Naikan

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Naikan (japanisch NAI = Inneres und KAN = Beobachten; Naikan = Innenschau) ist eine Methode der Selbsterkenntnis auf der Grundlage einer stillen und intensiven Betrachtung der eigenen Lebensgeschichte, die in Deutschland u.a. auch im Strafvollzug praktiziert wird. In Japan, wo rund 40 Naikan Zentren existieren, wird diese Methode außer im Strafvollzug auch in Schulen, im Geschäftsleben und in der Suchtbehandlung angewandt. Die Methode, die ihre Ursprünge im japanischen Jodo Shinshu Buddhismus hat, wird auch in manchen Tempeln und Gemeinschaften dieser Sekte praktiziert, wobei die drei Naikan-Fragen auch durch eine Reflexion bestimmter religiöser Texte ersetzt werden können.

Ursprung

Naikan wurde in den 1950er Jahren von dem buddhistischen Geschäftsmann Yoshimoto Ishin(1916-1988), einem Mitglied der Jodo Shinshu Sekte. Seine Absicht war es, die Introspektion, die ihm durch die anstrengende und komplizierte Meditationsmethode mishirabe ermöglicht worden war, einem weiteren Kreis von Personen zugänglich zu machen. Er führte die Methode im japanischen Strafvollzug ein. Nach einer Evaluationsstudie von Akira Ishii aus den 1980er Jahren wiesen Naikan-Teilnehmer eine um rund ein Viertel niedrigere Rückfallquote als Nicht-Naikan-Teilnehmer auf (Müller-Ebling 2008: 184).

Methode

Drei Fragen strukturieren den Prozess:

  • "Was hat mir ein bestimmter Mensch Gutes getan?
  • Was habe ich diesem Menschen Gutes getan?
  • Welche Schwierigkeiten habe ich dieser Person bereitet?

Diese Fragen werden innerlich, in der Stille, beantwortet. Begonnen wird mit der Mutter, für jeweils aufeinanderfolgende Lebensabschnitte von etwa fünf Jahren. Dabei wird das gesamtes Leben mit der Mutter betrachtet, von der Geburt bis zur letzten Erinnerung. Dies wird mit allen wichtigen Bezugspersonen wiederholt. Der Naikan-Leiter kommt in regelmäßigen Abständen an den Platz und begleitet den Naikan-Praktizierenden bei dieser besonderen Schau der Vergangenheit.

Dabei geht es in der

  • 1.Frage um die Beziehungen (zur Mutter, zum Vater,..)
  • 2.Frage um das Miteinander im Tun mit der entsprechenden Bezugsperson. Hier tritt eine erste Beschämung auf: Ich habe für sie nichts oder wenig gemacht...
  • 3.Frage um die soziale Verantwortung, das ist meist schmerzhaft und spricht das Ehr- u Schamgefühl an. Oft kommt es dann zu Tränen. Sie führt dann dazu, aktiv die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Sie lehrt, sich selbst von außen zu sehen. Und wenn ich das kann, dann beziehe ich das auch auf andere Menschen und kann mich in sie hineinversetzen. Eine Stärkung der sozialen Kompetenz ist die Folge.

Claudia Müller-Ebeling (2008: 184) schreibt zu den Zielen von Naikan-Übungen: "Diesesr Prozess der Innenschau bewirkt eine Veränderung der eigenen Perspektive. Man erkennt die Tragweite der Selbstverantwortung und wie sehr man tatsächlich seines eigenen Glückes Schmied ist. Die Konzentration auf diese drei Fragen und das Fehlen der vierten Frage 'Welche Schwierigkeiten haben andere mir bereitet?', die normalerweise unseren inneren Monolog beherrscht, führen dazu, dass man sich als Handlender und nicht als Opfer wahrnimmt."

Naikan beruht auf der Idee, dass wir unsere Persönlichkeit und Sicht der Welt selbst erschaffen haben, und damit auch viele unserer Blockaden und Konflikte. Naikan soll eine Möglichkeit bieten, die eigene Vergangenheit, andere Menschen und sich selbst in neuem Licht zu sehen. Naikan hat nicht zum Ziel, die Persönlichkeit zu verändern. Es gibt im Naikan keinen Therapeuten, keine Interpretationen, keine Kommentare, und es finden weder Dialoge noch Gruppenprozesse statt. Alles, was geübt wird, ist eine neue Wahrnehmung, die alte Blockaden und Beziehungsmuster auflösen soll.

Erinnert werden sollen nur tatsächliche Ereignisse - alle Meinungen, Wertungen und Interpretationen werden beiseite gelassen. Die Fragen klingen einfach, doch sie sollen tief in die innere Erlebniswelt führen und nach und nach ihre Wirkung entfalten.

Im Naikan werden nicht die Probleme betrachtet, sondern es wird versucht, Lösungen zu erfinden. Diese sollen darin bestehen, das Erlebte anders zu betrachten und soll im psychischen und spirituellen Sinn heilsam und erfüllend wirken. Am Beginn steht eine besondere, intensive Versöhnung mit den Eltern und anderen Angehörigen. Die Naikan-Erfahrung weitet sich aus zu den Beziehungen zu Menschen und Dingen unseres Alltags. Die Wahrnehmung der Welt soll sich verändern.


Probleme

Der Befürchtung, dass die durch Naikan erzeugten Schamgefühle Schuldkomplexe hervorrufen und das Selbstwertgefühl der Praktizierenden ruinieren könnte, halten Naikan Lehrer entgegen, dass solche Vorstellungen aus "westlichen" Vorstellungen vom "Selbst" stammten, die sich grundsätzlich von buddhistischen Vorstellungen vom Selbst unterschieden.

Der Fokus auf den Familien-Beziehungen im traditionellen Naikan ist bei Personen mit fragmentierten oder ausgesprochen dysfunktionalen Familienhintergründen nicht so angemessen. Es gibt allerdings auch - wie in der buddhistischen metta meditation (mettā bhāvanā) - keine dringende Notwendigkeit, unbedingt mit den Familienbeziehungen als Ausgangspunkt zu beginnen. Der Nutzen der Betrachtung der Familienbeziehungen liegt nur eben meist darin, dass diese oft emotional ausgesrpochen komplex und stark mit unserer "Selbst"-Wahrnehmung verbunden sind.

Naikan im deutschen Strafvollzug

Das erste deutsche Naikan-Zentrum wurde von Gerald Steinke in Tarmstedt bei Bremen gegründet. In Deutschland wird Naikan seit 2001 in 10 Haftanstalten angeboten. "In der JVA Braunschweig wurde sogar ein Anstalten übergreifendes Naikanzentrum mit sechs Plätzen eingerichtet, wo die Teilnehmer sieben Tage von 06.00 bis 21.00 Uhr Naikan üben und auf sämtliche Ablenkungen von außen verzichten. Über 300 Gefangene nahmen bislang an diesen Schweigeseminaren teil. Selbst hartgesottene Straftäter werden sich hierbei ihrer Taten bewusst und konfrontieren sich mit den Auswirkungen auf ihre Opfer" (Müller-Ebeling 2008: 183).

Literatur

  • Bölter, Detlev (2004) Drei Fragen, die die Welt verändern. Bielefeld: Kamphausen.
  • Krech, Gregg (2003)Die Kraft der Dankbarkeit. Berlin: Theseus
  • Müller-Ebeling, Claudia (2004) Naikan Praxisbuch. Bielefeld: Kamphausen.
  • Müller-Ebeling, Claudia (2008) Naikan - neue Wege im Justizvollzug. Forum Strafvollzug 57. Heft 4: 183-185.
  • Steinke, Gerald/Claudia Müller-Ebeling (2003) "Naikan - Versöhnung mit sich selbst".