Die Aufgabe der Justiz besteht in der Herstellung von (Rechts-) Frieden durch die Anwendung von Normen zur Streitschlichtung, bzw. zur Sanktionierung von Straftätern. Akteur der Justiz ist häufig ein "Dritter", d.h. eine nicht unmittelbar in den Konflikt involvierte Person/Institution, der eine gewisse Befähigung und Berechtigung für diese Aufgabe zugeschrieben wird. Das kann ein Stammesältester, ein Schamane, eine religiöse Autorität oder - in modernen Staaten - ein Gericht sein. Wo eine solche dritte Partei nicht involviert ist, spricht man von Selbstjustiz. Diese erfolgt allerdings häufig aufgrund unverhüllter Machtverhältnisse und verfügt im Allgemeinen über weniger Legitimität. Ein Einfluss der Machtverhältnisse auf die Justizgewährung (oder -verweigerung) durch Dritte ist allerdings auch nicht auszuschließen und Thema der empirischen Justizforschung sowie unter anderem auch des Theorems der Klassenjustiz. Ein weiteres Grundproblem der Justiz besteht in dem Spannungsverhältnis (und Zielkonflikt) zwischen der Ermöglichung materieller Gerechtigkeit im Einzelfall und der Gewährung von Rechtssicherheit.


Justiz ohne Staat

Wo eine Staatsmacht nicht vorhanden oder nicht stark genug ist, um eine Art Justizmonopol zu schaffen, werden Konflikte meist unmittelbar zwischen den Beteiligten gelöst - oder es werden dritte Parteien, denen eine gewisse Überparteilichkeit zugetraut wird (Schamanen, religiöse Führer, Ältestenrat o.ä.), mit der Regulierung von Streitigkeiten und der Sanktionierung mit moralischem Unwerturteil beauftragt. Sie üben gewissenmaßen Justizfunktionen avant la lettre aus.

Lynchjustiz

Lynchjustiz dient der Sanktionierung von vermeintlichen Straftätern durch die Bevölkerung ohne Einschaltung der dafür vorgesehenen staatlichen Institutionen. Oftmals werden die vermeintlichen Delinquenten im Rahmen der Lynchjustiz erst gewaltsam aus dem Gewahrsam bei Polizei, Untersuchungs- oder Strafhaft geholt (vgl. Garland 2010: 27 ff.; Allen u.a. 2000).


Justiz im modernen Rechtsstaat

In modernen Rechtsstaaten besteht die Aufgabe der Justiz - also der dritten Gewalt neben der Exekutive und der Legislative - im Schutz der Bürger vor Übergriffen der anderen Gewalten und anderer Bürger. Die Justiz überprüft einzelne Maßnahmen der Regierung/Verwaltung ebenso wie die Einhaltung der verfassungsmäßigen Grenzen der Gesetzgebung. In der Form der Strafjustiz übt sie die Rechtsprechung im Bereich der Kriminalsanktionen und des Strafvollzugs aus.

Rechtsprechung wird definiert als Entscheidung in Angelegenheiten der Rechtsanwendung durch einen unbeteiligten Dritten unter notwendig besonderen Richtigkeitsgarantien. (Schilken, 2007, 28) Die wichtigste Funktion der Justiz besteht in der Streitentscheidung. Es geht dabei um diejenigen Verfahren, in denen den Gerichten die Aufgabe zugewiesen ist, einen entstandenen Rechtsstreit durch verbindlichen Ausspruch zu beenden. (Schilken, 2007, 29) Strafsachen werden wegen des fehlenden Merkmals der Streitentscheidung als Rechtsprechungsangelegenheiten eigener Art eingeordnet. (Schilken, 2007, 30) Strafsachen sind alle Rechtsangelegenheiten, bei denen eine Kriminalsanktion, d.h. eine Sanktion mit einem besonderen Unwerturteil, verhängt werden kann (BVerfGE 22, 49, 80).


Die Beziehung zwischen Bürgern und Gerichten

Die Beziehung zwischen Bürgern und Gerichten wird in Deutschland bestimmt vom Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip bedeutet, dass das Verfahren vor Gericht nach festen Grundregeln gestaltet sein muss, vor einem gesetzlich bestimmten und unabhängigen Richter stattfindet, und dass in diesem Verfahren die Grundrechte des Bürgers beachtet werden. Der einzelne Bürger hat einen [www.bpb.de/wissen/HN52DL,0,0,Justizgewaehrungsanspruch.html Justizgewährungsanspruch], d. h. einen Anspruch auf Gerichtsschutz in allen Bereichen rechtlicher Betroffenheit. Der Bürger hat auch einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um das Recht in angemessener Frist bestmöglich verwirklichen zu können. (BVerfGE 35, 348, 361) Der Einzelne hat einen Anspruch auf ein faires Verfahren. (BVerfGE 26, 66, 71) Zum Recht auf ein faires Verfahren gehört nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts vor allem, dass die rechtsprechende Gewalt den Beteiligten nicht lediglich als Objekt des Verfahrens behandelt, sondern ihm eine selbständige Einflussnahme einräumt, um prozessuale Rechte wahrnehmen und Übergriffe von staatlicher Seite oder anderen Verfahrensbeteiligten abwenden zu können. (BVerfGE 46, 202, 210) Um mehr Bürgern den Zugang zur Justiz zu ermöglichen, bieten Regierungen inzwischen auch Internet-Informationen an (vgl. für Nordrhein-Westfalen: NRW-Justiz 2011).

Kriminologie und Justiz

Die Justizforschung als Disziplin der Kriminologie befasst sich mit der empirischen Untersuchung der am Strafverfahren beteiligten Instanzen der sozialen Kontrolle. (Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss 1993, 204) Unter sozialer Kontrolle versteht man die Instrumente, Mechanismen und Prozesse, durch die Konflikte überwunden werden und Verhaltenskonformität erreicht werden soll. Bei dem Strafverfahren handelt es sich um eine Form der reaktiven Kontrolle, d. h. ein bestimmtes Verfahren wird nachträglich sanktioniert. (Meier, 2010, 224) Dabei stehen die strafrechtlichen Bemühungen in einem Gesamtzusammenhang von gesellschaftlichen Anstrengungen, die auf die Beeinflussung von Verhaltensweisen abzielen. Das Strafrecht stellt nur einen Ausschnitt aus dem System der sozialen Kontrolle dar. Das Strafrecht stellt den Teilbereich der sozialen Kontrolle dar, der am stärksten formalisiert und organisiert ist. Die Justiz hat dabei die Aufgabe der Normdurchsetzung, sie kann für die Durchführung der Sanktion bei Übertretung der Rechtsnormen auf staatliche Gewaltmittel zurückgreifen. Ausgangspunkt für ein Tätigwerden der Justiz ist der Verdacht einer Straftat. Es geht dabei um eine noch ungesühnte Tat und einen noch nicht zur Verantwortung gezogenen Täter. (Albrecht, 2010, 259) Art und Schwere der Strafe stehen im Mittelpunkt und nicht die Verletzung der Rechtsordnung, die durch die Tat ja bereits stattgefunden hat. Dieser Prozess der Straffindung wird gekennzeichnet durch eine Selektion und eine differentielle Reaktion: selektiert werden diejenigen Beschuldigten, bei denen die Verhängung einer Strafe nicht notwendig erscheint, die Strafen orientieren sich an den Prinzipien der Tatangemessenheit und Erforderlichkeit. (Meier, 2010, 228) Von besonderem Interesse ist hierbei die Frage nach den Selektionskriterien. Nach welchen Kriterien erfolgt die Entscheidung, ob ein Beschuldigter angeklagt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird? Die Selektionskriterien ergeben sich vor allem aus dem Gesetz. (Meier, 2010, 241) Zusätzlich treten aber auch informelle Handlungsmuster auf, die den Selektionsprozess und die Sanktionierung steuern. Diese Muster bezeichnet man mit dem Begriff second code. (Meier, 2010, 254) Hierunter versteht man diejenigen Faktoren, an denen sich das Handeln in der Praxis tatsächlich orientiert. Als außerrechtliche Einflussfaktoren auf das richterliche Entscheidungsverhalten werden vor allem drei Merkmale angegeben: die soziale Herkunft, die Einstellung und die berufliche Sozialisation der Juristen. (Albrecht, 2010, 271) Zur sozialen Herkunft der Juristen wird die These von der halbierten Gesellschaft vertreten. Nach dieser These steht die Welt der Oberschichtsrichter der ihr fremden Welt der Kriminellen gegenüber, die größtenteils aus der Unterschicht stammen. (Albrecht, 2010, 272) Gegen diese These wird eingewandt, dass sie den Einfluss der sozialen Herkunft auf bestimmte Handlungsweisen der Juristen ungeprüft unterstellt. Zu den Einstellungen der Juristen wird die These vom Konservativismus der Justiz vertreten. (Albrecht, 2010, 272) Nach dieser These sollen eher konservative, undemokratische, autoritäre und antiliberale Grundhaltungen bei den Richtern vorherrschen. Gegen diese These spricht ebenso wie gegen die These der halbierten Gesellschaft, dass die empirische Bestätigung der Vermutungen fehlt. Ein Einfluss einer konservativen Einstellung auf die Rechtsprechung wurde schlicht unterstellt. Ebenso unbestätigt ist die Annahme, dass sich insbesondere konservativ-autoritäre Persönlichkeiten unter den Jurastudenten zum Richterberuf hingezogen fühlen. (Albrecht, 2010, 273)

Rechtssoziologie und Justiz

In der Rechtssoziologie wurden verschiedene Theorien zur Justiz vertreten. Max Weber sah die Justiz als ein Phänomen zwischen Kadijustiz und Rationalität. Unter Kadijustiz verstand er eine Entscheidung des Falls nach dem Billigkeitsempfinden des Richters oder nach anderen irrationalen Kriterien. (Rehbinder, 1987, 143) Weber lehnte eine solche Art der Rechtsprechung ab und plädierte für eine Technisierung der Arbeit des Richters unter den Gesichtspunkten der Effektivität und Berechenbarkeit. (Hesse, 2004, 129) Niklas Luhmann sah die Justiz, wie alle anderen gesellschaftlichen Phänomene, als ein System an. Ein System ist dabei eine Ansammlung von sich gegenseitig bedingenden und sich beeinflussenden Vorgängen, die von ihrer Umgebung relativ isoliert sind. (Weinberger, 2000, 320) Karl Liebknecht sah die Justiz als Klassenjustiz an, d. h. als ein Mittel zur Unterdrückung der Arbeiterklasse. (Benjamin, 1976, 20) Der Klassencharakter der Justiz äußerte sich laut Liebknecht vor allem in einer Ungleichheit der Rechtsanwendung zu Lasten der Arbeiterklasse, dem Schutz der Angehörigen der herrschenden Klasse vor Strafverfolgung und der Tatsache, dass das Richteramt nur von Angehörigen der herrschenden Klasse ausgeübt wird. Die heute vorherrschende empirische Justizforschung versucht, unsystematische persönliche Erfahrungen durch einen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zu ersetzen. (Rehbinder, 2003, 61) Untersuchungsobjekt sind reale Sachverhalte, die im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung untersucht werden. Die Untersuchung kann dabei deskriptiv oder verifizierend sein. Deskriptiv ist die Untersuchung, wenn sie nach der Beschaffenheit eines sozialen Phänomens fragt. (Rehbinder, 2003, 64) Forschungsgegenstand einer verifizierenden Untersuchung sind die Zusammenhänge zwischen verschiedenen sozialen Phänomenen. (Rehbinder, 2003, 65)


Literatur

  • Allen, James u.a. (2000) Without Sanctuary: Lynching Photography in America. Mit Beiträgen von John Lewis, Leon F. Litwack und Hilton Als. Santa Fe, NM: Twin Palms.
  • Albrecht, Peter-Alexis: Kriminologie. Eine Grundlegung zum Strafrecht. 4. Auflage. München: C. H. Beck 2010.
  • Benjamin, Hilde: Liebknecht. Zum Wesen und zu Erscheinungen der Klassenjustiz. Potsdam: Akademie für Rechts- und Staatswissenschaft der DDR 1976.
  • Garland, David (2010) Peculiar Institution. Cambridge, Mass.: Belknap at Harvard University Press
  • Hesse, Hans Albrecht: Einführung in die Rechtssoziologie. Wiesbaden: VS-Verlag 2004.
  • Kaiser, Günther; Kerner, Hans-Jürgen; Sack, Fritz; Schellhoss, Hartmut [Hrsg.]: Kleines Kriminologisches Wörterbuch. 3. Auflage. Heidelberg: C. F. Müller 1993.
  • Lautmann, Rüdiger (1972) Justiz - die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse. Frankfurt: Fischer.
  • Meier, Bernd-Dieter: Kriminologie. 4. Auflage. München: C. H. Beck 2010.
  • Rehbinder, Manfred: Max Weber und die Rechtswissenschaft. In: Rehbinder, Manfred; Tieck, Klaus-Peter [Hrsg.]: Max Weber als Rechtssoziologe Berlin: Duncker & Humblot 1987.
  • Rehbinder, Manfred: Rechtssoziologie. 5. Auflage. München: C. H. Beck 2003.
  • Roberts, Simon (1979) Order and Dispute. Introduction to Legal Anthropology. Harmondsworth: Pelican.
  • Schilken, Eberhard: Gerichtsverfassungsrecht. (Academia iuris). 4. Auflage. Köln: Carl Heymanns 2007.
  • Weinberger, Ota: Neo-Institutionalismus versus Systemtheorie. Ein Streit um die philosophischen Grundlagen der Rechtstheorie und Rechtssoziologie. In Merz-Benz, Peter-Ulrich; Wagner, Gerhard [Hrsg.]: Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2000.

Weblinks

Urteile

a) BVerfGE 22, 49
b) BVerfGE 26, 66
c) BVerfGE 35, 348
d) BVerfGE 46, 202