Kritische Kriminologie

Als Kritische Kriminologie oder auch Radikale Kriminologie (in Großbritannien New Criminology) wird eine Richtung der Kriminologie bezeichnet, die sich in den 1960er-Jahren in Abgrenzung zur traditionellen (ätiologischen) Kriminologie formierte, die von ihr als Legitimationswissenschaft bezeichnet wurde.[1]

Entstehung der kritischen Kriminologie

Im angloamerikanischen Raum formierte sich die kritische Kriminologie gegen die ätiologische Kriminalsoziologie, wobei der erste Impuls von David Matza ausging, der 1964 in seinem Buch Delinquency an Drift bemängelte, dass die Kriminologie (in den angloamerikanischen Ländern identisch mit der Kriminalsoziologie) die neueren Entwicklungen in der Sozialwissenschaft, insbesondere den Symbolischen Interaktionismus verschlafen habe. Kritisiert wurde besonders auch der Mehrfaktorenansatz des Ehepaars Glueck, das eine international bekannte Längsschnittstudie betrieben und daraus ein Prognosestafel entwickelt hatte. Mit Howard S. Beckers Buch Outsiders machte die Kritische Kriminologie einen Qualitätssprung hin zum Labeling Approach. Die Hinterfragung von gesellschaftlichen Normen und der Kontrollinstanzen geriet in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interessen.

In Großbritannien entwickelte sich um Jock Young eine kritische Kriminologie sozialistischer Coleur, die Kriminalisierungen aus Klassenlagen ableitete.

In Deutschland gab es zu Beginn der 1960er Jahre keine nenneswerte soziologische Tradition der Kriminologie. Daher setze die Kritische Kriminologie hier mit einer Ideologiekritik der traditionellen (von Rechtswissenschaft und Psychiatrie domierten) Kriminologie an:

"Die herkömmliche Kriminologie steht unter Ideologieverdacht, insoweit sie täterorientiert ist, mit dem von Strafrecht vorgegebenen Kriminalitätsbegriff arbeitet und Kriminalität als abnormal und pathologisch begreift. Die Täterorientierung stellt sich dar als Überbetonung individualpsychologischer und psychiatrischer Erklärungen von Kriminalität. Sie führt damit zur Ausblendung der sozialen Reaktionen aus dem Erklärungszusammenhang der Kriminalität. Damit verstellt die täterorientierte Kriminologie den Blick auf die selektiven Mechanismen im gesamten Prozeß der faktischen Krimininalisierung." [2]

Damit hatte die deutsche Kritische Kriminologie die Entwicklung der Kriminalsoziologie übersprungen und war von Anfang an mit dem Labeling Approach (und zwar in der von Fritz Sack radikalisierten Version) befasst.[3]

1969 gegründete sich der Arbeitskreis junger Kriminologen" (AJK), in dem sich die Kritiker der herkömmlichen Fachdisziplin sammelten. Bis heute (2009) gibt der AJK das Kriminologische Journal heraus.

Entwicklung der Kritischen Kriminologie

Die US-amerikanische Kritik an der ätiologischen Kriminalsoziologie verflachte nach wenigen Jahren, eine moderate Version des Labeling Approach (sekundäre Devinanz) war in den gemeinsamen Theoriekanon eingegangen. Die britische New Chriminology verwandelte sich in einen sozialdemokratisierten kriminologischen Neuen Realismus, der inzwischen dem internationalen fachwissenschaftlichen Mainstream entspricht.

In Deutschland verebbte mit der Etablierung führender Mitglieder des AJK im Wissenschaftsbereich die kritische Diskussion ab Anfang der 1980er Jahre. Die radikale Version des Labeling Approach wird nicht mehr rezipiert, ihre Hauptprotagonisten wie Fritz Sack, Helge Peters und Heinz Steinert sind inzwischen emeritiert.

Die sich als kritisch verstehende Kriminologen publizieren weiterhin im Kriminologischen Journal, haben sich aber anderen Themen zugewandt. Henner Hess und Sebastian Scheerer veröffentlichten 1997 unter dem Titel Was ist Kriminalität? eine konstruktivistische Kriminalitätstheorie, mit der sie sich vom Labeling Approach sack'scher Ausprägung abgerenzten und zudem auf Elemte der traditionellen Kriminalsoziologie zurückgriffen.

Darüber hinaus sind im Kriminologischen Journal Michel Foucault (Gouvernementalität), David Garland (Kultur der Kontrolle) und Giorgio Agamben (Homo saccer) Orientierungspunkte der Diskussion. Seit 2008 arbeiten Heinz Steinert und Reinhard Kreissl an einer "sozio-neuro-wissenschaftlichen Handlungstheorie" und müssen sich aus dem eigenen wissenschaftlichen Umfeld von Rüdiger Lautmann den Vorwurf gefallen lassen: "Kollegen, die bislang ausschließlich die Reaktionen auf 'Kriminalität' untersucht haben, wenden sich der Ursachenfrage zu. Diesen Erfolg bekommt die Bio-Kriminologie geschenkt: Die Kritische Kriminologie nimmt endlich Vernunft an - wäre zynisch anzumerken - und vollzieht die ätiologische Wende." [4]

Literatur

  • Ahorn, Roland (Hg.) (2002): Kritische Kriminologie und soziale Arbeit. Impulse für professionelles Selbstverständnis und kritisch-reflexive Handlungskompetenz. Juventa-Verlag, München.
  • Hilde van den Boogaart, Lydia Seuss: Radikale Kriminologie. Die Rekonstruktion zweier Jahrzehnte Wissenschaftsgeschichte Großbritanniens (1991).
  • Bussmann, Kai-Detlef, Reinhard Kreissl (Hg.) (1996): Kritische Kriminologie in der Diskussion. Theorien, Analysen, Positionen. Westdeutscher Verlag, Opladen.
  • Henner Hess/ Sebastian Scheerer: Was ist Kriminalität. Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, in: Kriminologisches Journal 2/97, S. 83-155.
  • David Matza: Delinquency an Drift, New York 1964.
  • Fritz Sack, René König (Hg.): Kriminalsoziologie (1968)
  • Fritz Sack: Kritische Kriminologie, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage, Heidelberg 1993, S. 329-338.

Zeitschrift

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. Vgl.Dorothee und Helge Peters, Legitimationswissenschaft. Zur sozialwissenschaftlichen Kritik an der Kriminologie und an einen Versuch, kriminologische Theorioen zu überwinden, in: Arbeitskreis Junger Kriminologen, Kritische Kriminologie. Positionen, Kontroversen und Perspektiven, München 1974, S. 113-131.
  2. Arbeitskreis Junger Kriminologen, Kritische Kriminologie. Positionen, Kontroversen und Perspektiven, München 1974, S. 7.
  3. Fritz Sack hatte nach einer Studienreise in die USA der deutschen Fachöffentlichkeit 1968 in der gemeinsam mit René König herausgegebenen Kriminalsoziologie die Haupttheorien präsentiert, diese dann aber in einem langen Schlußbeitrag, in dem er seine Auffassung des Labeling Approach darstellte, dementiert.
  4. Rüdiger Lautmann: Von der 'Sozio-Neuro-Wissenschaft' zur 'Zivilisierung der Natur'", in: Kriminologisches Journal, 4/2008, S.294.