Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
(Die Seite wurde neu angelegt: „=== Definition === Erstmals hat der amerikanische Arzt Roy Meadow im Jahr 1977 über das Münchhausen Stellvertreter- Syndrom (MSS) berichtet (vgl. Viciano 200…“)
 
 
Zeile 15: Zeile 15:
Die Identifizierung der Krankheit ist, auch in Abgrenzung zu „reinen“ Misshandlungen,  aufgrund der subtilen Herführungsweise und den verdeckten Aktivitäten sehr schwierig.
Die Identifizierung der Krankheit ist, auch in Abgrenzung zu „reinen“ Misshandlungen,  aufgrund der subtilen Herführungsweise und den verdeckten Aktivitäten sehr schwierig.
   
   
Verortung der Krankheit
=== Verortung der Krankheit ===
Besonders in der englischsprachigen Literatur wird viel darüber diskutiert, ist, welchem medizinischen Fachgebiet das MSS angehören sollte. Einige Autoren heben die psychiatrische Störung hervor, die dementsprechend der Mutter zugeschrieben wird (vgl. Schreier 2002: 538; vgl. Morrell & Tilley 2012: 328), die meisten Autoren jedoch beschreiben mit dem MSS die Misshandlungen, welche das Kind durch die Handlungen der Mutter/ des Vaters erfährt und stellen eine pädiatrische Diagnose (vgl. Meadow 2002: 501; Faust o.J.:2).
Besonders in der englischsprachigen Literatur wird viel darüber diskutiert, ist, welchem medizinischen Fachgebiet das MSS angehören sollte. Einige Autoren heben die psychiatrische Störung hervor, die dementsprechend der Mutter zugeschrieben wird (vgl. Schreier 2002: 538; vgl. Morrell & Tilley 2012: 328), die meisten Autoren jedoch beschreiben mit dem MSS die Misshandlungen, welche das Kind durch die Handlungen der Mutter/ des Vaters erfährt und stellen eine pädiatrische Diagnose (vgl. Meadow 2002: 501; Faust o.J.:2).
Es ist statistisch nicht zu erfassen, wie häufig Kinder Opfer eines MSS werden,  Lorenc (2011: 20) befragte deutsche Kinderkrankenhäuser und fand 91 Verdachtsfälle und 99 gesicherte Fälle in einem Zeitraum von durchschnittlich 11 Jahren. Diese Zahlen ergeben jedoch keine empirisch fundierten Aussagen, da sich an der Umfrage nur etwa die Hälfte aller Kinderkliniken beteiligte.
Es ist statistisch nicht zu erfassen, wie häufig Kinder Opfer eines MSS werden,  Lorenc (2011: 20) befragte deutsche Kinderkrankenhäuser und fand 91 Verdachtsfälle und 99 gesicherte Fälle in einem Zeitraum von durchschnittlich 11 Jahren. Diese Zahlen ergeben jedoch keine empirisch fundierten Aussagen, da sich an der Umfrage nur etwa die Hälfte aller Kinderkliniken beteiligte.

Aktuelle Version vom 26. Januar 2017, 17:28 Uhr

Definition

Erstmals hat der amerikanische Arzt Roy Meadow im Jahr 1977 über das Münchhausen Stellvertreter- Syndrom (MSS) berichtet (vgl. Viciano 2007:4; Krupinski 2013: 284). Die Bezeichnung der Krankheit stammt von den fiktiven Erlebnissen des im 19. Jahrhundert lebenden Barons von Münchhausen, der für seine Lügengeschichten und phantasievollen Übertreibungen bekannt wurde. MSS ist eine schwere Form der Kindesmisshandlung und gehört zu der Kategorie der Artifiziellen Störungen (vgl. Nowara 2005:128) und „vorgetäuschten Störungen“ (vgl. Andreasen 1993), bei welcher ein Elternteil, meistens die Mutter, oder beide Elternteile ihr Kind (ohne es den betreffenden Ärzten mitzuteilen) mit erfundenen oder selbst bei geführten Symptomen, Krankheiten oder Verletzungen bei Ärzten oder in Kliniken vorstellen. Das können z. B. Bewusstseinsstörungen, Anfälle, Blutungen, Wachstumsstörungen und psychische Auffälligkeiten sein. Vielfältige Untersuchungen und Behandlungen sind die Folge (vgl. Noeker 2004: 450, Peters 2007:351). Die betroffenen Kinder tragen i. a. hohe psychische und physische Folgen, die bis zum Tod führen können. Die Handlungen erfolgen vermutlich in einem dissoziativen Bewusstseinszustand, d. h. normalerweise ineinandergreifende Funktionen wie Wahrnehmung, Bewusstsein, Gedächtnis, Identität und Motorik sind in ihrer Kooperation beeinträchtigt und gestört und führen zu einem Verlust der psychischen Integration des Erlebens und Verhaltens. Dissoziatives Verhalten wird verursacht durch das Bemühen der Betroffenen, extreme Belastungssituationen erträglich zu machen und zu verarbeiten. Ist die/ der Betroffene wiederholtem Stress ausgesetzt, so kann sich im Lauf der Zeit ein automatisch ablaufender Mechanismus, sogar ohne konkrete Auslöser, manifestieren (vgl. Sonnenmoser 2004:372).

Charakterisierung/ Verdachtsaspekte der Krankheit

Das Krankheitsbild wird im Wesentlichsten durch sieben Merkmale charakterisiert (vgl. Rosenberg 1987: 548f):

  1. Die Beschwerden eines Kindes werden von einem Elternteil, oder einer anderen für das Kind Sorge tragenden Person, vorgetäuscht, herbeigeführt oder beides.
  2. Die Verursacherin/ der Verursacher leugnet, etwas über die Herkunft der Beschwerden des Kindes zu wissen.
  3. Eine untypische oder besonders dramatische Darbietung des Leidensbildes, die nicht zu einer bekannten medizinischen Krankheit oder psychischen Störung passt.
  4. Das Kind wird häufig bei ÄrztInnen vorgestellt und dort vielfach untersucht und behandelt.
  5. Nicht erklärbare Befunde, ausgesprochen wechselhafter Krankheitsverlauf mit zum Teil schnellen Krankheitsentwicklungen, ungewöhnliche Komplikationen oder neue Phänomene, wenn die ersten Untersuchungen keine greifbaren Ergebnisse zu bringen drohen
  6. Auffallend wenige BesucherInnen während des Klinikaufenthaltes, was entweder mit wenig ernsteren Bekanntschaften oder mit den ständig wechselnden Klinikaufenthalten zusammenhängt
  7. Akute Symptome des Kindes gehen zurück, wenn das Kind von der Mutter/ den Eltern getrennt wird.

Die Identifizierung der Krankheit ist, auch in Abgrenzung zu „reinen“ Misshandlungen, aufgrund der subtilen Herführungsweise und den verdeckten Aktivitäten sehr schwierig.

Verortung der Krankheit

Besonders in der englischsprachigen Literatur wird viel darüber diskutiert, ist, welchem medizinischen Fachgebiet das MSS angehören sollte. Einige Autoren heben die psychiatrische Störung hervor, die dementsprechend der Mutter zugeschrieben wird (vgl. Schreier 2002: 538; vgl. Morrell & Tilley 2012: 328), die meisten Autoren jedoch beschreiben mit dem MSS die Misshandlungen, welche das Kind durch die Handlungen der Mutter/ des Vaters erfährt und stellen eine pädiatrische Diagnose (vgl. Meadow 2002: 501; Faust o.J.:2). Es ist statistisch nicht zu erfassen, wie häufig Kinder Opfer eines MSS werden, Lorenc (2011: 20) befragte deutsche Kinderkrankenhäuser und fand 91 Verdachtsfälle und 99 gesicherte Fälle in einem Zeitraum von durchschnittlich 11 Jahren. Diese Zahlen ergeben jedoch keine empirisch fundierten Aussagen, da sich an der Umfrage nur etwa die Hälfte aller Kinderkliniken beteiligte.

Typisierung der VerursacherInnen

Menschen mit artifiziellen Störungen sind überwiegend weiblichen Geschlechts und üben häufig einen medizinischen Assistenzberuf aus. Sie sind in der Regel allein oder getrennt lebend, durchschnittlich gebildet, und weisen Persönlichkeits- oder psychische Störungen auf (vgl. Sonnenmoser 2010: 417ff). Häufig zeigen sich die VerursacherInnen von MSS als fürsorgliche und kooperative Personen. Sie zeigen i. a. eine auffallend symbiotische, d. h. sehr enge bis krankhaft enge Mutter-Kind-Beziehung und verfügen oft über gute medizinische Vorkenntnisse. Nicht selten suchen sie eine intensivere Beziehung zum ärztlichen und pflegerischen Personal.

Anamnese und Handlungsmotive

Über diese Mütter/ Väter gibt es wenig wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, und über die Motive der Handlungen kann nur gemutmaßt werden. Es wird davon ausgegangen, dass das betreffende Elternteil die Rolle eines Kranken mit einem entsprechendem Aufmerksamkeits- und Mitgefühlsbedarf einnehmen möchte (vgl. World Health Organisation & Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2013). Rache an nahestehenden Personen kann auch ein Handlungsmotiv sein. Psychodynamische Thesen gehen von einer Retraumatisierung traumatischer Erfahrungen aus; möglicherweise dienen die Handlungen auch dazu, Affekte und Spannungen zu reduzieren. Die Fokussierung auf ein vermeintlich krankes Kind könnte auch der Regulierung und Stabilisierung konfliktreicher Paarbeziehungen dienen (vgl. Sonnenmoser 2010: 418). Häufig haben die VerursacherInnen selbst reale körperliche Erkrankungen in der Zeit der Kindheit oder als Heranwachsende erlebt, welche zu intensiven medizinischen Behandlungen oder prägenden Klinikaufenthalten geführt haben. Sie kommen in der Regel aus desolaten und dissozialen Familienverhältnissen, in welchen z.B Inzest, Missbrauchserfahrung, Sucht der Eltern, Kindesmisshandlung und kriminelle Entgleisungen eine Rolle gespielt/ stattgefunden haben können, und entwickeln im Verlaufe ihres Leidens oft weitere seelische Störungen, z. B. schwere narzisstische oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen, bis hin zu einer schizophrenen Psychose. Man geht davon aus, dass mehrfache Ursachen zu dem krankhaften Verhalten führen (vgl. Noeker et al. 2011: 266). Kennzeichen für die Familiendynamik bei körperlicher Misshandlung sind zudem eine geringe Selbstwahrnehmung und ein geringer Selbstwert im gesamten System, eine unklare und dissonante Verteilung von Macht und Verantwortung in der Familie, die Verleugnung von Konflikten, starre Systemgrenzen nach außen Ablehnung und/ oder die Ambivalenz gegenüber Hilfen (vgl. Egle et al. 2004: 180).

In der Literatur findet man somit zahlreiche verschiedene, zum Teil auch widersprüchliche, Thesen über Handlungsmotive. Krupinski (2013: 289) geht davon aus, dass die Verursacherin/ der Verursacher durch die Misshandlung des Kindes Aufmerksamkeit für sich erlangen und dadurch Hilfe bekommen wollen. Schreier (2004: 131) hingegen schließt dieses Motiv aus und sieht in einem narzisstischen Charakter die Ursache des (kranken) Verhaltens. Rosenberg (1987: 557f) wiederum merkt an, dass der Wunsch nach Beachtung das Verhalten der Mütter nicht ausreichend erklären kann, denn es bleibt die Frage, warum die Frauen dafür diese schwere Misshandlung ihrer Kinder hinnehmen. Auch diese unterschiedlichen Aussagen zeigen die Diffusität und schwere „Greifbarkeit“ der Erkrankung.

Hilfe und Heilungschancen

MSS- erzeugende Menschen sind psychisch krank, zeigen jedoch in der Regel keine Krankheitseinsicht. Sie sind folglich in der Regel therapeutisch so gut wie nicht zugänglich, die Heilungschancen durch eine Psychotherapie sind äußerst gering. Die Diagnose der Krankheit stellt aus verschiedenen Gründen eine große Schwierigkeit und Herausforderung für die behandelnden Ärzte dar, weil sie nur aufgrund aufmerksamer und zeitintensiver Beobachtungen zu identifizieren ist. Zudem kann eine vorschnelle Verdachtsdiagnose sowohl ethisch, als auch unter Umständen juristisch, verhängnisvoll sein (vgl. Faust o. J.:11). Ärzte stoßen hier, auch aufgrund ethischer und moralischer Aspekte und der besonderen Abnormität der Krankheit, an ihre Grenzen. Wird die Krankheit diagnostiziert, ist ein besonders sensibler Umgang mit den VerursacherInnen angezeigt, da die Enttarnung bei ihnen unvorhergesehene und bedrohliche Reaktionen hervorrufen kann. Von einer anklagenden Konfrontation wird, auch aufgrund der gerade genannten Gefahren, dringend abgeraten, sondern die Empfehlung ausgesprochen, durch einen behutsamen Beziehungsaufbau Zugang zu den VerursacherInnen zu erlangen und eine Vertrauensbasis zu schaffen (vgl. Faust o. J.:39,40). Fehlende Zeit im Krankenhausalltag, moralische und ethische Hürden/ Blockaden und gegebenenfalls auch Zeitdruck durch die Gesundheitsbedrohung des Kindes zeigen die besonders große und schwere Herausforderung der behandelnden Personen wie Ärzte und Krankenpflegepersonal im Umgang mit MSS . Das MSS erfordert zusammenfassend nicht nur eine Therapie, sondern immer auch ein sorgfältiges Beobachten und Abwägen der menschlichen, sozialen und juristischen Folgen (vgl. Sonnenmoser 2004: 420).

Wird ein Fall von Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bekannt, so muss zum Schutz des Kindes eine zumindest vorübergehende Trennung vom verursachenden Elternteil erfolgen (vgl. Stadt Osnabrück 2015: 15; Faust o.J.: 24).

Rechtliche Bewertung

MSS stellt eine Form der Kindesmisshandlung dar. Sie ist eine gewaltsame, nicht unfallbedingte, körperliche oder seelische Schädigung eines Kindes durch aktives Handeln einer erwachsenen Beziehungs- oder Bezugsperson und stellt einen Verstoß gegen § 1631 BGB Inhalt und Grenzen der Personensorge, und § 8a SGBIII Kindeswohlgefährdung, dar. Strafrechtlich relevant sind hier § 25 StGB Täterschaft, §171 StGB Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht und § 225 StGB, Misshandlung von Schutzbefohlenen (vgl. Dejure o.J.). Da das MSS eine sehr subtile Form der Kindesmisshandlung darstellt, ist es sowohl schwer erkennbar als auch beweisbar. Zudem muss geprüft werden, ob die Verursacherin/ der Verursacher aufgrund psychologischer Befunde nach § 20 StGB, Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen und §21 StGB verminderte Schuldfähigkeit, schuldfähig oder schuldunfähig ist. Das Täuschungs- und Verschleierungsverhalten der Verursacherin/ des Verursachers kann demnach auch nicht automatisch als Betrug (§ 263 StGB) strafrechtlich geahndet werden, da festgestellt werden muss, ob das Verhalten krankheitsbedingte Ursachen hat. Die entscheidende Frage bei der juristischen Beurteilung des Tatbestandes ist, ob das Verhalten der VerursacherInnen als krankhaft oder kriminell eingestuft wird. Gerichtsurteile: OLG Celle Beschluss vom 3. Februar 2006 · Az. 10 UF 197/04. Online im Internet unter: http://openjur.de/u/319358.html (26.10.16)

OLG Dresden Beschluss vom 7.August 2007-20 UF 155/07. Online im Internet unter: https://www.haufe.de/recht/deutsches-anwalt-office-premium/sorgerechtsentzug-bei-muenchhausen-by-proxy-syndrom_idesk_PI17574_HI2125329.html (27.10.16).

Literatur

  • Andreasen, N. (1993): Lehrbuch Psychiatrie. Weinheim: Beltz.
  • Egle, Ulrich/ Hoffmann, Sven/ Joraschky, Peter (2004): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung: Erkennung, Therapie und Prävention der Folgen früher Stresserfahrungen. 3. Auflage.Stuttgart: Schattauer.
  • Krupinski, M. (2013): Münchhausen-by-proxy-Syndrom. In: Klinisch-forensische Medizin. Interdisziplinärer Praxisleitfaden für Ärzte, Pflegekräfte, Juristen und Betreuer von Gewaltopfern (283-291). Wien: Springer.
  • Meadow, R. (2002): Different interpretations of Munchausen Syndrome by Proxy. In: Child Abuse and Neglect, 26, 501-508.
  • Morrell, V. & Tilley, D. (2012): The Role of Nonperpetrating Fathers in Munchausen Syndrome by Proxy: A Review of the Literature. In: Journal of Pediatric Nursing, 27, 328335.
  • Noeker, M., Mußhoff, F., Franke, I. & Madea, B. (2011).: Münchhausen-by-Proxy-Syndrom. In: Monatsschrift Kinderheilkunde, 159, 265-278.
  • Nowara, S. (2005): Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom. In: G. Deegener & W. Körner (Hg.), Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch (128-140). Göttingen: Hogrefe.
  • Peters, U. (2007): Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 6. Auflage. München-Jena: Urban & Fischer.
  • Sachsse, U. (2015): Proxy- dunkle Seite der Mütterlichkeit.Stuttgart: Schattauer.
  • Sonnenmoser, M. (2004): Dissoziative Störungen: Häufig fehlgedeutet. In: Deutsches Ärzteblatt. PP3. Heft 8, Seite 372.Online im Internet unter: http://www.aerzteblatt.de/archiv/43054 (30.10.16).