Kriminalität der Mächtigen

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Inhaltsverzeichnis


1. Begriff

2. Charakteristik

3. Geschichte

4. Erscheinungsformen

5. Verwandte Konzepte

6. Kriminologische Relevanz

7. Literaturhinweise


Begriff

Kriminalität der Mächtigen ist ein kriminologisches Konzept, dass seit Mitte der 70er Jahre diskutiert wird. Die Definition dessen, was als Kriminalität der Mächtigen verstanden werden soll, bereitet einige Schwierigkeiten. Dies hängt damit zusammen, dass die hier maßgeblichen Begriffe „Kriminalität“ und „Macht“ bzw. „Mächtige“ unterschiedlich weit verstanden werden.


Macht

Eine geläufige Definition fasst unter die Bezeichnung KdM alle nach positivem Recht strafbaren Taten, die zur Stärkung oder Verteidigung überlegener Macht begangen werden. Solche Überlegenheit zeigt sich in vielfältigen Situationen, nicht nur in wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen, sondern auch etwa im familiären Bereich. Grundlage ist im Wesentlichen der Machtbegriff Max Webers, wonach Macht als Chance verstanden wird, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf die Chance beruht (vgl.Scheerer, 1993). Die Machtkonstellationen können sich auch fortlaufend ändern, so dass die Rolle des „Mächtigen“ je nach Situation auch wechselseitig austauschbar erscheint.

Gegen eine solche weite Fassung des Machtbegriffs wird jedoch die Gefahr der Ausuferung geltend gemacht, wodurch eine sinnvolle Handhabung des so seiner Schärfe beraubten Konzeptes kaum gegeben ist (vgl. Bock, 1995; Kaiser 1995). Schließlich ist zumindest jede interpersonelle Straftat mit einem Machtgefälle verbunden. Gerade weil der Begriff der Kriminalität der Mächtigen sich als herrschaftskritischer Topos herausgebildet hat, erscheint ein situativer Machtbegriff als problematisch. Deshalb wird Macht in diesem Zusammenhang oft weniger als dynamisches Prinzip verstanden, denn als eher statische Struktur. Auf die Weise soll die KdM bewusst auch der Unterschichtskriminalität gegenübergestellt werden, indem politisch und/oder wirtschaftlich mächtige Gruppen in den Fokus geraten. Daher werden als „Mächtige“ im Sinne des Konzepts nur solche Personen betrachtet, die eine über das allgemein Verfügbare hinausgehende überragende Machtposition innehaben. Zugleich sind diejenigen Straftaten ausgeschlossen, die zwar von solchen Personen begangen worden sind, aber keinen Bezug zur Stärkung oder Verteidigung dieser Machtposition haben.


Kriminalität

Unterschiede bei der Beurteilung der KdM ergeben sich auch je nachdem, ob der legalistische Kriminalitätsbegriff oder der materiell-soziologische Verbrechensbegriff zugrunde gelegt wird. Teilweise wird auch von einem erweiterten legalistischen Verbrechensbegriff gesprochen. Problematisch am legalistischen, auf die Verletzung von Strafrechtsnormen bezogenen Verbrechensbegriff ist, dass das Strafrecht selbst maßgeblich von Machtkonstellationen abhängig ist und von gesellschaftlich mächtigen Gruppen durchgesetzt wird. Damit könnte es gerade diejenigen sozialschädlichen Handlungen aus dem Blick verlieren, die auf den Machterhalt von sich als Elite verstehenden Gruppen abzielen. Andererseits ist das Strafrecht auch ein Aushandlungsergebnis von gesellschaftlichen Prozessen, dass den gesellschaftlich Mächtigen Kompromisse abverlangt (vgl. Hess 1976). Ein materieller Kriminalitäts- bzw. Verbrechensbegriff setzt sich demgegenüber dem Einwand aus, zu beliebig und von individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen abhängig zu sein. Der erweiterte legalistische Kriminalitätsbegriff versucht die Legalisierungsmöglichkeiten von materiellem Unrecht durch staatliche Instanzen durch Rückgriff auf allgemeine, international anerkannte Rechtsgrundsätze auszugleichen.


Charakteristik

Die Kriminologie der Mächtigen ist gekennzeichnet durch eine hohe Schadenshöhe bei geringer Beunruhigung der Bevölkerung, arbeitsteilige Begehungsweise, relative Sanktionsimmunität bei geringer Stigmatisierung. Durch die oft gegebene Funktionalisierung von hierarchischen Strukturen zur Begehung der kriminellen Handlungen gibt es ein entsprechen breites Feld von Beteiligten. Darüber hinaus besteht oft auch eine enge Verflochtenheit mit wirtschaftlichen und politischen Prozessen, eine Verfolgung kann damit unkalkulierbare Auswirkungen auf andere Bereiche der Gesellschaft haben (etwa Massenentlassungen). Wenn doch Sanktionen erfolgen, sind sie vergleichsweise milde, eher symbolisch (vgl. zuletzt etwa die Fälle Ackermann, Hartz).


Geschichte

Die Kriminalität der Mächtigen wurde in den 70er Jahren innerhalb der kritischen Kriminologie thematisiert. Das Konzept wurde ein Schwerpunkt in einem Arbeitsprogramm zum Thema „Ungleichheit und Kriminalität“, das der AJK (Arbeitskreis kritischer Kriminologen) auf einer Programmtagung im Sommer 1973 initiiert hatte. Unter der Überschrift „Kriminalität der Mächtigen“ fand dann 1975 ein Symposium statt. 30 Jahre später wurde in Bielefeld dieses Thema erneut mit einer Tagung aufgegriffen.


Erscheinungsformen

Die Erscheinungsformen der Kriminalität der Mächtigen sind vielfältig. Beispielhaft seien hier genannt: Genozid, Folter, Kriegsverbrechen, Bestechlichkeit, illegale Überwachungen, Wahlbetrug als typische Kriminalität von Regierungen, auch Übergriffe der Polizei oder polizeinaher Gruppen, Kolonialverbrechen, Akte der sizilianischen Maffia, Verbrechen von religiösen Vereinigungen, illegale Maßnahmen von Unternehmern wie Bestechung und illegale Giftmüllentsorgung.


Verwandte Konzepte

White Collar Crime

Der Begriff des „white collar crime“ geht auf Southerland zurück. Darunter sind Verbrechen zu verstehen, die von Personen mit einem hohen sozialen Status begangen werden. Anders als die Kriminalität der Mächtigen ist dieses Konzept aber auf ökonomische Akteure beschränkt. Es differenziert auch nicht zwischen Straftaten, die auf Machterhaltung oder –erweiterung bezogen sind, und anderen Straftaten der bezeichneten Personengruppe.

Regierungskriminalität

Hierunter sind kriminelle Handlungen zu verstehen, die im Gefolge von Gesetzesanwendungen vom Staat begangen werden und einen Verstoß gegen höheres Recht darstellen. Die in Frage kommenden Akteure werden anders als beim Konzept der Kriminalität der Mächtigen hierbei lediglich als juristische Personen bzw. als körperschaftliche Akteure behandelt. Wirtschaftskriminalität bleibt dabei im Wesentlichen ausgeschlossen.

Makrokriminalität

Das von Herbert Jäger entwickelte Konzept der Makrokriminalität bezieht sich auf Verbrechen von besonderem Ausmaß. Dies ist etwa der Fall bei Kriegsverbrechen, Völker- und Massenmorden, dem Einsatz von Nuklearwaffen, Staats- und Gruppenterrorismus, Minderheitenverfolgung, Religionskonflikten, revolutionären und gegenrevolutionären Bewegungen. Der Begriff hat als eine Sammelbezeichnung nur eine auf das Phänomen hinweisende Funktion.


Repressives Verbrechen

Dieses Konzept von H. Hess bezieht sich auf die Erhaltung, Stärkung oder Verteidigung privilegierter Positionen, vor allem Macht und Besitz, und entspricht nach Scheerer (1993) dem Konzept der Kriminalität der Mächtigen. Allerdings liegt bei der KdM die Betonung auf dem Täter, während beim repressiven Verbrechen die Funktion der Tat im Mittelpunkt steht. Hess stellt diesem außerdem das revoltierende Verbrechen gegenüber, das die durch ersteres verteidigten Positionen und Strukturen angreift.


Ursachen

Lord Acton prägte die viel zitierte Sentenz, „Macht korrumpiert, totale Macht korrumpiert total.“ Nach der „rational choice theorie“, wie etwa von Chul Lee (1996) vertreten, wird eine der wichtigsten Ursachen der KdM in dem Umstand gesehen, dass eine Strafverfolgung bzw. Sanktionierung von den Akteuren für unwahrscheinlich gehalten wird. Entsprechend fällt die postulierte Kosten-Nutzen-Rechung aus. Psychodynamisch betrachtet, dürfte unter Umständen der hohe Wert der äußeren Position für das Identitätsgefühl der Betreffenden auch jenseits von Kosten-Nutzen-Erwägungen ins Gewicht fallen. Die Vermeidung von Ohnmacht kann ein wesentlicher Antrieb für das Anstreben von Machtpositionen sein und zugleich radikale Verteidigungsmethoden in Bezug auf eben diese Positionen in den Bereich des Möglichen rücken lassen. Auch die Ferne der Akteure zu den Ergebnissen ihrer Handlungen kann von erheblichem Einfluss sein. Dies etwa weil die unmittelbare Ausführung erst auf unteren Hierarchieebenen erfolgt. Auch werden die Auswirkungen bestimmter Handlungen unter Umständen erst mit großer zeitlicher Verzögerung sichtbar, wobei dann oft auch eine Kausalbeziehung nur schwer nachgewiesen werden kann.


Kriminologische Relevanz

Ein Paradigmenwechsel innerhalb der Kriminologie ist durch das Konzept der Kriminalität der Mächtigen wohl nicht herbeigeführt worden. Immer noch spielt die Unterschichtenkriminalität eine erheblichere Rolle und ist als primärer Topos der Kriminologie nicht beseitigt. Allerdings dürfte eine Erweiterung des kriminologischen Fokus, eine Problematisierung der Gleichsetzung von Kriminalität und Devianz wie eine Aufweichung der Grenzen zwischen Legalität und Illegalität erreicht worden sein.


Literaturhinweise

Bock, Michael, Kriminalität der Mächtigen, in: Günther Kaiser und Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Kriminologische Opferforschung, Teilband I, Kriminalistik Verlag, Heidelberg 1994

Kaiser, Günther, „Kriminalität der Mächtigen“ – Theorie und Wirklichkeit, in: Festschrift für Koichi Miyazawa, Nomos Verlag, Baden-Baden 1995, S. 159 ff.

Lee, Chul, Kriminalität der Mächtigen: Gegenstandsbestimmung, Erscheinungsformen und ein Versuch der Erklärung, in: Soziale Probleme 1995, S. 25 ff.

Pfeiffer, Dietmar K., Scheerer, Sebastian, Kriminalsoziologie, Kohlhammer, Stuttgart 1979

Reese, Carolin, Großverbrechen und kriminologische Konzepte, Lit Verlag Münster 2004

Scheerer Sebastian, Kriminalität der Mächtigen, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 1993, S. 246 ff.