Nils Christie

Der norwegische Kriminologe Nils Christie (* 24. Februar 1928 in Oslo; † 27. Mai 2015 in Oslo), der zusammen mit Thomas Mathiesen und Louk Hulsman zu den führenden Vertretern des Abolitionismus gezählt wird, wurde durch seine Kritik am Strafprozess, an der Kriminalstrafre und am us-amerikanischen Gefängnissystem bekannt, setzte sich darüber hinaus aber auch mit der Institution Schule und mit dem Umgang mit Behinderten auseinander.

Leben

 
Nils Christie

Im Kontext der Aufarbeitung der norwegischen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht führte der Soziologiestudent Nils Christie im Auftrag von Johs Andenaes und dem Generalstaatsanwalt Andreas Aulie Gespräche mit ehemaligen Aufsehern eines nord-norwegischen Konzentrationslagers für jugoslawische Gefangene. Er fand heraus, dass die Aufseher, anders als damals dargestellt, keine Monster gewesen seien, sondern gewöhnliche Menschen "wie wir".

The Germans had created concentration-camps up in Northern Norway. They were for Yugoslavian partisans. 2717 arrived during the summer 1942. The first winter in Norway, 1747 were killed by the guards or died due to sickness, starvation or the extreme winter. 363 Norwegians served as guards, 47 were after the war sentenced for killing or maltreatment of the prisoners. I had long talks with nearly all of these 47 Norwegian guards and with a sample of guards who had been in the same external situation without later being sentenced for having killed or maltreated prisoners. But I did not find any monsters, just ordinary people. I think I was able to explain some of the mechanisms that made killing possible, but concluded with a statement that I felt far from certain which group I would have ended up in myself, if I, at the age of 17, had been up there as a guard with gun in hand and surrounded with humans whom I did not see as such.

Nach seinem Soziologiestudium in Oslo ging Christie als Research Fellow mit einem Rockefeller-Stipendium nach Harvard und Berkeley. Zu einer späteren Gelegenheit kehrte er als Lehrender nach Berkeley zurück.

Seit den 60er Jahren unterhält Nils Christie einen engen Kontakt zu den Camphill-Gemeinschaften in Norwegen, insbesondere zu Vidarasen. Die Erfahrungen seiner Aufenthalte in Vidarasen werden wiederholt Bestandteil seiner Schriften und Vorträge, auch in Vidarasen selbst. Die soziale Organisation u.a. in diesen Gemeinschaften dient ihm als Vorbild im Umgang mit abweichendem Verhalten.

Nils Christie erhielt Ehrendoktortitel an den Universitäten Kopenhagen, Stockholm und Sheffield.

 
Nils Christie in seinem Arbeitszimmer

Werk

Nils Christie veröffentlichte eine Vielzahl wissenschaftlicher Artikel und mehr als zehn Bücher, einige in vielen Sprachen erhältlich. Ein Großteil seiner Schriften widmet sich der Thematik Kriminalität und der Kriminalitätskontrolle, aber er hat auch Bücher über Erziehung und das Bildungssystem, Drogenkontrolle sowie über alternative Gemeinschaftsformen für Menschen mit Handycaps (Christie: Jenseits von Einsamkeit und Entfremdung, 2007) verfasst. Nationale und internationale Aufmerksamkeit erlangte Nils Christie durch seine kritische und radikale Positionierung hinsichtlich der Institutionen der Strafrechtspflege (Strafe, Strafrecht, Strafprozess und Strafvollzug), die dem (damalig) wissenschaftlichen Mainstream im Umgang mit Kriminalität und Kriminalitätskontrolle nicht nur gegenläufig gegenüber stand, sondern das Selbstverständnis der Kriminologie und der Kriminalpolitik grundsätzlich hinterfragt.

Gegenüber den Fragen der Gerechtigkeit und der Herstellung von Gerechtigkeit positioniert sich Nils Christie gemäß seiner grundsätzlichen Lebenseinstellung in kantischen Moralvorstellungen. Im Selbstverständnis eines „moralistischen Imperialisten“ (vgl. Christie: Grenzen des Leids, 1995a, S.21) fühlt er sich und die Gesellschaft den Grundprinzipien der Humanität und Nachsicht verpflichtet und setzt sich für eine Abkehr von utilitaristischem Strafen als absichtliche Zufügung von Leid ein (Christie,1995a).

Ein unverkennbares Merkmal seiner Vorträge und Schriften ist der weitestgehende Verzicht auf wissenschaftliche Sprache. Mit zahlreichen Anekdoten, Beispielen aber auch Schaubildern angereichert zielen seine Überlegungen nicht nur auf die exklusive Öffentlichkeit der Fachexperten, sondern sollen für alle interessierten Gesellschaftsmitglieder zugänglich sein.

Kriminalität existiert nicht, so Christie’s Hauptthese. Kriminalität ist eine Bedeutungszuschreibung für unerwünschtes Handeln, die Maßnahmen der Kontrolle, Sanktionierung und/oder Behandlung legitimiert und informelle Regulierungskompetenzen ihrer Bedeutung und Verantwortung enthebt. Mit zunehmender räumlicher, zeitlicher und sozialer Segmentierung der westlichen hochindustrialisierten Gesellschaften sowie dem Bedeutungsverlust sozialer Bindungen und gegenseitiger Verantwortung nehmen der Grad der Entfremdung, die Dämonisierung von abweichenden Verhalten und der Gebrauch des Kriminalitätskonzepts zu. Die Wahrnehmung und Bewertung der unteren Schichten als „gefährliche Klassen“, als Bedrohung des Wohlstandes, erlebt vor dem Hintergrund der erweiterten Macht des kapitalistischen Marktes und der Ökonomisierung der Politik und des Sozialen, verbunden mit ansteigender Divergenz in der Verteilung des Besitzes, eine Renaissance. Feindbilder sowie punitive und exkludierende Forderungen steigen in Ermangelung emotionaler Ausdrucksmöglichkeiten und aufgrund der fehlenden Verwertbarkeit der Beschäftigungslosen an. Die Institutionen der Strafrechtspflege, so Christies Beobachtung, passen sich den wechselnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen hochindustrialisierter Staaten an und begründen sich nicht auf dem Ideal der Humanität. Diese Entwicklungen gilt es zu begrenzen (Christie: Kriminalitätskontrolle als Industrie, 1995b).

Christie plädiert für alternative Formen der Konfliktlösung, die sich nicht auf der Anwendung des Kriminalitätskonzepts und der absichtlichen Zufügung von Leid begründen, sondern unerwünschtes Verhalten als Interessenskonflikt und Chance zur Klärung von Werten begreifen. Christies Position ist nicht die einer vollständigen Abschaffung der Institutionen der Strafrechtspflege, sondern ein Minimalismus, der "horizontale Gerechtigkeit" im Sinne der Streitschlichtung (Restorative Justice) unter Gleichberechtigten vorzieht und die "vertikale Gerechtigkeit" der Strafe nur im Notfall vorsieht (vgl. Christie, 1995a und Christie, 2005).

 
Nils Christie beim Skifahren

Veröffentlichungen von Nils Christie

Bibliografien

  • Nils Christie Bibliografi 1952-1999
  • Sundbø, Svein (1999) "Nils Christie: en kronologisk bibliografi over forfatterskapet 1945-1999". Oslo: Nasjonalbiblioteket. Nasjonalbibliotekets bibliografier, nr 1.

Bücher und Aufsätze

  • Christie, Nils (1952): Fangevoktere i konsentrasjonsleire/ Guards in concentration camps/ Nordisk Tidssdrift for Kriminalvidenskab, S. 439- 458; Vol.40, 1952 og Vol.41 1952 s.44-60. re-edited: 1972
  • Christie, Nils: Tvangsarbeid og alkoholbruk. /Forced labour and use of alcohol/ Universitetsforlaget Oslo 1960, 106 s.
  • Christie, Nils: Hvis skolen ikke fantes. En studie i skolens sosiologi /If the school did not exist/ Universitetsforlaget Oslo 1971, 157 s. German edition: Wenn es die Schule nicht gäbe. Ketzerisches zur Schulreform, München 1974. Paul List
  • Christie, Nils: Hvor tett et samfunn? /How tightly knit a society?/ Oslo/Copenhagen 1973, new and enlarged edition 1982,208 p. Universitetsforlaget-Ejlers forlag.
  • Christie, Nils og Kettil Bruun: Den gode fiende. Narkotikapolitikk i Norden. /The useful enemy. Drug-policy in the Nordic countries./ Universitetsforlaget, Ejlers. Oslo/Copenhagen 1985, new and enlarged edition 1995 2.. p. Also in German; Der nützliche Feind. Die Drogenpolitik und ihre Nutzniesser. 1991 Bielenfeld AJZ.
  • Christie, Nils: Beyond loneliness and institutions. Communes for extraordinary people. Oslo 1989, 114 p. Norwegian Univ.Press.
  • Christie, Nils Crime Control as Industry. Towards GULAGS, Western Style? London and New York, 1993, 192 p. Enlarged edition 1994 Routledge
  • Christie, Nils - A.:Sosial kontroll./Social control/ pp. 87-95 in: Høigård, Cecilie og Liv Finstad, (ed):Kriminologi.Oslo 1996 Pax.
  • Christie, Nils.- B: Kriminologi. /Criminology/ pp. 340-347 In Boe, Erik (ed): Veien mot retsstudiet. Oslo 1996 Tano-Aschehoug.
  • Christie, Nils (1983): Die versteckte Botschaft des Neo- Klassizismus. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S.14-33
  • Christie, Nils (2007): Restorative Justice – Answers to deficits in modernity?, Festschrift for Stan Cohen, in: Downes/ Rock/ Chinkin and Gearty (Hg.): Crime, Social Control and Human Rights, Willan Publishing, S.368- 378
  • Christie, Nils (2009a): Restorative Justice. Five dangers ahead, in: Knepper/ Doak and Shapland (Hg.): Urban Crime Prevention, Surveillance and Restorative Justice, CRC Press, S.195- 204
  • Christie, Nils (1991): Der nützliche Feind. Die Drogenpolitik und ihre Nutznießer, AJZ, Bielefeld
  • Christie, Nils (2007) Limits to Pain: The Role of Punishment in Penal Policy. Wipf and Stock.
  • Christie, Nils (2007): Jenseits von Einsamkeit und Entfremdung. Gemeinschaften für außergewöhnliche Menschen, Verlag Freies Geistesleben
  • Christie, Nils (2009) Restorative Justice: Five Dangers Ahead. In: Paul Knepper, Jonathan Doak, and Joanna Shapland, eds., Urban Crime Prevention, Surveillance, and Restorative Justice. Effects of Social Technologies. CRC Press: 195-203.

Eine ausführliche Übersicht befindet sich auf der Homepage von Nils Christie: http://folk.uio.no/christie/

Über Nils Christie

  • von Trotha, Trutz (1983): Limits to Pain. Diskussionsbeitrag zu einer Abhandlung von Nils Christie. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 34- 53
  • Böllinger, Lorenz (1983): Limits to Pain. Eine psychosoziale Perspektive. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 54- 56
  • von Hirsch, Andrew (1983): Limits to Pain. Eine (ziemlich) neoklassische Perspektive. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 57- 60
  • Lindenberg, Michael (1997):Kriminalitätskontrolle als Industrie.Diskussionsbeitrag zu einer Abhandlung von Nils Christie, in: Kriminologisches Journal, Heft 1/1997, S. 62- 67
  • Kiesow, Rainer Maria (2005) Verbrechen gibt es nicht. Nils Christie heilt die Welt mit Freundlichkeit. Süddeutsche Zeitung v. 29. Juli

Interviews mit und Artikel über Nils Christie


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Weblinks


Answers to Atrocities. With an introduction by E. Fattah and S. Parmentier. Leuven, Belgium: Leuven University Press. It is rather simple and straightforward to propose mediation and restoration for small harms, such as against property. It is distinctly more complex and difficult to propose such responses to crimes of violence against people. Nils Christie, however, goes even further to raise the question of restorative, rather than punitive, responses to extreme harms, such as those from World War II and later horrors. To indicate the multitude of possibilities, he suggests a range or scale of potential answers: total amnesia; silence; truth-seeking; punishment; restoration; and amnesty. In the course of discussing each of these possibilities, he also reflects on the prevention of atrocities and international penal courts

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