen Jäger nach sich. Diese für die anderen entstehenden Kosten nennt man daher externe Kosten. Da es zu keinem Kostenausgleich in dem Sinne kommt, dass Jäger A den Jäger B für dessen künftigen Mehraufwand entschädigt, mehr noch Jäger A dies in seinem Jagdverhalten keineswegs berücksichtigt / kalkuliert, werden die externen Kosten von Jäger A nicht internalisiert. Bei einem ausreichend großen Wildbestand und einem Jagdverhalten, welches nur der individuellen Bedürfnisbefriedigung dient, sind die externen Kosten derart gering, dass die Einführung eines Verteilungsschlüssels, bzw. Vorkehrungen zur Internalisierung dieser Kosten (letztlich einer Norm), vermutlich mit einem Mehr an Kosten verbunden wären. Im Ergebnis entstand also zunächst keine Norm, die die Güterverteilung reglementierte.
Harold Demsetz (1967, S. 34-37) beschreibt in seinem Aufsatz die Entwicklung von privaten Eigentumsrechten auf der von den Labrador Indianern bewohnten/verwalteten Insel. Das verhältnismäßig frühe Entstehen dieser Eigentumsrechte, bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts, begründet Demsetz mit dem Aufkommen des zeitgleich einsetzenden Pelzhandels. Zuvor war das Jagen von Wild jedem uneingeschränkt erlaubt. Besitz an Wild konnte sich ausschließlich auf die schließlich erlegte Jagdbeute beziehen, nicht jedoch auf das freilebende Tier. Mithin fühlte sich kein Jäger für den Erhalt des Wildbestandes verantwortlich, niemand investierte in konservierende Maßnahmen. Mit jedem erlegten Tier wuchs der Jagdaufwand für die Jäger. Das Jagdverhalten eines Jägers A zog also negative externe Effekte für die anderen Jäger nach sich. Diese für die anderen entstehenden Kosten nennt man daher externe Kosten. Da es zu keinem Kostenausgleich in dem Sinne kommt, dass Jäger A den Jäger B für dessen künftigen Mehraufwand entschädigt, mehr noch Jäger A dies in seinem Jagdverhalten keineswegs berücksichtigt / kalkuliert, werden die externen Kosten von Jäger A nicht [http://de.wikipedia.org/wiki/Internalisierung_%28Sozialwissenschaften%29 internalisiert]. Bei einem ausreichend großen Wildbestand und einem Jagdverhalten, welches nur der individuellen Bedürfnisbefriedigung dient, sind die externen Kosten derart gering, dass die Einführung eines Verteilungsschlüssels, bzw. Vorkehrungen zur Internalisierung dieser Kosten (letztlich einer Norm), vermutlich mit einem Mehr an Kosten verbunden wären. Im Ergebnis entstand also zunächst keine Norm, die die Güterverteilung reglementierte.
Durch den aufkommenden Pelzhandel stieg die Jagdaktivität der Indianer über deren individuelles Maß hinaus. Pelze waren gegen andere Güter einzutauschen und gewannen an Wert. Das übermäßige Jagdverhalten dezimierte den Wildbestand und es entstanden hohe externe Kosten, die aus a) den erschwerten Jagdbedingungen und b) dem gestiegenen Wert des Pelzes resultierten.
Durch den aufkommenden Pelzhandel stieg die Jagdaktivität der Indianer über deren individuelles Maß hinaus. Pelze waren gegen andere Güter einzutauschen und gewannen an Wert. Das übermäßige Jagdverhalten dezimierte den Wildbestand und es entstanden hohe externe Kosten, die aus a) den erschwerten Jagdbedingungen und b) dem gestiegenen Wert des Pelzes resultierten.
Diese Bedingungen schufen die Voraussetzungen zur Entstehung von Eigentumsrechten.
Diese Bedingungen schufen die Voraussetzungen zur Entstehung von Eigentumsrechten.
Das Jagdgebiet wurde in Abschnitte unterteilt, die jeweils von einer bestimmten Gruppe exklusiv bejagt wurden. Diese Territorien waren ferner farblich gekennzeichnet. Die Durchsetzung der neuen Eigentumsrechte war mit wenig Aufwand / Kosten verbunden, sodass keine Zäune errichtet, oder Wächter installiert werden mussten, die ihrerseits mit Transaktionskosten verbunden gewesen wären. Das Setzen der Eigentumsrechte half also die gestiegenen externen Kosten in den einzelnen Gruppen zu internalisieren / nach außen zu eliminieren.  
Das Jagdgebiet wurde in Abschnitte unterteilt, die jeweils von einer bestimmten Gruppe exklusiv bejagt wurden. Diese Territorien waren ferner farblich gekennzeichnet. Die Durchsetzung der neuen Eigentumsrechte war mit wenig Aufwand / Kosten verbunden, sodass keine Zäune errichtet, oder Wächter installiert werden mussten, die ihrerseits mit [http://de.wikipedia.org/wiki/Transaktionskosten Transaktionskosten] verbunden gewesen wären. Das Setzen der Eigentumsrechte half also die gestiegenen externen Kosten in den einzelnen Gruppen zu internalisieren / nach außen zu eliminieren.


=== 2.2.2 Die Internalisierungsthese ===
=== 2.2.2 Die Internalisierungsthese ===
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== 3. Bedeutung von Normgenese für die Kritische Kriminologie ==
== 3. Bedeutung von Normgenese für die Kritische Kriminologie ==


Die Normgenese ist aus Sicht der Kritischen Kriminologie von zentraler Bedeutung. Mit ihrer Hilfe lassen sich Fragen nach den Prozessen, Wirkungsweisen und beteiligten Akteuren (Benefiziare / Malefiziare) der Gesetzgebung beantworten. Infolge normativer und kultureller Differenzierung moderner Gesellschaften, sowie des rapiden Wandels von Rechtsnormen, lehnt die „neue Kriminologie“ die Annahme eines gesellschaftsübergreifenden Konsenses (vgl. Konsensmodell) ab und führt partikulare Interessen als Begründung eines Konfliktmodells an. Dazu schreiben Henner Hess und Sebastian Scheerer: „In akephalen Gesellschaften, die die längste Zeit der Menschheitsgeschichte bestimmten, gab es keine zentrale Instanz, die mit zwingender Autorität sagen konnte, was richtig und was falsch sei. [...] Erst an dem Punkt der sozialen Evolution, wo Konflikte um Güter und Positionen nicht mehr im Interesse aller geregelt wurden, sondern wo es einigen Gesellschaftsmitgliedern gelang, die bisherigen Kontrollen zu durchbrechen und sich privilegierte Positionen zu verschaffen, wo Herrschaft politisch als institutionalisierte Macht und ökonomisch als Herrengewalt an den entscheidenden Wirtschaftsmitteln entstand, kam es zu jener drastischen Änderung  von Konflikten und Konfliktregelungen, aus der sich die Phänomene Recht (als durch Erzwingungsstäbe garantierte Normen), Verbrechen (als Verstöße gegen solche Rechtsnormen) und Kriminalstrafen (als Sanktionierungen von Verbrechen) entwickelten.“ (Hess; Scheerer, 2003, S. 69-92)
Die Normgenese ist aus Sicht der Kritischen Kriminologie von zentraler Bedeutung. Mit ihrer Hilfe lassen sich Fragen nach den Prozessen, Wirkungsweisen und beteiligten Akteuren (Benefiziare / Malefiziare) der Gesetzgebung beantworten. Infolge normativer und kultureller Differenzierung moderner Gesellschaften, sowie des rapiden Wandels von Rechtsnormen, lehnt die „neue Kriminologie“ die Annahme eines gesellschaftsübergreifenden Konsenses (vgl. Konsensmodell) ab und führt partikulare Interessen als Begründung eines Konfliktmodells an. Dazu schreiben [[Henner Hess]] und [[Sebastian Scheerer]]: „In akephalen Gesellschaften, die die längste Zeit der Menschheitsgeschichte bestimmten, gab es keine zentrale Instanz, die mit zwingender Autorität sagen konnte, was richtig und was falsch sei. [...] Erst an dem Punkt der sozialen Evolution, wo Konflikte um Güter und Positionen nicht mehr im Interesse aller geregelt wurden, sondern wo es einigen Gesellschaftsmitgliedern gelang, die bisherigen Kontrollen zu durchbrechen und sich privilegierte Positionen zu verschaffen, wo Herrschaft politisch als institutionalisierte Macht und ökonomisch als Herrengewalt an den entscheidenden Wirtschaftsmitteln entstand, kam es zu jener drastischen Änderung  von Konflikten und Konfliktregelungen, aus der sich die Phänomene Recht (als durch Erzwingungsstäbe garantierte Normen), Verbrechen (als Verstöße gegen solche Rechtsnormen) und Kriminalstrafen (als Sanktionierungen von Verbrechen) entwickelten.“ (Hess; Scheerer, 2003, S. 69-92)
Normen entfalten eine regulative Wirkung, die verschiedene Gesellschaftsmitglieder möglicherweise unterschiedlich stark tangiert. Sinngemäß folgend dem Bonmot:
Normen entfalten eine regulative Wirkung, die verschiedene Gesellschaftsmitglieder möglicherweise unterschiedlich stark tangiert. Sinngemäß folgend dem Bonmot:
„Die großartige Gleichheit vor dem Gesetz verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen“  (Anatole France, „Le lys rouge“, 1894). Die Kritische Kriminologie interessiert daher die Frage nach den geistigen Vätern heutiger Normen und deren gesellschaftlicher Verortung. Welche Auswirkungen mögen von der Tatsache der - jeher durch Oberschichtsangehörige geprägten - Gesetzgebungsorgane ausgehen? Was bedeutet dies für den Fokus dieser Normen? Kann es zur Bildung eines „blinden Fleckes“ kommen? Opp formuliert: „In modernen Industriegesellschaften werden viele Normen und Maßnahmen zu deren Durchsetzung von Institutionen oder Personen gesetzt, die zur Regulierung bestimmter Verhaltensweisen legitimiert sind. Solche Institutionen können Parlamente oder Behörden sein, aber auch Vorstände von Unternehmen, Freizeitclubs oder Abteilungen einer Organisation. [...] Charakteristisch für diese Art der Normentstehung ist, dass die Normen nicht nur (oder überhaupt nicht) die Normsender, sondern andere Gruppen binden sollen“ (Opp, 1983, S. 205).
„Die großartige Gleichheit vor dem Gesetz verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen“  (Anatole France, „Le lys rouge“, 1894). Die Kritische Kriminologie interessiert daher die Frage nach den geistigen Vätern heutiger Normen und deren gesellschaftlicher Verortung. Welche Auswirkungen mögen von der Tatsache der - jeher durch Oberschichtsangehörige geprägten - Gesetzgebungsorgane ausgehen? Was bedeutet dies für den Fokus dieser Normen? Kann es zur Bildung eines „[http://de.wikipedia.org/wiki/Blinder_Fleck_%28Psychologie%29 blinden Fleckes]“ kommen? Opp formuliert: „In modernen Industriegesellschaften werden viele Normen und Maßnahmen zu deren Durchsetzung von Institutionen oder Personen gesetzt, die zur Regulierung bestimmter Verhaltensweisen legitimiert sind. Solche Institutionen können Parlamente oder Behörden sein, aber auch Vorstände von Unternehmen, Freizeitclubs oder Abteilungen einer Organisation. [...] Charakteristisch für diese Art der Normentstehung ist, dass die Normen nicht nur (oder überhaupt nicht) die Normsender, sondern andere Gruppen binden sollen“ (Opp, 1983, S. 205).
Normen, insbesondere in ihrer Gestalt als Strafgesetze haben eine herrschaftssichernde, auf Machterhalt ausgerichtete Komponente. Die Kritische Kriminologie betrachtet hier die Mechanismen derer sich der Gesetzgeber (z.B. durch „symbolische Politik“) bedient, um Massenloyalität qua Strafgesetz zu gewährleisten.
Normen, insbesondere in ihrer Gestalt als Strafgesetze haben eine herrschaftssichernde, auf Machterhalt ausgerichtete Komponente. Die Kritische Kriminologie betrachtet hier die Mechanismen derer sich der Gesetzgeber (z.B. durch „symbolische Politik“) bedient, um Massenloyalität qua Strafgesetz zu gewährleisten.


=== 3.1 Normgenese aus Sicht des Labeling Approaches ===
=== 3.1 Normgenese aus Sicht des Labeling Approaches ===


In den 1970’er Jahren brachte die Kritische Kriminologie, namentlich an dieser Stelle zu erwähnen, Fritz Sack, einen Paradigmenwechsel, der die bisherigen Grundannahmen ätiologischer Theorien in Frage stellte. Waren es zuvor positivistische Annahmen über eine biologisch, psychologisch, oder soziologisch begründete Determiniertheit menschlichen Verhaltens, welche den kriminologischen Diskurs beherrschten, so erkannte die Kritische Kriminologie den Akteuren „Rationalität“, „Authentizität“, „Kompetenz und Verantwortlichkeit“ (Sack, 1993, S. 335) zu.
In den 1970’er Jahren brachte die [[Kritische Kriminologie]], namentlich an dieser Stelle zu erwähnen, [http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Sack Fritz Sack], einen Paradigmenwechsel, der die bisherigen Grundannahmen ätiologischer Theorien in Frage stellte. Waren es zuvor positivistische Annahmen über eine biologisch, psychologisch, oder soziologisch begründete Determiniertheit menschlichen Verhaltens, welche den kriminologischen Diskurs beherrschten, so erkannte die Kritische Kriminologie den Akteuren „Rationalität“, „Authentizität“, „Kompetenz und Verantwortlichkeit“ (Sack, 1993, S. 335) zu.
Ausgestattet mit dem Rüstzeug des Labeling Approach machte sich die Kritische Kriminologie daran die undifferenzierte Akzeptanz gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen, sowie die daraus resultierende Marginalisierung devianten Verhaltens, zu hinterfragen. Normen büßen, im Lichte dieser Betrachtung, ihren vorsozialen Pathos ein und werden schließlich zu variablen Produkten gesellschaftlichen Interessenhandelns. Durch den Prozess der Normgenese werden bestimmte Verhaltensweisen als abweichend bezeichnet. Dieser Zuschreibungsprozess verläuft individuell und kontextabhängig, je nach der ihn beherbergenden Gesellschaft. So richtet der Labeling Approach den Blick vom (devianten) Individuum auf gesamtgesellschaftliche Definitions- und Aushandlungsprozesse. Verkürzt könnte man, in gewollter Anlehnung an den §1 StGB also auch sagen: „Keine Straftat ohne Gesetz“.
Ausgestattet mit dem Rüstzeug des [[Labeling|Labeling Approaches]] machte sich die Kritische Kriminologie daran die undifferenzierte Akzeptanz gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen, sowie die daraus resultierende Marginalisierung devianten Verhaltens, zu hinterfragen. Normen büßen, im Lichte dieser Betrachtung, ihren vorsozialen Pathos ein und werden schließlich zu variablen Produkten gesellschaftlichen Interessenhandelns. Durch den Prozess der Normgenese werden bestimmte Verhaltensweisen als abweichend bezeichnet. Dieser Zuschreibungsprozess verläuft individuell und kontextabhängig, je nach der ihn beherbergenden Gesellschaft. So richtet der Labeling Approach den Blick vom (devianten) Individuum auf gesamtgesellschaftliche Definitions- und Aushandlungsprozesse. Verkürzt könnte man, in gewollter Anlehnung an den §1 StGB also auch sagen: „Keine Straftat ohne Gesetz“.
Carolin Reese schreibt zur Bedeutung der Normgenese folgendes:
Carolin Reese schreibt zur Bedeutung der Normgenese folgendes:
„Insbesondere die Normgenese geriet verstärkt in den Blick der Kriminologen; damit einher ging ein völlig anderes Verständnis der Definition von Kriminalität. Die letztlich als kriminell eingestufte Handlung sei nur ein Teil des schwierigen Prozesses der Kriminalisierung, fraction sei sie statt action“ (Reese, 2004, S. 110).
„Insbesondere die Normgenese geriet verstärkt in den Blick der Kriminologen; damit einher ging ein völlig anderes Verständnis der Definition von Kriminalität. Die letztlich als kriminell eingestufte Handlung sei nur ein Teil des schwierigen Prozesses der Kriminalisierung, fraction sei sie statt action“ (Reese, 2004, S. 110).
Karl Marx prägte das Zitat „Der Charakter der Dinge ist ein Produkt des Verstandes.“ in seinen Debatten über das Holzdiebstahlgesetz.
[http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx Karl Marx] prägte das Zitat „Der Charakter der Dinge ist ein Produkt des Verstandes.“ in seinen Debatten über das Holzdiebstahlgesetz.
In der Diskussion ging es um die Abgrenzung vom a) Holzfrevel zum b) Holzdiebstahl. Ein und dieselbe Handlung (das „Sammeln“ von Holz, im Wald) stellen also a) eine legale Handlung bzw. b) eine Straftat dar. Ein Holzsammler wird nunmehr als „Krimineller“ stigmatisiert. Bei der normativen Formulierung eines entsprechenden Gesetzes (durch Anwendung von „Verstand“) kommt es zudem zwangsläufig zu einer Reduktion des Lebenssachverhaltes. Der „Charakter“ des Holzsammelns wandelt sich in eine Delinquenz ohne eigenes Dazutun, sondern indem es zu einer gesellschaftlichen Zuschreibung dieses Verhaltens (askriptiv) als Devianz kommt. Sack spricht davon, dass es kein „kriminelles“ Verhalten als solches gibt (Sack, 1968, S. 465). Kriminalität wird erst im Prozess einer „Etikettierung“ durch die Gesellschaft produziert. Diese verurteilt das Handeln nicht, weil es „kriminell“ ist, sondern dies wird es erst durch die gesellschaftliche Zuschreibung.
In der Diskussion ging es um die Abgrenzung vom a) Holzfrevel zum b) Holzdiebstahl. Ein und dieselbe Handlung (das „Sammeln“ von Holz, im Wald) stellen also a) eine legale Handlung bzw. b) eine Straftat dar. Ein Holzsammler wird nunmehr als „Krimineller“ stigmatisiert. Bei der normativen Formulierung eines entsprechenden Gesetzes (durch Anwendung von „Verstand“) kommt es zudem zwangsläufig zu einer Reduktion des Lebenssachverhaltes. Der „Charakter“ des Holzsammelns wandelt sich in eine Delinquenz ohne eigenes Dazutun, sondern indem es zu einer gesellschaftlichen Zuschreibung dieses Verhaltens ([[Zuschreibung|askriptiv]]) als Devianz kommt. Sack spricht davon, dass es kein „kriminelles“ Verhalten als solches gibt (Sack, 1968, S. 465). Kriminalität wird erst im Prozess einer „Etikettierung“ durch die Gesellschaft produziert. Diese verurteilt das Handeln nicht, weil es „kriminell“ ist, sondern dies wird es erst durch die gesellschaftliche Zuschreibung.
Vgl. dazu auch Durkheim, der ähnlichen Sachverhalt bereits 1893 umschrieb: "Man darf nicht sagen, daß eine Tat das gemeinsame Bewußtsein verletzt, weil sie kriminell ist, sondern sie ist kriminell, weil sie das gemeinsame Bewußtsein verletzt. Wir verurteilen sie nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen."
Vgl. dazu auch Durkheim, der ähnlichen Sachverhalt bereits 1893 umschrieb: "Man darf nicht sagen, daß eine Tat das gemeinsame Bewußtsein verletzt, weil sie kriminell ist, sondern sie ist kriminell, weil sie das gemeinsame Bewußtsein verletzt. Wir verurteilen sie nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen."


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Die Geschichte des § 175 des deutschen StGB beginnt im Jahre 1871. Seinerzeit wurden explizite homosexuelle Handlungen und Sodomie unter diese Strafnorm subsumiert.
Die Geschichte des § 175 des deutschen StGB beginnt im Jahre 1871. Seinerzeit wurden explizite homosexuelle Handlungen und Sodomie unter diese Strafnorm subsumiert.
In seiner Fassung vom 01.09.1935 erfuhr der Paragraph durch die Nationalsozialisten eine Verschärfung, welche nunmehr alle denkbaren homosexuellen Handlungen unter Strafe stellte. Es folgten weitere Anpassungen in den Jahren 1941 und 1949 (in der BRD: Übernahme des bereits 1935 formulierten Gesetzes). Im Jahre 1969 fiel das „Totalverbot“ von Homosexualität mit der Einführung von Schutzaltern für Jungen (21 Jahre) und Mädchen (14 Jahre). Dieses Schutzalter wurde, im Jahre 1973, für Jungen auf 18 Jahre herabgesetzt. Erst am 10.06.1994 wurde das Gesetz (auf dem Gebiet der alten Bundesländer) gestrichen. Als das zur Legitimation der Strafnorm angeführte Schutzgut wurde stets die „Volksgesundheit“, bzw. ab 1973 die „ungestörte sexuelle Entwicklung des männlichen Jugendlichen“ herangezogen. Neben dieser legitimatorischen Begründung bestand (historisch betrachtet) stets auch die Absicht der Sicherstellung eines Nachwuchses zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit des Landes. Doch bereits die seit 1970 sinkenden Verurteilungszahlen bildeten den Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen trefflich ab. Schließlich reagierte der Gesetzgeber mit Streichung des Gesetzes. So veranschaulicht der § 175 StGB, wie zwischenzeitlich inkriminiertes Verhalten schließlich wieder zu legalem Handeln metamorphosiert und wie gesellschaftliche Prozesse - wie Säkularisierung, Aufklärung und Toleranz - dies ermöglichen.
In seiner Fassung vom 01.09.1935 erfuhr der Paragraph durch die Nationalsozialisten eine Verschärfung, welche nunmehr alle denkbaren homosexuellen Handlungen unter Strafe stellte. Es folgten weitere Anpassungen in den Jahren 1941 und 1949 (in der BRD: Übernahme des bereits 1935 formulierten Gesetzes). Im Jahre 1969 fiel das „Totalverbot“ von Homosexualität mit der Einführung von Schutzaltern für Jungen (21 Jahre) und Mädchen (14 Jahre). Dieses Schutzalter wurde, im Jahre 1973, für Jungen auf 18 Jahre herabgesetzt. Erst am 10.06.1994 wurde das Gesetz (auf dem Gebiet der alten Bundesländer) gestrichen. Als das zur Legitimation der Strafnorm angeführte Schutzgut wurde stets die „Volksgesundheit“, bzw. ab 1973 die „ungestörte sexuelle Entwicklung des männlichen Jugendlichen“ herangezogen. Neben dieser legitimatorischen Begründung bestand (historisch betrachtet) stets auch die Absicht der Sicherstellung eines Nachwuchses zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit des Landes (vgl. Henner Hess / Johannes Stehr, 1987, S. 42) (Siehe auch unter [http://de.wikipedia.org/wiki/Bev%C3%B6lkerung "Peuplierung"].). Doch bereits die seit 1970 sinkenden Verurteilungszahlen bildeten den Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen trefflich ab. Schließlich reagierte der Gesetzgeber mit Streichung des Gesetzes. So veranschaulicht der § 175 StGB, wie zwischenzeitlich inkriminiertes Verhalten schließlich wieder zu legalem Handeln metamorphosiert und wie gesellschaftliche Prozesse - wie Säkularisierung, Aufklärung und Toleranz - dies ermöglichen.


=== 4.2 Weitere Beispiele ===
=== 4.2 Weitere Beispiele ===
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* Lemma "[[Kriminalisierung]]"
* Lemma "[[Kriminalisierung]]"
* Lemma "[[Normvalidierung]]"


== Weblinks ==
== Weblinks ==
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WBMA Kriminologie 2009/10, Prüfungsleistung Modul 1
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