Kriminalprognose

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Kriminalprognose

(i. S. individueller Legalprognose)


Anlässe für Kriminalprognosen

Anlass zur Erstellung einer individuellen Kriminalprognose ist i. d. R. die Frage, ob eine frei-heitsentziehende Maßnahme fortgesetzt werden muss bzw. unter welchen ggf. geänderten Bedingungen diese fortzusetzen ist oder aber ob bzw. unter welchen besonderen Bedingungen sie beendet werden könnte. Anlass kann also z.B. die Frage nach der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (vgl. § 61 StGB) einschließlich der Frage nach den Voraussetzungen und Behandlungsaussichten (vgl. § 246 a StPO) sein; ebenso kann dies die Frage nach der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (vgl. § 64 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (vgl. § 66 StGB) sein. Darüber hinaus kann sich die Frage nach der Überweisung in eine andere Maßregel sowie neuerdings insbesondere die Frage nach der Anordnung der Sicherungsverwahrung (vgl. § 66 b StGB) stellen sowie neuerdings, ob dringende nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden muss (§ 275 a StPO. Am häufigsten wird in der Praxis allerdings die Frage nach der Legalprognose im Falle einer Reststrafenaussetzung zu beantworten sein. Diese Frage bezieht sich auf die Vorschriften des § 57 StGB sowie § 454 Abs. 2 StPO. Zu beantworten ist, ob keine Gefahr mehr besteht, dass die bei der Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit noch fortbesteht, damit unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit geprüft werden kann, ob bzw. unter welchen Auflagen der noch verbleibende Strafrest nunmehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Schließlich kann forensischen Sachverständigen die Frage nach der Aussetzung einer Maßregel nach den §§ 63, 64 StGB bzw. –in der Praxis wohl eher seltener- die Frage nach der Erledigung der Sicherungsverwahrung, nachdem diese bereits 10 Jahre lang vollzogen worden ist, gestellt worden sein. Im Strafvollzug schließlich ist zu beantworten, ob für den Fall der Gewährung von Vollzugslo-ckerungen wie Ausgang, Urlaub usw. rückfällige Straftaten zu befürchten sind.


Der Prognostiker

Kriminalprognosen zur Frage der zukünftigen Legalprognose eines Verurteilten werden in der Regel durch Diplompsychologen oder Psychiater erstellt, die üblicher Weise entweder im Strafvollzug bzw. in forensischen Fachkrankenhäusern oder in freier Praxis tätig sind.


Zur Funktion von Kriminalprognosen

„Kriminalprognosen der Strafrechtspflege dienen regelmäßig der Entscheidung über Freiheit oder Unfreiheit des Täters“ (vgl. Volckart 2002). Der Sachverständige hat mit seiner Krimi-nalprognose das Gericht oder die Vollzugsbehörde zu beraten. Seine Sachverständigenäu-ßerung ersetzt aber nicht deren Entscheidung. Der Rechtsanwender, also das Gericht, die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde oder die Justizvollzugsanstalt als Vollzugsbehörde, muss die entscheidungserheblichen Er-wägungen des Prognostikers für die eigene Entscheidungsfindung nutzbar machen und sei-ner –wiederum gerichtlich überprüfbaren und gegebenenfalls anfechtbaren Entscheidung zugrunde legen. „Der Umschlagspunkt zwischen günstig und ungünstig ist nicht naturgegeben. Der Rechts-anwender hat die Grundlagen für den Ort des Umschlagspunktes zu ermitteln und diesen dann selbst zu bestimmen“ (Volckart 2006). Der forensische Prognostiker ist zwar nicht Ent-scheider. Gleichwohl wird i. d. R. seine Prognoseerwägung der formalen Entscheidung z. B. über den Fortgang der Freiheitsentziehung innewohnen.


Entscheidungsverhalten bei Kriminalprognosen

Neben formalen Gründen (freiheitsentziehende Maßnahmen bedürfen richterlicher Entscheidung!) befinden sich Prognostiker sowie Gericht und Vollzugsbehörde, also die Rechtsanwender, in einer vollständig unterschiedlichen Entscheidungssituation: Der forensische Prognostiker wird als Erfahrungswissenschaftler seine kriminalprognostischen Aussagen stets als Wahrscheinlichkeitsaussagen formulieren (vgl. Volckart 2002). Er wird sich, eingeschränkt durch die Formulierung spezifischer Bedingungen, zur Wahrscheinlichkeit neuerlicher Straffälligkeit eines Verurteilten äußern; er wird begünstigende Umstände, die eine Le-galprognose unterstützen, ebenso benennen wie solche Umstände, die erneute Straffälligkeit erwarten lassen. Die Rechtsanwender hingegen treffen eine Ja-/Nein-Entscheidung. Sie lassen Wahrschein-lichkeitsaussagen der Kriminalprognose in ihre Entscheidung einfließen bzw. ziehen sie zur Begründung heran.


Inhalt und Anforderungen an Kriminalprognosen

Formale Anforderungen

Bötticher u. a. (2006) formulierten in jüngster Zeit am deutlichsten, welche Anforderungen an Prognosegutachten zu stellen sind. Danach muss der Prognosegutachter belegte Informationen und Befunde transparent und für den Rechtsanwender nachvollziehbar zu Grunde legen und aus diesen seine Wahrscheinlichkeitsaussagen nachvollziehbar ableiten.

Inhalte und Instrumente zur Erstellung von individuellen Kriminalprognosen

Der Prognosegutachter wird die ihm verfügbaren schriftlichen Informationen wie Gerichtsakten, Urteilsbegründungen, ggf. vorhandene Vorgutachten sowie die Dokumentation der bisherigen Vollstreckung auswerten. In der ausführlichen Exploration wird neben der biografischen und insbesondere kriminellen Anamnese zu beurteilen sein, wie der Verurteilte zum Anlassdelikt steht, welche Sichtweisen zum Tatvorlauf bzw. mit Blick auf eventuell Geschädigte der Verurteilte aktuell einnimmt usw.. Eigenes Beziehungsverhalten sowie Suchtmittelkonsum sind weitere unverzichtbare Themenfelder. Zudem wird der Prognosegutachter in der Exploration im Zuge seiner Verhaltensbeobachtung, die er gegebenenfalls durch testpsychologische Befunde ergänzt, seinen Eindruck zur Persönlichkeitsentwicklung bzw. zur aktuellen psychischen Befindlichkeit des Betroffenen erheben. Darüber hinaus werden in jüngster Zeit empirisch relativ gut abgesicherte Schätzverfahren verwendet (vgl. Hart u. a. (1995) sowie Müller-Isberner u. a. (1998)), die auf der Grundlage der erhobenen Daten geeignet sind, zukünftige Verhaltensauffälligkeiten bzw. die Wahr-scheinlich ihres Auftretens abzuschätzen. Der Einsatz solcher Verfahren setzt umfassende diagnostische Erfahrung voraus.

Inhaltliche Anforderungen

Am Ende hat sich die kriminalprognostische Aussage auf die Umstände einzugrenzen, für die die Prognose gelten soll. Es sind diejenigen Variablen zu benennen, die dass individuelle Rückfallrisiko beeinflussen, also minimieren bzw. erhöhen könnten.


Konsequenzen von Kriminalprognosen und Prognosefehler

Die formale Entscheidung des Rechtsanwenders wird sich i. d. R. mit dem Fazit des Progno-segutachtens im Einklang befinden. Damit ist verbunden, dass der Prognosegutachter eine beträchtliche Verantwortung über Freiheit oder Unfreiheit seines Probanden übernommen hat. Abgesehen von den schadensersatzrechtlichen Vorschriften des § 839a des BGB, wonach ein vom Gericht ernannter Sachverständiger zum Ersatz des Schadens, der einem Verfah-rensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entsteht, verpflichtet ist, sofern er vor-sätzlich oder grobfahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstattet hat (vgl. Lesting 2002), ist stets zu gewärtigen, dass im Resümee fehlerhafte Begutachtungen sich auf zweierlei Weise (vgl. Volckart 2002) auswirken werden. Zum einen ist zu besorgen, dass eine irrtümlich günstige Prognose zukünftige, theoretisch vermeidbar gewesene Opfer nach sich ziehen kann. Derartige Fälle werden regelmäßig in Öffentlichkeit und Boulevardpresse dramatisch zugespitzt, sind gleichwohl für alle Verfah-rensbeteiligten durchweg schrecklich und belastend. Die andere Möglichkeit fehlerhafter Beurteilung wird in aller Regel keine Schlagzeilen produ-zieren und wird daher auch nicht statistisch zu erfassen sein: Gemeint ist die Möglichkeit, irrtümlich eine ungünstige Prognose zu formulieren, also rückfällige Kriminalität zu prognosti-zieren, was fortgesetzte Unterbringung in der Freiheitsentziehung mit sich bringen wird, ob-gleich jeder empirische Beleg für die Richtigkeit dieser Prognose ausbleibt und der Verurteil-te, obwohl zuvor als ausdrücklich rückfallgefährdet prognostiziert, tatsächlich nie wieder eine Straftat begehen wird. Sein weiterer Lebensweg, seine Eingliederung in die Gesellschaft, seine familiäre Einbindung usw. werden auf nachhaltige Weise gehindert. In der Konsequenz würde also eine Freiheitsentziehung aufgrund der irrtümlich ungünstigen Prognose unnöti-gerweise fortgesetzt werden, der Gegenbeweis jedoch nie geführt werden können, weil der Betroffene ja in der Freiheitsentziehung verbleibt.



Literatur

Boetticher et al. (2006): Mindestanforderungen für Prognosegutachten. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), Heft 10, S. 537-592, 26. Jg.

Dittmann (1998): Die schweizerische Fachkommission zur Beurteilung „gemeingefährlicher“ Straftäter. In: Müller-Isberner u. Gonzales-Cabeza (Hrsg.): Forensische Psychiatrie –Schuldfähigkeit –Kriminalprognose (S. 173-183). Mönchengladbach, o.J.

Fahrenberg, Hampel, Selg (2001): Das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R).

Hare et al. (1990): The revised psychopathy checklist. In: Psychological Assessment: A Journal of Consulting and Clinical Psychology, 2, S. 338-341.

Lesting (2002): Die Neuregelung der zivilrechtlichen Haftung des gerichtlichen Sachverstän-digen für ein unrichtiges Gutachten. In: Recht & Psychiatrie, Heft 4, S. 224-229, 20. Jg.

Müller-Isberner, Jöckel und Gonzalez Cabeza (1998): Das HCR-20. Deutsche Version. Insti-tut für forensische Psychiatrie, Haina 1998.

Volckart (2002): Zur Bedeutung der Basisrate in der Kriminlaprognose. In: Recht & Psychiatrie, Heft 2, S. 105-114, 20. Jg.