Kriminelle Karriere

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Achtung Baustelle- Betreten auf eigene Gefahr == 31.03.2011

Begriff

Eine kriminelle Karriere ist eine durch Positionsveränderungen in der illegalen Erwerbstätigkeit gekennzeichnete Sequenz im Leben eines Individuums. Sie ist sozusagen das Spiegelbild einer beruflichen Karriere im legalen Bereich der Gesellschaft. So wie es den Aufstieg vom Lehrling zum Generaldirektor, aber auch Quereinsteiger, Karriereknicks und Aussteiger gibt, so finden sich entsprechende Muster auch im Bereich der Illegalität wieder. Kenneth C. Land und Amy V. D'Unger definieren eine kriminelle Karriere in der elektronischen Law Library als "the longitudinal sequence of delinquent and criminal acts committed by an individual as the individual ages across the lifespan from childhood through adolescence and adulthood" (Land & D'Unger). Das Konzept ist in der (amerikanischen) Kriminologie seit den 1950er Jahren fest verankert (Glueck, Becker, Blumstein, Cohen, Roth, Visher). Zur Beschreibung krimineller Karrieren haben sich folgende Fragen als nützlich erwiesen:

  • Wie hoch ist der kriminell aktive Bevölkerungsanteil? (Partizipation)
  • Wie häufig sind delinquente Handlungen bei den jeweiligen Tätern? (Frequenz; häufig auch als Lambda bezeichnet)
  • Wie schwer sind die von den jeweiligen Tätern begangenen Delikte? (Schwere/Seriousness)
  • Wie lange verweilen die jeweiligen Täter in ihrem Leben im Bereich delinquenter Handlungen? (Karriere-Dauer/career length)

In aggregierter Form ergeben kriminelle Karrieren typischerweise eine unimodale age-crime curve. Die meisten Delinquenten stellen ihre entsprechenden Aktivitäten nach der ersten Festnahme ein. Ein kleiner Prozentsatz macht aber weiter - und ein Teil dieses Prozentsatzes zeigt im Laufe der Zeit das chronische "Karriere"-Muster der Delinquenz.

Geschichte

In ihrer großen Longitudinalstudie, in der Sheldon und Eleanor Glueck (1950) über zehn Jahre (1939-48) die Lebenswege von 500 gerichtlich verurteilten jungen Leuten (10-17 Jahre) und einer gleich großen Kontrollgruppe verfolgten, fanden sie bestimmte, mit dem Lebensalter der jungen Leute korrespondierende Einstiegsmuster in kriminelle Aktivitäten, aber auch Ausstiegsmuster und solche einer besonderen Kontinuität. Wie aber genau die Aspekte der Dynamik und der Statik, der Veränderung und der Stabilität in der theoretischen Konzeptualisierung miteinander vereinbart werden könnten - und wie es sich in der Wirklichkeit damit nun genau verhielt - das waren Fragen, die noch Jahrzehnte später für Diskussionen in der Kriminologie sorgen sollten (vgl. Gottfredson & Hirschi, 1990; Sampson & Laub 1993).

Aufbauend auf den Arbeiten der Gluecks wurden verschiedene große Kohortenstudien durchgeführt (Shannon, 1988, 1991; Tracy, Wolfgang, Figlio; West & Farrington, 1973, 1977; Wolfgang, Figlio & Sellin: 1% der weiblichen und 5-10% der männlichen Bevölkerung als "chronisch rückfällige Straftäter" sind verantwortlich für mehr als 50% der aller von einer Kohorte begangenen Taten). West & Farrington (1973, 1977) setzten die Tradition in Cambridge, England, fort (1973, 1977). Die Cambridge Study in Delinquent Development folgte der Entwicklung von 411 Jungen von 8 Jahren bis 32 und kam zu ähnlichen Ergebnissen wie die Philadelphia Studie von Wolfgang. Darüber hinaus fanden Farrington u.a. heraus, dass

  • sich schon im Alter von acht Jahren Frühindikatoren für künftige dauerhafte Delinquenz finden lassen
  • delinquentes Verhalten zu unterschiedlichen Erscheinungsformen (im Gegensatz zur Spezialisierung) tendiert
  • gesellschaftliche Faktoren wie Familienstruktur, ökonomische Bedingungen und Personenstand die Delinquenz im Laufe der Zeit beeinflussen.

Lyle Shannon (1988, 1991) verknüpfte Polizeiinformationen über die Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1942, 1949 und 1955 mit vertiefenden Interviews derjenigen, die bis zu ihrem 18. Geburtstag in Racine, Wisconsin, geblieben waren. Sie fand heraus, dass rund 80% aller schwereren Straftaten (felonies) auf einen Anteil von ca. 5% jeder Kohorte zurückging - also einen Anteil von chronischen oder Karriere-Delinquenten.

Streit

In neuerer Zeit trat der Streit zwischen Blumstein und seinen Mitarbeitern (Barnett, Blumstein, and Farrington; Blumstein, Cohen, and Farrington, 1988a, 1988b) und Gottfredson und Hirschi (1988, 1990) über die Stabilität krimineller Karrieren in den Vordergrund. Sampson and Laubs sogenannte "age-graded theory of informal social control" räumt sowohl Stabilität als auch Veränderung genügend Platz ein. Die beiden Autoren postulieren, dass Veränderungen in den sozialen Bindungen zu Individuen und Institutionen (z.B. Familie, Bildungssystem, Arbeit) dazu beitragen, ein Individuum zu mehr oder weniger Deliquenz oder zum Ausstieg aus der Delinquenz zu bewegen. Während zum Beispiel die Eheschließung einen Wendepunkt hin zu stärkeren Bindungen an die konventionelle Gesellschaft (Laub, Nagin & Sampson) und weg von gleichaltrigen delinquenten Bezugspersonen darstellen kann, könnte das Ausbleiben solcher Ereignisse im Leben eines Menschen dazu führen, dass diese Person weiterhin delinquent agiert.

Sampson und Laub stellen drei wichtige theoretische Behauptungen auf:

  • (1) der strukturelle Kontext von sozialer Kontrolle in Familie und Schule erklärt Delinquenz in Kindheit und Jugend
  • (2) das führt zur Kontinuität antisozialen Verhaltens von der Kindheit durch das Erwachsenenalter quer durch viele gesellschaftliche Bereiche
  • (3) soziale Bindungen an Institutionen wie z.B. Familie und Beschäftigung erklären Veränderungen im delinquenten Verhalten im Erwachsenenalter, die trotz früher deliquenter Neigungen vorkommen.

Dieses "developmental model" integriert das Potential für Stabilität und Veränderung im Zeitablauf und widerspricht damit anderen psychologisch orientierten Modellen, die größeres Gewicht auf die Kontinuität legen (z.B. Gottfredson & Hirschi 1990): abweichendes Verhalten fluktuiert mit veränderten Niveaus sozialer Bindungen. Die "chain of adversity" im Leben der Delinquenten kann im Laufe der Zeit durchbrochen werden (S. 11, 15).

The most prominent of the "static" or "continuity" theories of crime is Gottfredson and Hirschi's (1990) self-control theory of crime. Gottfredson and Hirschi (1988, 1990) assert that both crime and criminality are stable across the life-course and that a singular underlying individual characteristic, self-control, is predictive of offending behavior. Self-control is established early in life (before the age of eight) and is related to parental child-rearing techniques. Those parents who are able to consistently and fairly discipline children and teach them to resist impulsive behavior will instill in their children a high level of self-control. Across the lifespan, an individual's level of self-control will remain stable but can manifest itself in many different ways. Childhood antisocial behavior, adolescent and adult criminality, problem drinking, excessive speeding, or any other impulsive or deviant activity could be traced back to low levels of self-control. Gottfredson and Hirschi (1990) attribute decreasing levels of offending at later ages in the age-crime curve to a gradual "aging-out" of all offenders, reflective of relative stability over time, as opposed to the termination of offending by some. Support for the existence of an underlying latent trait predictive of continuity in offending has been found by those such as Greenberg and Rowe, Osgood, and Nicewander.

Debates between those advocating a more dynamic versus a static view of offending behavior have spawned a related question on the relationship of past to future offending: Does prior offending have a subsequent causal impact on future offending or do time-stable individual differences cause persistence in offending over time? This question, framed in terms of the existence of either state dependence or persistent heterogeneity, has been advanced by Nagin and his colleagues (Nagin and Farrington, 1992a, 1992b; Nagin and Paternoster, 1991). State dependence implies that the commission of a crime may raise the probability that an individual will commit a subsequent crime. According to state dependence, prior participation in offending has an "actual behavioral effect" (Nagin and Paternoster, p. 163) on subsequent offending (a dynamic approach). On the other hand, population heterogeneity implies that past and future offending are related only inasmuch as they are both related to an unmeasured criminal propensity that is stable over time within the individual (a static approach). Mixed conclusions have been drawn from this vein of research—support has been found for both the hypotheses of state-dependence (Nagin and Farrington, 1992a; Nagin and Paternoster) and population heterogeneity (Loeber and Snyder; Nagin and Farrington, 1992a, 1992b).

Read more: Criminal Careers - Contemporary Issues And Controversies - Offending, Individual, Time, Nagin, Control, and Farrington http://law.jrank.org/pages/830/Criminal-Careers-Contemporary-issues-controversies.html#ixzz1I9y0KUsy

Karrieremodelle

((H. Janssen: Dementsprechend unterscheidet Wulf zwischen "Karriere im engeren Sinn" und "Karriere im weiteren Sinn". Unter Karriere im engeren Sinn wird die kontinuierliche Kriminalitätsbegehung verstanden. Kriminelle Karriere im weiteren Sinn bezeichnet den Wechselprozeß zwischen Kriminalität, Konformität und erneuter Kriminalität bzw. anderen sozial abweichenden Verhaltensweisen. Sie kann einerseits als Ursachenforschung traditionell individualistisch-orientierter Art, andererseits als Verursachungsforschung (im Sinne des Etikettierungsansatzes, *Krimina-litätstheorien) erfolgen. Forschungen zur kriminellen Karriere sind üblicherweise retrospektiv (rückblickend) angelegt. Ausnahmen bilden die zumeist in den USA durchgeführten Kohortenstudien (*Forschungsmethoden), die prospektiv (vorauschauend) angelegt sind und durch ihren Ansatz relativ exakte Kontrollgruppen einbeziehen. Über Ursachen oder Verursachung des Beginns von abweichenden Karrieren ist in der Wissenschaft bisher weder eine einheitliche Theorie, noch ein gemeinsamer Grundkonsens erzielt worden. Selbst die von Haferkamp u. a. vertretenen "sozialen Mängellagen", die am Beginn einer Karriere nahezu bei allen Untersuchten zu finden sind, lassen sich relativieren, da diese Defizite (individuelle und soziale) nur im Rahmen der Stigmatisierungs- und Krimina-lisierungsprozesse die für die Reakteure bedeutsame soziale Relevanz gewinnen. Insofern sind die von Opp erhobenen Thesen, daß der Karriereansatz Teilbereich einer umfassenden Etikettierungstheorie ist, durchaus berechtigt. Quensel vertritt in seinem Karrieremodell die These, daß durch systematische Verringerung positiver informeller Lösungsmöglichkeiten individueller Probleme die Wahrscheinlichkeit des Abgleitens in eine kriminelle Karriere steigt. Er sieht dies als direktes Produkt der Negativsanktionen der am Prozeß beteiligten Reakteure. Unter diesem Aspekt stellt eine kriminelle Karriere keine Besonderheit individuell soziopathologischen Verhaltens, sondern eine vom System der Sozialkontrolle systematisch produzierte, konsequent-logische Überle-benstrategie von Individuen dar, die durch den staatlich formellen Zugriff in ihrem Selbstkonzept geschädigt worden sind. Als Ergebnis der verschiedenen Forschungen zur kriminellen Karriere läßt sich festhalten, daß es bisher keinerlei verläßliche (d. h. für den zu prognostizieren-den weiteren Verlauf von abweichenden Lebensmodellen verwendbare) Kriterien gibt, die den Beginn prospektiv erkennen lassen. Es mag zwar Anhaltspunkte geben, die die Möglichkeit solcher Karriereverläufe als (mehr oder weniger) wahrscheinlich erscheinen lassen. Sie sind aber dadurch noch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit prognostizierbar."))

Man kann als Ladendieb anfangen und als Chef eines millionenschweren Kartelles im Rotlicht-Milieu seine Karriere beenden. Auch hier gibt es Karriere-Knicks und den Abschluss einer ersten und den Beginn einer neuen Karriere. In die Kriminologie wurde der Begriff der kriminellen Karriere von Soziologen eingeführt, die sich außer mit der Soziologie des abweichenden Verhaltens auch mit Organisations- und Berufssoziologie befassten und dabei auf den Gedanken kamen, die Kategorien der Berufssoziologie auf die Laufbahnen devianter Akteure anzuwenden. Insbesondere ist es ein Verdienst von Howard S. Becker, diese Transferleistung erbracht zu haben.


Spezielle Karriere-Modelle

Spezielle Karriere-Modelle erheben den Anspruch, die Laufbahnen, die zu einer bestimmten Form der Abweichung führen, idealtypisch darzustellen. Dahinter steht häufig die Erwartung, Abfolgen von Schritten zu finden, die sich auch für andere abweichende Laufbahnen bewähren könnten und so zu einer allgemeingültigen Vorstellung von dem Beginn und dem Verlauf krimineller Karrieren beitragen zu können. Dies war sicherlich bei Howard S. Becker und seiner Darstellung, "Wie man Marihuana-Gebraucher wird", der Fall, aber auch bei Stephan Quensel ("Wir wird man kriminell") und bei Henner Hess ("Das Karriere-Modell und die Karriere von Modellen").

Wie man Marihuana-Gebraucher wird (Howard S. Becker)


Wie wird man kriminell?



Wege in den Heroingebrauch

Wege in die Prostitution

Wege in den Terrorismus

Eine Studie von Mitchell D. Silber und Arvin Bhatt (New York Police Department Intelligence Division) unter dem Titel "Radicalization in the West. The Homegrown Threat" (2007) unterscheidet anhand der Analyse von elf vereitelten Terroranschlägen in Nordamerika und Europa vier Phasen der Radikalisierung von Muslimen, während derer sie scheinbar unverändert ihrem Alltag nachgehen: (1) Präradikalisierung. Die spezifisch muslimische Identität spielt keine bestimmende Rolle. (2) Selbstidentifizierung als zunehmend radikaler Muslim (oftmals durch Einschnitte im Leben wie z.B. Arbeitsplatzverlust oder rassistische Übergriffe) (3) Beschleunigung der Indoktrinierung durch das Internet (4) Dschihadisierung und Gewaltanwendungsbereitschaft.

Während der Vorsitzende des Ausschusses für Heimatschutz im Senat, Joseph Lieberman, den Bericht als "bahnbrechend" für die Terrorbekämpfung lobte, sprach der Vorsitzende des Arabisch-Amerikanischen Komitees gegen Diskriminierung, Kareem Shora, von einer "unglückseligen Stereotypisierung einer ganzen Gruppe von Menschen" (FAZ 17.08.07: 4).


Allgemeine Karriere-Modelle

Literatur

  • Fan, Wen (2009) Kriminelle Karrieren: Straftaten, Sanktionen und Rückfall. Eine empirische Untersuchung erstmals inhaftierter und rückfälliger Strafgefangener in China. Berlin: Duncker & Humblot.
  • Göppinger, H.: Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Heidelberg 1983.
  • Haferkamp, H.: Kriminelle Karrieren. Reinbek 1975.
  • Harrendorf, Stefan (2010) Rückfälligkeit und kriminelle Karrieren von Gewalttätern. Göttingen: Göttinger Universitätsverlag.
  • Hess, Henner (1978) Das Karriere-Modell und die Karriere von Modellen, in: Hess/Störzer/Streng, Sexualität und soziale Kontrolle. Beiträge zur Sexual-Kriminologie, Heidelberg: 1-29.
  • Kerner, H-J. & Janssen, H. (1983) Rückfall nach Jugendstrafvollzug-Betrachtungen unter dem Aspekt von Lebenslauf und krimineller Karriere. In: Kerner, H.-J. u. a.: Festschrift für Leferenz. Heidelberg: 211-232.
  • Piquero, Alex & Mazerolle, Paul J., eds. (2012) Criminal Career Findings and Life-course Studies: Worldwide Research and Perspectives. London: Routledge.
  • Piquero, Alex R., David P. Farrington, Alfred Blumstein (2007) Key Issues in Criminal Career Research: New Analyses of the Cambridge Study in Delinquent Development. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Quensel, St.: Wie wird man kriminell. Kritische Justiz 1970, 375-382.
  • Wulf, B.: Kriminelle Karrieren von "Lebenslänglichen". München 1979.


Links