Moralstatistik: Unterschied zwischen den Versionen

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In Anlehnung an die Himmelsmechanik und die Wahrscheinlichkeitstheorie des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace entwickelte Quetelet die "Soziale Physik". Laplace, der den gesammten "Weltmechanismus" auf eine mathematische Formel zu reduzieren hoffte, um alle Zukunftsereignisse vorhersehbar zu machen, inspirierte Quetelet zu seiner Figur des "l`homme moyen", dem berechenbaren Durchschnittsmenschen.[5] Hierunter versteht Quetelet das"Ideal" eines fiktiven Wesens, welches sich aus der Summe der Individuen einer Gesellschaft ergibt, die durch die "große Zahl" der Messungen ihrer Individualität entkleidet sind. Die Idee des "Quetelet-Index" oder "Body Mass Index" wird heute noch bei der Berechnung des "Idealgewichtes" angewandt.
In Anlehnung an die Himmelsmechanik und die Wahrscheinlichkeitstheorie des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace entwickelte Quetelet die "Soziale Physik". Laplace, der den gesammten "Weltmechanismus" auf eine mathematische Formel zu reduzieren hoffte, um alle Zukunftsereignisse vorhersehbar zu machen, inspirierte Quetelet zu seiner Figur des "l`homme moyen", dem berechenbaren Durchschnittsmenschen.[5] Hierunter versteht Quetelet das"Ideal" eines fiktiven Wesens, welches sich aus der Summe der Individuen einer Gesellschaft ergibt, die durch die "große Zahl" der Messungen ihrer Individualität entkleidet sind. Die Idee des "Quetelet-Index" oder "Body Mass Index" wird heute noch bei der Berechnung des "Idealgewichtes" angewandt.


==Quetelet`s "physique sociale" - das "Prinzip der großen Zahl":==                    [[Bild:images.jpg]]
==Quetelet`s "physique sociale" - das "Prinzip der großen Zahl"==                    [[Bild:images.jpg]]
Zum eigentlichen Begründer der Sozialstatistik ebenso wie der Kriminalsoziologie ist zweifellos Quetelet durch seine wesentlich umfassendere Betrachtungsweise geworden, die das gesammte Gesellschaftsleben einbezieht.
Zum eigentlichen Begründer der Sozialstatistik ebenso wie der Kriminalsoziologie ist zweifellos Quetelet durch seine wesentlich umfassendere Betrachtungsweise geworden, die das gesammte Gesellschaftsleben einbezieht.
In seiner 1835 erschienenen "physique sociale" beschreibt Quetelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens:
In seiner 1835 erschienenen "physique sociale" beschreibt Quetelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens:

Aktuelle Version vom 13. Februar 2013, 21:05 Uhr

Definition:

Statistik (Lehre von status, State) heißt die mathematische Darstellung der in einem Staate, einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit bestehenden sozialen Verhältnisse, im weiteren Sinne die zahlenmäßige Darstellung einer Gesetzmäßigkeit aus einer Reihe von Fällen überhaupt.[1] Das Wort Statik stammt vom lateinischen "statisticum" ("den Staat betreffend") und dem italienischen "statista" ("Staatsmann" oder "Politiker"). Den Begriff der "statistique morale" wendete als erster Andre-Michel Guerry bereits 1833 in seinem "Essai sur la statistique morale de la France" an. Moralstatistische Darstellungen konnten sich auf schier alle Handlungsweisen des Menschen beziehen, in denen eine soziale Dimension vermutet wurde. Der Begriff "Moral" stand somit synonym für "sozial".[2]

Einbettung der Moralstatistik in den wissenschaftlichen Zeitgeist:

Die Moralstatistik nahm ihren epochemachenden Aufschwung seit 1825 mit den Arbeiten von Michel Guerry (1802-1866) und Adolphe Quetelet(1796-1874).[3] Viel deutlicher als bei Guerry lässt sich in den Werken von Quetelet die geistesgeschichtliche Entwicklung aufzeigen, die vom englischen Empirismus und Newtons exakter Naturwissenschaft zur Sozialstatistik als Grundlage einer nicht minder exakten Gesellschaftslehre hinführt.[4] In Anlehnung an die Himmelsmechanik und die Wahrscheinlichkeitstheorie des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace entwickelte Quetelet die "Soziale Physik". Laplace, der den gesammten "Weltmechanismus" auf eine mathematische Formel zu reduzieren hoffte, um alle Zukunftsereignisse vorhersehbar zu machen, inspirierte Quetelet zu seiner Figur des "l`homme moyen", dem berechenbaren Durchschnittsmenschen.[5] Hierunter versteht Quetelet das"Ideal" eines fiktiven Wesens, welches sich aus der Summe der Individuen einer Gesellschaft ergibt, die durch die "große Zahl" der Messungen ihrer Individualität entkleidet sind. Die Idee des "Quetelet-Index" oder "Body Mass Index" wird heute noch bei der Berechnung des "Idealgewichtes" angewandt.

==Quetelet`s "physique sociale" - das "Prinzip der großen Zahl"== Images.jpg Zum eigentlichen Begründer der Sozialstatistik ebenso wie der Kriminalsoziologie ist zweifellos Quetelet durch seine wesentlich umfassendere Betrachtungsweise geworden, die das gesammte Gesellschaftsleben einbezieht. In seiner 1835 erschienenen "physique sociale" beschreibt Quetelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens: "Vor allem müssen wir vom einzelnen Menschen abstrahieren und dürfen ihn nur mehr als Bruchteil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir all das, was nur zufällig ist, die individuellen Besonderheiten, die wenig oder keinen Einfluß auf die Masse haben, verschwinden dann von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen."[6] "Mit den sozialen Fähigkeiten steht es(...) ungefähr ebenso wie mit den physischen, und man kann sie unter der Voraussetzung schätzen, dass sie im Verhältnis zu ihren Wirkungen stehen."[7] In seinem "system social" von 1848 fügt Quetelet dieser "physique sociale" Umrisse einer "physiologie sociale" hinzu. Er versucht aufzuzeigen, dass die "loi des causes accidentales" nicht nur das Individuum, die Entwicklung seiner physischen, geistigen und moralischen Kräfte beherrscht, sondern auch den Entwicklungsgang ganzer Völker und schließlich der gesammten Menschheit. Größe, Bevölkerungszahl und Lebensdauer von Staatsgebilden unterliegen ebenso strengen , wenn auch nicht unabänderlichen Gesetzmäßigkeiten wie die geistigen und moralischen Kräfte der Völker. In deren Entwicklungsgang sei, analog zur geistigen Entwicklung des Einzelmenschen, eine fortschreitende Zurückdrängung des "homme physique" durch den "homme intellectuell" zu erkennen .[8] Eine zentrale Stellung in dem gesammten Lebenswerk nimmt seine frühe, seit 1829 unermüdlich wiederholte Feststellung einer erstaunlichen Regelmäßigkeit und Konstanz in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen ein. In dieser Konstanz enthüllen sich Quetelet die strengen Gesetzmäßigkeiten, die auch den moralischen Phänomenen zu Grunde liegen, ganz unmittelbar. Auf dieser Entdeckung ruht das gesammte Gebäude seiner mechanischen Weltanschauung. Diese Entdeckung bildet das empirische Fundament einer grundsätzlich soziologisch orientierten Kriminalwissenschaft.[9] Quetelet erkannte, dass die Abstraktion zahlreicher individueller Besonderheiten zu einer erstaunlichen Regelmäßigkeit in der Gesellschaft führt. Deshalb fordert er die Beobachtung an einer hinreichend großen Zahl von Fällen durchzuführen. Erst unter dieser Voraussetzung lasse sich das rein zufällige und individuelle vom allgemeinen und daher sozialtypischen unterscheiden.[10] Aus der Anwendung seiner Erkenntnisse auf das Verbrechen entwickelte Quetelet die Idee des Verbrechensbudgets. Er stellte fest, dass die Zahl der Verbrechen in jedem Jahr nahezu gleich blieben. Die Idee Quetelet`s finden noch heute ihren Ausdruck in der Kriminalstatistik.

Ziele der Moralstatistik:

Quetelet will die Statistik in den Rang einer wirklichen Sozialwissenschaft erheben, die durch die Erforschung der Ursachen auch zur Erkenntnis zukünftiger Entwicklungen beiträgt.[11] Es war sein Anliegen dem Staat statistisches Material zu liefern, welches diesen in die Lage versetzt soziale Phänomene zu steuern. Insbesondere die Verbrechensbekämpfung war ein zentrales Anliegen von Quetelet: "Da die Verbrechen, die sich jährlich ereignen, das notwendige Resultat unserer sozialen Organisation zu sein scheinen, und da ihre Zahl sich nicht verringern kann, ohne dass ihre Ursachen vorher verändert werden, so ist es Sache des Gesetzgebers, diese Ursachen zu erkennen und sie soweit wie möglich zu beheben."[12] Es ist die Gesellschaft selbst, die das Verbrechen hervorbringt.[13]

Widerspruch der Idee einer abstrakten, naturgesetzlichen Kausalität und realen gesellschaftlichen Bedingungen:

Quetelet glaubte, dass dem "Prinzip der großen Zahl" ein noch nicht entdecktes mechanisches Naturgesetz zugrunde liegt: "Aber welche Hand wird den Schleier lüften, der geworfen ist über die Geheimnisse unserer sozialen Systeme und über die ewigen Grundsätze, die ihre Geschicke regeln und ihre Erhaltung sichern? Wann wird ein anderer Newton kommen, uns die Gesetze der anderen Himmelsmechanik enthüllen?"[14] Dem entgegen zeigt Quetelet ebenso wie Guerry reale Bezüge zwischen gesellschaftlichen Gegebenheiten und Ergebnissen moralstatistischer Untersuchungen auf. Den alljährlichen Anstieg der Sexualdelikte und der Körperverletzungen in den Sommermonaten führt Guerry auf die Tageslänge zurück. Einen entgegen gesetzten Einfluss der Jahreszeiten spiegele die Kurve der Vermögensdelikte wieder.[15] Einen günstigen Einfluss erkannte Guerry auch in der moralischen Bildung.[16] Ebenso Quetelet: Bildungsmangel begünstige vor allem Vermögensverbrechen, doch sei das Schwergewicht auf die moralische Unterweisung der Menschen zu legen, da bloße Schulkenntnisse oft nichts anderes seien als zusätzliche Werkzeuge zur Verbrechensbegehung.[17])

Determinismus menschlichen Handelns:

Die Abhängigkeit des menschlichen Handelns von "naturgesetzlichen Kausalfaktoren" hat ebenso wie der Zwang gesellschaftlicher Bedingungen die Frage nach der Determinierung des menschlichen Willens/Verhaltens aufgeworfen. Die Freiheit des menschlichen Willens, die Quetelet nicht leugnet, spielt für ihn im Bereich der moralischen Phänomene nur die Rolle einer cause accidentelle, deren zufällig gestreute Wirkungen sich gegenseitig neutralisieren, um damit die wahren Gesetzmäßigkeiten hervortreten zu lassen.[18] Quetelet vertrat einen gemäßigten Determinismus. Er hat nie an den Determinismus des Einzelwillens geglaubt. Der Wille des Einzelnen sei "sehr spürbar für das Individuum", aber er habe "keine taxierbare Wirkung auf den Gesellschaftskörper, wo alle individuellen Besonderheiten sich ausgleichen."[19] Der Einzelmensch "kann sich wenn er alle geistigen Kräfte einsetzt, in einem gewissen Umfang über die von außen auf ihn wirkenden Ursachen erheben, ihre Wirkungen abändern und danach streben, sich allmählich auf eine höhere sittliche Stufe hinaufzuläutern."[20]

Anmerkungen:

  • [1] Eisler, Rudolf:Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 1, Berlin 1927*
  • [2] Kern, Horst: Empirische Sozialforschung, München 1982, S. 37*
  • [3] Mechler, Achim: Studien zur Geschichte der Kriminalsoziologie, Göttingen 1970, S. 9*
  • [4] ebenda S. 18*
  • [5] Quetelet, Adolphe: Soziale Physik oder Abhandlung der Fähigkeiten des Menschen, Jena 1914 S. 103*
  • [6] Ebenda*
  • [7] Ebenda S. 141*
  • [8] Quetelet, Adolphe: Du system social et des loi qui le regissènt, p.IX, in Mechler,A.,a.a.O., S. 24*
  • [9] Mechler, A., a.a.O., S. 29*
  • [10]Kern, Horst, a.a.O., S. 42*
  • [11]Quetelet, Adolfe: Lettres su la theorie des prohabalites, p. 17, in: Mechler, A, a.a.O., S. 23*
  • [12]Quetelet, Adolfe: Sur la possibilite´de mesurer l`influence des causes qui modifient les elements sociau, lettre a`M. Villerme´, in: Correspondance mathem. et phys. 7,321-346(1832), in: Mechler,A., a.a.O. S. 33*
  • [13]Quetelet, Adolphe: physique sociale I, p. 97, in: Mechler,A., S.33*
  • [14]Quetelet, Adolfe: Lettres su la theorie des prohibalites, p. 17, in: Mechle,A. a.a.O., S. 24*
  • [15]Mechler,A., a.a.O., S. 13*
  • [16]Ebenda, S. 15*
  • [17]Quetelet, Adolphe: physique sociale II, p. 315, in: Mechler,A., a.a.O., S. 26*
  • [18]Quetelet, Adolphe: physique sociale, p. 70, in: Mechler,A., a.a.O., S. 32*
  • [19]Quetelet, Adolphe: Sur la statistique morale, p. 38, in: Mechler,A., a.a.O., S. 34*
  • [20]Quetelet, Adolphe: physique sociale, p. 99, in: Mechler,A., a.a.O., S. 53*

Literaturverzeichnis:

  • Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 1, Berlin 1927*
  • Kern, Horst: Empirische Sozialforschung, München 1982*
  • Mechler, Achim: Studien zur Geschichte der Kriminalsoziologie; Göttingen 1970*
  • Quetelet, Adolphe: Soziale Physik oder Abhandlung der Fähigkeiten des Menschen, Jena 1914*