Kriminalprognose: Unterschied zwischen den Versionen

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Kriminalprognosen unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Allgemeinheit wie auch nach der Art ihres Zustandekommens. Was den erstgenannten Gesichtspunkt angeht, so kann man personenbezogene Individualprognosen von Gruppen- und Globalprognosen abgrenzen:   
Kriminalprognosen unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Allgemeinheit wie auch nach der Art ihres Zustandekommens. Was den erstgenannten Gesichtspunkt angeht, so kann man personenbezogene Individualprognosen von Gruppen- und Globalprognosen abgrenzen:   


(1) Individualprognosen dienen der Einschätzung des Delinquenz-, bzw. Rückfallrisikos bei einzelnen Personen. Beispiele: Wie hoch ist das Risiko des Kindes A, dass es im Alter von 18 Jahren schon einmal strafrechtlich auffällig geworden sein wird? Wie hoch ist das Risiko des Strafgefangenen B, dass er - wenn er jetzt entlassen wird - binnen drei Jahren rückfällig wird?  
(1) Individualprognosen (Mikroprognosen) dienen der Einschätzung des Delinquenz-, bzw. Rückfallrisikos bei einzelnen Personen. Beispiele: Wie hoch ist das Risiko des Kindes A, dass es im Alter von 18 Jahren schon einmal strafrechtlich auffällig geworden sein wird? Wie hoch ist das Risiko des Strafgefangenen B, dass er - wenn er jetzt entlassen wird - binnen drei Jahren rückfällig wird?  


(2) Gruppenbezogene Prognosen beziehen sich auf die Entstehung, Entwicklung und Auflösung von delinquenten Kollektiven. Beispiele: Wie hoch ist das Risiko der Entstehung von delinquenten Jugendbanden im Gebiet W innerhalb der nächsten fünf Jahre? Wie hoch ist das Risiko der Entstehung von Terrorgruppen im Land X während der nächsten zehn Jahre? Wie hoch ist das Risiko der Begehung von strafbaren Menschenrechtsverletzungen durch die militärische Einheit Y bei ihrem Einsatz in Z?  
(2) Gruppenbezogene Prognosen (Mesoprognosen) beziehen sich auf die Entstehung, Entwicklung und Auflösung von delinquenten Kollektiven. Beispiele: Wie hoch ist das Risiko der Entstehung von delinquenten Jugendbanden im Gebiet W innerhalb der nächsten fünf Jahre? Wie hoch ist das Risiko der Entstehung von Terrorgruppen im Land X während der nächsten zehn Jahre? Wie hoch ist das Risiko der Begehung von strafbaren Menschenrechtsverletzungen durch die militärische Einheit Y bei ihrem Einsatz in Z?  
   
   
(3) Makrosoziologische Prognosen beziehen sich ganz allgemein auf die Zukunft des Verbrechens, bzw. auf die Entwicklung der Kriminalitätsraten und die zu erwartenden Veränderungen in den Erscheinungsformen der Kriminalität. Beispiele: Wird die Kriminalität in New York in der nächsten Dekade ansteigen oder abfallen? Mit welchen neuen Formen der Kriminalität ist in Europa in den nächsten drei Jahrzehnten zu rechnen?
(3) Makrosoziologische Prognosen (Makroprognosen) beziehen sich ganz allgemein auf die Zukunft des Verbrechens, bzw. auf die Entwicklung der Kriminalitätsraten und die zu erwartenden Veränderungen in den Erscheinungsformen der Kriminalität. Beispiele: Wird die Kriminalität in New York in der nächsten Dekade ansteigen oder abfallen? Mit welchen neuen Formen der Kriminalität ist in Europa in den nächsten drei Jahrzehnten zu rechnen?





Version vom 17. Februar 2008, 17:35 Uhr

Kriminalprognosen sind (Wahrscheinlichkeits-) Aussagen über künftige kriminelle Handlungen, Ereignisse oder Entwicklungen. In der Strafrechtspraxis liegen sie den meisten Entscheidungen über die Ausgestaltung, bzw. die Beendigung von Freiheitsentziehungen zugrunde. In der Polizeistrategie und in der Kriminalpolitik spielen sie ebenfalls eine Rolle. Unter dem Gesichtspunkt ihrer technischen Güte ("Zuverlässigkeit") erweisen sich Prognosen allerdings häufig als ebenso problematisch wie unter demjenigen ihrer rechtlichen Qualität ("Zulässigkeit").


Arten der Kriminalprognose

Kriminalprognosen unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Allgemeinheit wie auch nach der Art ihres Zustandekommens. Was den erstgenannten Gesichtspunkt angeht, so kann man personenbezogene Individualprognosen von Gruppen- und Globalprognosen abgrenzen:

(1) Individualprognosen (Mikroprognosen) dienen der Einschätzung des Delinquenz-, bzw. Rückfallrisikos bei einzelnen Personen. Beispiele: Wie hoch ist das Risiko des Kindes A, dass es im Alter von 18 Jahren schon einmal strafrechtlich auffällig geworden sein wird? Wie hoch ist das Risiko des Strafgefangenen B, dass er - wenn er jetzt entlassen wird - binnen drei Jahren rückfällig wird?

(2) Gruppenbezogene Prognosen (Mesoprognosen) beziehen sich auf die Entstehung, Entwicklung und Auflösung von delinquenten Kollektiven. Beispiele: Wie hoch ist das Risiko der Entstehung von delinquenten Jugendbanden im Gebiet W innerhalb der nächsten fünf Jahre? Wie hoch ist das Risiko der Entstehung von Terrorgruppen im Land X während der nächsten zehn Jahre? Wie hoch ist das Risiko der Begehung von strafbaren Menschenrechtsverletzungen durch die militärische Einheit Y bei ihrem Einsatz in Z?

(3) Makrosoziologische Prognosen (Makroprognosen) beziehen sich ganz allgemein auf die Zukunft des Verbrechens, bzw. auf die Entwicklung der Kriminalitätsraten und die zu erwartenden Veränderungen in den Erscheinungsformen der Kriminalität. Beispiele: Wird die Kriminalität in New York in der nächsten Dekade ansteigen oder abfallen? Mit welchen neuen Formen der Kriminalität ist in Europa in den nächsten drei Jahrzehnten zu rechnen?


Nach der Art ihres Zustandekommens werden Prognosen häufig folgendermaßen unterschieden:

(1) Intuitive Prognosen

(2) Klinische Prognosen

(3) Statistische Prognosen

Individualprognosen

(1) Nutzung

Individualprognosen dienen in der Praxis meistens der Begründung, der Modifizierung oder der Beendigung von Freiheitsentziehungen. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten (1998) hat ihre Häufigkeit in Deutschland erheblich zugenommen.

Sie können aber auch der Früherkennung von Delinquenzrisiken im frühesten Kindesalter, bzw. der Identifizierung möglicher künftiger Intensivtäter (etwa seitens der Jugendhilfe) dienen.

Außerhalb des kriminalrechtlichen Kontextes kommen Individualprognosen - etwa in der Form von Behandlungsprognosen, bzw. der Beurteilung von Rückführungshindernissen - auch in Asylverfahren vor sowie im Kontext der zivilrechtlichen Unterbringung nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen der Länder. Darüber hinaus spielen Individualprognosen auch in Sorgerechtsverfahren oder im Zusammenhang mit vorzeitiger Berentung in Sozialrechtsverfahren eine erhebliche Rolle.


(2) Wer stellt die Prognosen?

Kriminalprognosen zur Frage der zukünftigen Legalprognose eines Verurteilten werden in der Regel durch Diplompsychologen oder Psychiater erstellt, die üblicher Weise entweder im Strafvollzug bzw. in forensischen Fachkrankenhäusern oder in freier Praxis tätig sind.

Externe, d.h. nicht von Anstaltsbediensteten, sondern von unabhängigen Experten erstellte Gutachten sind im deutschen Recht zwingend vorgeschrieben, wenn es um besonders folgenreiche Entscheidungen über Freiheit oder Unfreiheit geht, also etwa bei Entscheidungen über die Einweisung in den Maßregelvollzug oder in die Sicherungsverwahrung, über Lockerungen und Entlassungen aus dem Maßregelvollzug, über die Entlassung aus lebenslanger Haft oder um das Aussetzen von Reststrafen zur Bewährung bei Sexual- und Gewaltstraftätern.

Von anstaltsintern Beschäftigten werden Prognosen in großer Häufigkeit über die Aufnahme in eine sozialtherapeutische Abteilung, über Lockerungen oder Urlaub aus der Strafhaft und über sonstige Entscheidungen über die Modalitäten der Haft erstellt.

Es gibt auch Instrumente für sog. nichtklinische Laien. So etwa den P-SCAN (Psychopathy Scan) von Hare und Hervé (1999) oder das vom deutschen Kriminologen Michael Bock entwickelte MIVEA.

Sachverständige werden aufgrund eines Beschlusses des jeweils zuständigen Gerichts beauftragt, um das Gericht zu beraten. Die Sachverständigen-Äußerung ersetzt aber nicht die Entscheidung des Gerichts. Der Rechtsanwender - also das Gericht, die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde oder die Justizvollzugsanstalt als Vollzugsbehörde - muss die entscheidungserheblichen Erwägungen des Prognostikers für die eigene Entscheidungsfindung nutzbar machen und seiner eigenen (wiederum gerichtlich überprüfbaren und gegebenenfalls anfechtbaren) Entscheidung zugrunde legen. Während Gutachten das Risiko auf einem Kontinuum verorten, ist der Rechtsanwender zu einer Ja/Nein-Entscheidung genötigt: ist die Prognose "günstig genug" oder ist sie es nicht, um eine bestimmte Entscheidung zu tragen? „Der Umschlagspunkt zwischen günstig und ungünstig ist nicht naturgegeben. Der Rechtsanwender hat die Grundlagen für den Ort des Umschlagspunktes zu ermitteln und diesen dann selbst zu bestimmen“ (Volckart 2006). Der forensische Prognostiker ist zwar nicht Entscheider. Gleichwohl wird i. d. R. seine Prognoseerwägung der formalen Entscheidung z. B. über den Fortgang der Freiheitsentziehung innewohnen.


(3) Prognose-Instrumente

Der allgemeinen Risikodiagnose und Rückfallprognose dient die Psychopathie-Checkliste in der Form der Psychopathy Checklist Revisited (PCL-R; Hare & Neumann 2006). Überprüft werden 20 Items, die sich auf den Verhaltens- und Lebensstil des Probanden beziehen. Inzwischen gibt es auch eine 12 Items umfassende Screening-Variante (PCL: SV) und eine Version für Jugendliche (PCL-YV). Eine deutsche Version, die zur Begutachtung eines Probanden ein 90-120minütiges Interview erfordert, stammt von Sevecke und Krischer (2005). Ein weiteres Verfahren - das ebenfalls in deutscher Übersetzung vorliegt - ist der Violence Risk Appraisal Guide (VRAG). Zudem gibt es neuerdings das Kieler Psychopathie Inventar (KPI) von Dennis Köhler. - Speziell für Straftäter mit einer psychischen Störung ist das Historical Clinical Risk Assessment (HCR-20) bestimmt (deutsche Version: Müller-Isberner u.a. 1998). - Beim Multiple Iterative Classification Tree (ICT) handelt es sich um ein aktuarisches Verfahren, das einen Probanden aufgrund einer computergestützten Klassifikation einer Gruppe mit bekanntem Rückfallrisiko zuweist. - Im Gegensatz zum ICT ist das von Dittmann u.a. in der Schweiz erarbeitete Prognoseinstrument - die Kriterienliste der Fachkommissionen des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz - idiographisch-klinisch orientert. Ebenfalls idiographisch ist der (mit einem viel umfangreicheren Kriterienkatalog arbeitende) Therapie-Risiko-Evaluations-Test (TRET) von Urbaniok. - Die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA; Bock 1995) soll auch für Nicht-Psychologen und Nicht-Psychiater nutzbar sein (zur Kritik: Graebsch & Burkhardt 2006).

Andere Instrumente wurden speziell für jugendliche Straftäter (FORAI; WAJA, EARL-20B; SAVRY) oder Sexualstraftäter entwickelt (SVR-20; RRS-H; RRS-S; RRS-VE; RRS-SM; SORAG; STATIC-99; RRASOR; SACJ-Min u.a.).

Manche Verfahren mit rückfallprognostischen Aspekten - wie etwa das Level of Service Inventory (LSI-R) oder das Youth Level of Service/Case Management Inventory (YLS/CMI) - dienen eher der Diagnose der Behandlungsbedürfnisse und dem Risikomanagement. Hier geht es weniger darum, die Rückfallwahrscheinlichkeit einzuschätzen, als darum, Bedingungen so zu verändern, dass es möglich wird, den Rückfall zu vermeiden.


(4) Zuverlässigkeit von Methoden und von Gutachten

Vor allem für statistische Verfahren gilt: Noch ist die Erprobungsphase bei vielen Verfahren noch nicht abgeschlossen. Besonders die deutschen Versionen angloamerikanischer Instrumente befinden sich meist noch im Prozess systematischer Validierung. Die statistischen Verfahren haben zudem typischerweise mit der sog. Mittelfeld-Problematik zu tun. Die meisten Probanden werden sich dank der Normalverteilungskurve in der Mitte wiederfinden, wo sie keine eindeutige Prognose erhalten ("Tendenz zur Mitte"). Die juristische Entscheidung ist aber eine Ja/Nein-Entscheidung und erfordert eine klare Wertung. Der Nutzen statistischer Verfahren ist damit für die große Zahl "mittlerer Fälle" eher gering. Darüber hinaus ist mangels Kreuzvalidierungen in unabhängigen Stichproben bei den quantitativen Verfahren die richtige Gewichtung einzelner Prädiktoren keineswegs gesichert.

Vor allem für klinische Prognosen gilt: die Qualität von Prognosegutachten wird häufig und gravierend von methodischen Unzulänglichkeiten (Pseudotheorien, Zirkelschlüsse, schwammige Begriffe), von sozialen und moralischen Vorurteilen, von einer negativen Beziehung zwischen Gutachtern und Probanden sowie von sachfremden Rollenkonzepten der Gutachter bezüglich ihrer Stellung im Strafprozess beeinträchtigt (Verrel 1995, Wolff 1995).

Fehlerhafte Individualprognosen können sich auf zwei sehr unterschiedliche Weisen auswirken. Zum einen kann eine irrtümlich günstige Prognose zukünftige, theoretisch vermeidbar gewesene Opfer nach sich ziehen und negative Folgen auch für den Gutachter zeitigen (z.B. § 839a BGB; Ausschluss von künftigen Begutachtungen). Zum anderen kann eine Freiheitsentziehung aufgrund einer irrtümlich ungünstigen Prognose unnötigerweise fortgesetzt werden. Da irrtümlich günstige Prognosen erkannt und oft auch skandalisiert werden, während irrtümlich ungünstige Prognosen mangels Freilassung der Inhaftierten nicht erkannt werden können, besteht ein starker Anreiz für eine restriktive, eher "falsche Positive" in Kauf nehmende Gutachtenpraxis.

Obwohl die Gütekriterien von Gutachten im Prinzip bekannt sind, weisen Gutachten in der Praxis immer wieder erhebliche Mängel auf. Ob Schuldfähigkeits- oder Prognosegutachten: immer wieder fehlen Familien-, Sexual-, Eigen- und Deliktanamnesen, Angaben zum Krankheitsverlauf und testpsychologische Befunde; Vorbefunde werden unkritisch übernommen, die Auslösetat wird nicht hinreichend (z.B. im Hinblick auf psychotrope Substanzen) analysiert, der jüngere Entwicklungsverlauf des Begutachteten, seine Außenkontakte und Zukunftsperspektive werden nicht berücksichtigt. In diesem Sinne "schlecht" oder "sehr schlecht" sind sicherlich nicht alle Gutachten, wohl aber ein großer Teil - vielleicht die Hälfte.

(5) Klinische vs. diagnostisch-statistische Prognosestrategien

Anstatt die klinische Einzelfallprognose und die auf statistischen Verfahren beruhenden Instrumente gegeneinander auszuspielen, haben Endres (2000) und Dahle (2005) Kombinationsverfahren vorgeschlagen, die eine differenzierte Datensammlung mit hoher Transparenz des Vorgehens verbinden.

(6) Standards

Ein Zug zur Etablierung von Standards ist unverkennbar. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1999 zu Mindeststandards bei Glaubhaftigkeitsgutachten (BGHSt 45: 164) ist auch die Qualität von Prognosegutachten erneut in den Blickpunkt gerückt worden (vgl. Dahle 2005: 13). Standardisierungsversuche wurden etwa von Bötticher u. a. (2006) unternommen. Danach muss der Prognosegutachter belegte Informationen und Befunde transparent und für den Rechtsanwender nachvollziehbar zu Grunde legen und aus diesen seine Wahrscheinlichkeitsaussagen nachvollziehbar ableiten. Prognosegutachter werden die verfügbaren schriftlichen Informationen wie Gerichtsakten, Urteilsbegründungen, ggf. vorhandene Vorgutachten sowie die Dokumentation der bisherigen Vollstreckung auswerten. In der ausführlichen Exploration wird neben der biografischen und insbesondere kriminellen Anamnese zu beurteilen sein, wie der Verurteilte zum Anlassdelikt steht, welche Sichtweisen zum Tatvorlauf bzw. mit Blick auf eventuell Geschädigte der Verurteilte aktuell einnimmt usw. Eigenes Beziehungsverhalten sowie Suchtmittelkonsum sind weitere unverzichtbare Themenfelder. Zudem wird der Prognosegutachter in der Exploration im Zuge seiner Verhaltensbeobachtung, die er gegebenenfalls durch testpsychologische Befunde ergänzt, seinen Eindruck zur Persönlichkeitsentwicklung bzw. zur aktuellen psychischen Befindlichkeit des Betroffenen erheben. Darüber hinaus werden in jüngster Zeit empirisch relativ gut abgesicherte Schätzverfahren verwendet (vgl. Hart u. a. 1995 sowie Müller-Isberner u. a. 1998)), die auf der Grundlage der erhobenen Daten geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens künftiger Verhaltensauffälligkeiten abzuschätzen. Am Ende hat sich die kriminalprognostische Aussage auf die Umstände einzugrenzen, für die die Prognose gelten soll. Es sind diejenigen Variablen zu benennen, die dass individuelle Rückfallrisiko beeinflussen können. Kritisch zu solchen Standards äußert sich Pfäfflin (2006).


(7) Zulässigkeit

Gruppenprognosen

Aussagen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von strafbaren Handlungen in bestimmten Kollektiven gewinnen in der neueren Kriminalpolitik an Bedeutung. Sie stellen als Mittel des Risikomanagements den Kern der "new penology" und der "actuarial justice" dar.

Globalprognosen

Globalprognosen suchen eine Antwort auf die Frage nach der künftigen Entwicklung der Kriminalitätsarten und -raten. Henner Hess (1998: 146) leitet z.B. aus einer Diagnose ökonomischer, demographischer und politischer Spannungen und Brüche ab, dass die Globalisierung den Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung senken und die Armutsbevölkerung zusätzlich durch Immigration erhöhen dürfte. Da dem Staat aber zugleich aufgrund seiner geringer werdenden Kapazitäten die Mittel für eine präventive Kontrolle durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen ebenso abhanden kommen werden wie die Mittel für eine umfassende panoptische Überwachung, wird die für vergangene Zeiten typische Tendenz zur sanften', d.h. medizinalisierten, therapeutischen, normalisierenden Reaktion zugunsten einer 'harten', repressiv-ausschließenden Kriminalpolitik aufgegeben werden. Es werden also - so Hess - "sowohl die Kriminalität als auch die Punitivität zunehmen." Noch prononcierter wird die Auffassung von der zunehmenden Bedeutung der Kriminalität im 21. Jahrhundert von Robert D. Kaplan vertreten, der 1997 (S. 14) die Auffassung äußerte, dass sich Kriminalität womöglich zu "the greatest danger of the next century" entwickeln würde (vgl. auch für Großbritannien: Association of British Insurers 2000).


Kritik der Kriminalprognosen

Engagement und Distanzierung

Gelegentlich wird in der Diskussion um Individualprognosen unterschieden zwischen solchen, die distanziert vorhersagen, wie die Chancen eines Strafgefangenen oder Maßregelinsassen auf eine rückfallfreie Zukunft stehen (einerseits) und solchen, die auf eine Verbesserung der Bewährungschancen abzielen (andererseits). Man kann demnach "distanzierte Prognosen" von "engagierten Prognosen" unterscheiden.


Literatur

Barton, Stephan (Hg.; 2006) "... weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!" Prognosegutachten, Neurobiologie, Sicherungsverwahrung. Baden-Baden: Nomos.

Bliesener, Thomas (2007) Psychologische Instrumente für Kriminalprognose und Risikomanagement. In: Praxis der Rechtspsychologie, 17, Heft 2: 323-344.

Bock, Michael (1995) Die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse und ihre Bedeutung für die Kriminalprognose. In: Dölling, D. (Hg.) Die Täter-Individualprognose. Heidelberg: Kriminalistik, 1-28.

Boetticher et al. (2006) Mindestanforderungen für Prognosegutachten. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), 26, Heft 10, S. 537-592.

Dahle, Klaus-Peter (2005) Psychologische Kriminalprognose. Wege zu einer integrativen Methodik für die Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit bei Strafgefangenen. Herbolzheim: Centaurus.

Dittmann (1998): Die schweizerische Fachkommission zur Beurteilung „gemeingefährlicher“ Straftäter. In: Müller-Isberner u. Gonzales-Cabeza (Hrsg.): Forensische Psychiatrie –Schuldfähigkeit –Kriminalprognose (S. 173-183). Mönchengladbach, o.J.

Endres, Johann (2000) Die Kriminalprognose im Strafvollzug: Grundlagen, Methoden und Probleme der Vorhersage von Straftaten. Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 49, 67-83.

Fahrenberg, Hampel, Selg (2001): Das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R).

Graebsch, Christine & Burkhardt, Sven U. (2006) MIVEA - Young care? Prognoseverfahren für alle Altersgruppen, oder doch nur Kosmetik? Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 2, 140-147.

Hare, Robert D et al. (1990): The revised psychopathy checklist. In: Psychological Assessment: A Journal of Consulting and Clinical Psychology, 2, S. 338-341.

Hare, Robert D & Hervé, Hugues F. (1999) Hare P-SCAN. Toronto: Multi-Health Systems.

Hare, Robert D. & Neumann, Craig S. (2006) The PCL-R assessment of psychopathy: Development, structural properties, and new directions. In: C. J. Patrick (ed.) Handbook of the psychopathy. New York: Guilford: 58-88.

Hess, Henner (1998): Die Zukunft des Verbrechens. In: Kritische Justiz, 31, Heft 2: 145-161.

Kaplan, Robert D (1997): The Ends of the Earth. London, New York: Papermac.

Lesting, Wolfgang (2002): Die Neuregelung der zivilrechtlichen Haftung des gerichtlichen Sachverstän-digen für ein unrichtiges Gutachten. In: Recht & Psychiatrie, 20, Heft 4, S. 224-229.

Müller-Isberner, Jöckel und Gonzalez Cabeza (1998): Das HCR-20. Deutsche Version. Institut für forensische Psychiatrie, Haina 1998.

Nedopil, Norbert (2005) Prognosen in der Forensischen Psychiatrie - Ein Handbuch für die Praxis. Lengerich usw.: Pabst.

Pfäfflin, Friedemann (2006) Mängel in Prognosegutachten. In: St. Barton 2006: 259-268.

Sevecke, Kathrin & Krischer, Maya K. (2005) Diagnostische Zugänge zur Erfassung von Dissozialität im Jugendalter: Die Psychpathy Checklist als Version für Jugendliche. In: K.P. Dahle & R. Volbert, Eds., Entwicklungspsychologsiche Aspekte der Rechgtspsychologie. Göttingen: Hogrefe: 185-191.

Verrel, Torsten (1995) Schuldfähigkeitsbegutachtung und Strafzumessung bei Tötungsdelikten. München: Fink.

Volckart, Bernd (2002): Zur Bedeutung der Basisrate in der Kriminlaprognose. In: Recht & Psychiatrie, 20, Heft 2, S. 105-114.

Wolff, Stephan (1995) Text und Schuld. Die Rhetorik psychiatrischer Gerichtsgutachten. Berlin/New York.

Links

Association of British Insurers (2000) Future Crime Trends in Great Britain. London http://projects.bre.co.uk/frsdiv/crimetrends/Crime_Trends_Report.pdf (aufgerufen 12.02.08)