Kriminalprognose: Unterschied zwischen den Versionen

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Fehlerhafte Individualprognosen können sich auf zwei sehr unterschiedliche Weisen auswirken. Zum einen kann eine irrtümlich günstige Prognose zukünftige, theoretisch vermeidbar gewesene Opfer nach sich ziehen und negative Folgen auch für den Gutachter zeitigen (z.B. § 839a BGB; Ausschluss von künftigen Begutachtungen). Zum anderen kann eine Freiheitsentziehung aufgrund einer irrtümlich ungünstigen Prognose unnötigerweise fortgesetzt werden. Da irrtümlich günstige Prognosen erkannt und oft auch skandalisiert werden, während irrtümlich ungünstige Prognosen mangels Freilassung der Inhaftierten nicht erkannt werden können, besteht ein starker Anreiz für eine restriktive, eher "falsche Positive" in Kauf nehmende Gutachtenpraxis.
Fehlerhafte Individualprognosen können sich auf zwei sehr unterschiedliche Weisen auswirken. Zum einen kann eine irrtümlich günstige Prognose zukünftige, theoretisch vermeidbar gewesene Opfer nach sich ziehen und negative Folgen auch für den Gutachter zeitigen (z.B. § 839a BGB; Ausschluss von künftigen Begutachtungen). Zum anderen kann eine Freiheitsentziehung aufgrund einer irrtümlich ungünstigen Prognose unnötigerweise fortgesetzt werden. Da irrtümlich günstige Prognosen erkannt und oft auch skandalisiert werden, während irrtümlich ungünstige Prognosen mangels Freilassung der Inhaftierten nicht erkannt werden können, besteht ein starker Anreiz für eine restriktive, eher "falsche Positive" in Kauf nehmende Gutachtenpraxis.


Obwohl die Gütekriterien von Gutachten im Prinzip bekannt sind, weisen Gutachten in der Praxis immer wieder erhebliche Mängel auf. Ob Schuldfähigkeits- oder Prognosegutachten: immer wieder fehlen Familien-, Sexual-, Eigen- und Deliktanamnesen, Angaben zum Krankheitsverlauf und testpsychologische Befunde; Vorbefunde werden unkritisch übernommen, die Auslösetat wird nicht hinreichend (z.B. im Hinblick auf psychotrope Substanzen) analysiert, der jüngere Entwicklungsverlauf des Begutachteten, seine Außenkontakte und Zukunftsperspektive werden nicht berücksichtigt. In diesem Sinne "schlecht" oder "sehr schlecht" sind sicherlich nicht alle Gutachten, wohl aber ein großer Teil - vielleicht die Hälfte.


===Klinische vs. diagnostisch-statistische Prognosestrategien===
===Klinische vs. diagnostisch-statistische Prognosestrategien===
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Anstatt die klinische Einzelfallprognose und die auf statistischen Verfahren beruhenden Instrumente gegeneinander auszuspielen, haben Endres (2000) und Dahle (2005) Kombinationsverfahren vorgeschlagen, die eine differenzierte Datensammlung mit hoher Transparenz des Vorgehens verbinden.  
Anstatt die klinische Einzelfallprognose und die auf statistischen Verfahren beruhenden Instrumente gegeneinander auszuspielen, haben Endres (2000) und Dahle (2005) Kombinationsverfahren vorgeschlagen, die eine differenzierte Datensammlung mit hoher Transparenz des Vorgehens verbinden.  


===Standards===


Ein Zug zur Etablierung von Standards ist unverkennbar. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1999 zu Mindeststandards bei Glaubhaftigkeitsgutachten (BGHSt 45: 164) ist auch die Qualität von Prognosegutachten erneut in den Blickpunkt gerückt worden (vgl. Dahle 2005: 13). Standardisierungsversuche wurden etwa von Bötticher u. a. (2006) unternommen. Danach muss der Prognosegutachter belegte Informationen und Befunde transparent und für den Rechtsanwender nachvollziehbar zu Grunde legen und aus diesen seine Wahrscheinlichkeitsaussagen nachvollziehbar ableiten. Prognosegutachter werden die verfügbaren schriftlichen Informationen wie Gerichtsakten, Urteilsbegründungen, ggf. vorhandene Vorgutachten sowie die Dokumentation der bisherigen Vollstreckung auswerten. In der ausführlichen Exploration wird neben der biografischen und insbesondere kriminellen Anamnese zu beurteilen sein, wie der Verurteilte zum Anlassdelikt steht, welche Sichtweisen zum Tatvorlauf bzw. mit Blick auf eventuell Geschädigte der Verurteilte aktuell einnimmt usw. Eigenes Beziehungsverhalten sowie Suchtmittelkonsum sind weitere unverzichtbare Themenfelder. Zudem wird der Prognosegutachter in der Exploration im Zuge seiner Verhaltensbeobachtung, die er gegebenenfalls durch testpsychologische Befunde ergänzt, seinen Eindruck zur Persönlichkeitsentwicklung bzw. zur aktuellen psychischen Befindlichkeit des Betroffenen erheben. Darüber hinaus werden in jüngster Zeit empirisch relativ gut abgesicherte Schätzverfahren verwendet (vgl. Hart u. a. 1995 sowie Müller-Isberner u. a. 1998)), die auf der Grundlage der erhobenen Daten geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens künftiger Verhaltensauffälligkeiten abzuschätzen. Am Ende hat sich die kriminalprognostische Aussage auf die Umstände einzugrenzen, für die die Prognose gelten soll. Es sind diejenigen Variablen zu benennen, die dass individuelle Rückfallrisiko beeinflussen können. Kritisch zu solchen Standards äußert sich Pfäfflin (2006).


===Zulässigkeit===


===Zulässigkeit===
===Kritik===
 
Karl Schumann (1994: 41) äußerte angesichts der Tendenz zu immer ausgefeilter differenzierenden Klassifikationen die Vermutung, "echte Vorhersagen" immer mehr durch bloße Zuordnungen zu einem Typus abgelöst würden, die nur noch "als Prognose verkleidet" würden.
Als eine ähnliche "prognostische Verkleidung" sieht Pollähne (2006: 246, 252-255) die Vorhersage des Rückfalls aufgrund einer hochspezifischen Basisrate an.


== Gruppenprognosen ==
== Gruppenprognosen ==


Aussagen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von strafbaren Handlungen in bestimmten Kollektiven gewinnen in der neueren Kriminalpolitik an Bedeutung. Sie stellen als Mittel des Risikomanagements den Kern der "new penology" und der "actuarial justice" dar.
Aussagen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von strafbaren Handlungen von Kollektiven sind z.B. im Hinblick auf die Vorhersage der Entstehung oder des künftigen Verhaltens von Terror-Gruppen von Bedeutung. Daneben erhält die Kollektivprognose in der allgemeinen Kriminalpolitik durch den Aufschwung der "actuarial justice" einen gewissen Bedeutungszuwachs.
 
Was Terror-Gruppen angeht, so hat das Institute for Advanced Computer Studies an der University of Maryland mit Geldern der US-Luftwaffe ein Programm namens SOMA (= Stochastic Opponent Modeling Agents) entwickelt, das es ermöglichen soll, aus Informationen über das vergangene Verhalten solcher Gruppen situationsbezogene Prognosen abzuleiten. SOMA erlaubt Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der "an organization, community, or person" in je verschiedenen Situationen auf diese oder jene Weise reagieren wird. SOMA hat Zehntausende von Verhaltensregeln bezüglich des wahrscheinlichen Verhaltens von rund 30 Gruppen herausdestilliert, darunter der Hizbollah, der Hamas, von Hezb-I-Islami und anderen. Aufschluss über die Funktionsweise des gegenwärtig von vier us-amerikanischen Militär-Behörden benutzten Vorhersagemodells gibt dieses Paper (pdf): Stochastic Opponent Modeling Agents: A Case tudy with Hezbollah.


== Globalprognosen ==
== Globalprognosen ==
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Association of British Insurers (2000) Future Crime Trends in Great Britain. London http://projects.bre.co.uk/frsdiv/crimetrends/Crime_Trends_Report.pdf (aufgerufen 12.02.08)
Association of British Insurers (2000) Future Crime Trends in Great Britain. London http://projects.bre.co.uk/frsdiv/crimetrends/Crime_Trends_Report.pdf (aufgerufen 12.02.08)
Dreyer, Michaela (o.J.) Die Vorhersage von Gewaltdelikten. Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei der Prognosestellung im Zusammenhang mit schweren Gewalttaten?
http://www.uni-greifswald.de/~fsrpsych/Studium/harb/sicher.pdf  (aufgerufen 18.02.08)
SOMA (2008) http://criminologia.de/?p=106  (aufgerufen 28.08.08)
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