Jugendkriminalität

Begriff

Jugendkriminalität ist die Summe der Straftaten von jungen Tätern und Täterinnen, die einerseits nicht mehr als strafunmündige "Kinder", andererseits aber auch nocht nicht als "Erwachsene" behandelt werden. Die Grenzziehung variiert zwischen Staaten und Rechtskulturen. In Deutschland bezeichnet das Jugendgerichtsgesetz Menschen von 14-18 Jahren als Jugendliche und bis 21 Jahren als Heranwachsende. Heranwachsende können je nach Reifegrad nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht behandelt werden. Der allgemeine Sprachgebrauch meint häufig auch die Heranwachsenden, wenn von Jugendkriminalität die Rede ist. Darüber hinaus ist der Begriff an den Rändern ebenso unscharf wie der Begriff der Jugend, der je nach Kontext auch Kinder oder Erwachsene bis z.B. 25 oder gar 30 Jahren mit einschließen kann.

Häufigkeit und Erscheinungsformen

Aktuelle Situation. Jugendkriminalität ist in Deutschland in erster Linie ein männliches und ein Unterschichtenphänomen. Es ist insofern auch ein Ausländerphänomen, als ausländische Jugendliche doppelt so häufig als Straftäter in Erscheinung treten wie deutsche. Allerdings ist laut Christian Pfeiffer das Gewaltpotential eines türkischen Jugendlichen mit guten Sozialisations- und Ausbildungsbedingungen nicht größer als das eines Deutschen aus vergleichbaren Verhältnissen. Auch betrage der Anteil der Ausländer an den Gewaltdelikten nicht die Hälfte, sondern nur rund 20%. "Rechnet man die Personen mit fremdem ethnischem Hintergrund hinzu, werden 43 Prozent der Gewalttaten in Großstädten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund begangen. Auf dem Land und in Kleinstädten seien es 17 Prozent. Im deutschen Durchschnitt dürften die Migranten an allen Gewalttaten Jugendlicher einen Anteil von etwa 27 Prozent haben" (Müller 2008).

Türken. Einerseits lassen bundesweite Befragungen von (14 300) Schülern nach ihren Gewalterfahrungen (durch Christian Pfeiffer/KFN) keinen Zweifel daran, dass nichtdeutsche Jugendliche in Deutschland gewalttätiger sind als deutsche Jugendliche, und dass türkische Jugendliche fast doppelt so gewalttätig sind wie deutsche. "Weil die Jugendlichen türkischer Herkunft laut Pfeiffer den höchsten Anteil an Gewalttätern stellen und weil sie zugleich die größte ethnische Minderheit in Deutschland sind, ist der Anteil dieser Gruppe an allen gewalttätigen Auseinandersetzungen merklich höher als der anderer Migrantengruppen. Türken sind häufig Täter, aber selten Opfer" (Müller 2008). Andererseits vermutet Pfeiffer selbst, dass der Grund dafür in der mangelnden Bildungsintegration der türkischen Jugendlichen liegt - und dass bei Kontrolle dieser Variablen kein Unterschied mehr festzustellen sei.

Entwicklungsverlauf. Seit 1998 geht die polizeilich registrierte Kriminalität unter Jugendlichen und Heranwachsenden zurück. 1998 wurden noch 8,2 Prozent der Jugendlichen und 8,9 Prozent der Heranwachsenden polizeilich als tatverdächtig registriert. Bis 2006 sank der Wert auf 7,4, bzw. 8,4 Prozent. Allerdings nahm - im Gegensatz zum Rückgang von Mord, Totschlag und Raubdelikten - die Häufigkeit schwerer Körperverletzungen unter Jugendlichen und Heranwachsenden zu. "Gefährliche und schwere Körperverletzung wird nach der Definition im Gegensatz zur einfachen Körperverletzung von mehreren Tätern begangen oder mit Gegenständen ausgeführt, sei es durch Messerstiche oder Stiefeltritte. Unter Jugendlichen stieg von 1998 bis 2006 die entsprechende Tatverdächtigenziffer je 100 000 Personen von 669,46 auf 931,66, unter den Heranwachsenden von 707,61 auf 1008,4" (Müller 2008).

Schwere Körperverletzungen, deren Zunahme die Polizeiliche Kriminalstatistik belegt, wurden im Anschluss an den Münchener U-Bahn-Fall vom Dezember 2007 häufiger von der Boulevardpresse aufgegriffen. So etwa der Fall des Hafenarbeiters Daniel L. (23) , der von 15 Südländern durch Meckelfeld (Teil der niedersächsischen Gemeinde Seevetal, südlich von Hamburg) gejagt und schwer verletzt wurde. Der Hamburger Justizsenator erklärte daraufhin, Hamburg werde eine Gesetzesinitiative vorlegen, um jugendliche Gewalttäter bei Messerattacken leichter aus dem Verkehr ziehen zu können (BILD Hamburg 04.01.08: 9).

Ursachen

Praktiker der Jugendhilfe sehen die Ursachen der Jugendkriminalität regelmäßig in Defiziten des sozialen Nah- und Fernraums, also etwa im Bereich der (gewalttätigen, überforderten) Familien, der mangelnden Erfolge bzw. Angebote im Schul- und Ausbildungsbereich und einer allgemeinen Perspektivlosigkeit.

Christian Pfeiffer sieht die Ursachen der hohen Gewaltbereitschaft vor allem der jungen Türken in deren kultureller Prägung und ihrer Lebenssituation. Ihre Familien sind besonders stark von Arbeitslosigkeit und von Gewalt in der Familie, bzw. Erziehung, betroffen. Die jungen Türken besuchten besonders häufig die Hauptschule und besonders selten weiterführende Schulen. Nur wenige junge Türken strebten das Abitur an (14%; Deutsche: 45%). Türken unterscheiden sich von anderen Gleichaltrigen am deutlichsten in der Akzeptanz gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen: "Die Türken-Machos und rechtsextreme deutsche Jugendliche sind Zwillinge im Geiste" (Pfeiffer, zit. n. Müller 2008). Ob die Kovariation von Bildungsmangel und Kriminalität - oder andersherum: "Je besser die Bildungsintegration, desto günstiger die Kriminalitätsentwicklung" - auf einen kausalen Zusammenhang verweist und womöglich auch schon die richtige Präventionsstrategie nahelegt ("Bildung ist Prävention"), ist damit noch nicht geklärt. Der Berliner Oberstaatsanwalt Roman Reusch erklärt jedenfalls: "Jugendliche aus solchen (ausländischen) Problemfamilien dazu anzuhaltne, zu lernen und zu arbeiten, kommt dem Versuch gleich, Waser mit eine m Sieb aufzufangen."

Kriminalpolitische Reaktionen

In den meisten Staaten wechseln sich Zyklen der Härte mit solchen einer eher verständnisvollen Hilfe ab, ohne dass mit der einen oder anderen Reaktionsweise durchschlagende Erfolge erzielt werden. Im Grunde genommen sind die Pendelschläge ein Ausdruck der Hilflosigkeit.

Während in vielen Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Zug zur Milde zu Tage tritt, gibt es in Deutschland zur gleichen Zeit einen Hang zur Härte. Boot Camps (Erziehungslager) und andere "harte" Einrichtungen haben den Höhepunkt ihrer Popularität in England und den USA, aber auch in der Türkei und in China, längst hinter sich. In Deutschland kommen sie womöglich gerade erst in Mode. Während diese Einrichtungen und die ihnen zugrundeliegende Philosophie in vielen Staaten, die bereits mit solchen Institutionen experimentiert hatten, rückläufig sind und man sich vielerorts von den damit verbundenen Hoffnungen verabschiedet, werden sie in Deutschland als denkbare Lösung der hiesigen Probleme mit schwierigen Jugendlichen angesehen.

Zwei Einzelfälle prägten jahrelang die Debatte in Deutschland. 1998 wurde der damals 14jährige Muhlis A. - aus Datenschutzgründen "Mehmet" genannt - in die Türkei ausgewiesen, nachdem er bereits mehr als 60 schwere Straftaten verübt hatte, darunter Einbruch und Raub. Er kam zunächst in einem Kinderheim in Istanbul unter; später moderierte er im türkischen Fernsehen eine Musik-Sendung. 2002 erklärte das Bundesverwaltungsgericht die Ausweisung des in Deutschland geborenen Türken für rechtswidrig. Nach seiner Rückkehr nach München holte M. seinen Hauptschulabschluss nach, setzte aber seine kriminelle Karriere fort. Unter anderem bestahl, bedrohte und verprügelte er seine Eltern. 2005 wurde er wegen räuberischer Erpressung, Körperverletzung und Betrugs zu einer Jugendstrafe von 18 Monaten verurteilt. Als die auf Bewährung ausgesetzte Strafe wegen Verletzung der Auflagen angetreten werden sollte, setzte sich M. in die Türkei ab. Die Behörden erwirkten eine unbefristete Ausweisung, so dass M. nie wieder nach Deutschland einreisen darf. Auf Drängen der CDU/CSU wurde in das neue Zuwanderungsrecht eine als "Mehmet-Klausel" bekannte Bestimmung aufgenommen, die vorsieht, dass jugendliche Straftäter mit ausländischem Pass schneller als bis dato ausgewiesen werden sollen.

Kurz vor Weihnachten 2007 schlugen der 20 Jahre alte Serkan A. und der 17 Jahre alte Spiridon L. in der Münchener U-Bahn den 76 Jahre alten Rentner Bruno N. zusammen, der sie gebeten hatte, das Rauchen zu unterlassen. Der Haftbefehl gegen Serkan A., der bis dahin 41 registrierte Delikte, sechs Prozesse und ein halbes Jahr Untersuchungshaft hinter sich hatte, lautete auf versuchten Mod und schwere Körperverletzung. Mit 11 Jahren hatte er ein Jahr in einem Jugendheim verbracht. Spiridon L. hatte mit 14 den ersten Behördenkontakt, als er seine eigene Familie verprügelt hatte. Aus einer sog. Clearingstelle für "schwer delinquente und desoziale Jugendliche" (üblicher Aufenthalt: 3 Monate) holte ihn die Familie nach kurzer Zeit zurück. Nachdem zwei weitere Anläufe, Spiridon wegen weiterer Zwischenfälle in der Clearingstelle unterzubringen (Bedrohung der eigenen Eltern, Drogendelikte usw.), am Einspruch der Eltern gescheitert waren, kam es Ende 2007 zu der Tat mit Serkan A

Im Anschluss an die von einer Videokamera gefilmte Tat entspann sich unter Wortführerschaft des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU), der vier Wochen später eine Landtagswahl zu bestehen hatte, eine heftige öffentliche Debatte. So forderten die Justizminister der zehn Bundesländer mit Ministerpräsidenten aus CDU oder CSU im Januar 2008 "die Verschärfung des Jugendstrafvollzugs und des Jugendstrafrechts". Sie verlangten einen "konsequenten Umgang mit Jugendkriminalität, der voraussetze, dass strafrechtliche Sanktionen für jugendliche Täter spürbar sind. Sie forderten die Einführung eines sogenannten Warnschussarrests, die Erhöhung des Höchstmaßes der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre. Außerdem forderten sie die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Jugendliche im Alter von 18 bis 21 Jahren" (FAZ 10.01.08: 1).

Die der SPD angehörende Bundesjustizministerin Zypries warf die Einrichtung von "Erziehungscamps" in die Debatte und spielte damit auf die Konzeption der Boot Camps in den USA an. Als Vorbild für Erziehungscamps gilt in Deutschland außerdem das - wesentlich mildere - sogenannte Boxcamp in Diemelstadt bei Kassel (Nordhessen). Das Boxcamp wird von dem ehemaligen Boxer Lothar Kannenberg geleitet, der "von ganz unten" kam und sich durch das Drogen- und Rotlichtmilieu hocharbeitete, nach seiner Heirat zum Leiter eines Einkaufsmarktes wurde, eine Karriere als Boxer begann (Hessenmeister, Bundesliga), ein Unternehmen für Personenschutz aufbaute - und mit Drogen und einer Krebserkrankung wieder in eine Krise geriet. Nach der Operation des Mannes, der die Narben von acht Messerstichen und einer Schussverletzung trägt, kamen Entzug, Psychiatrie und Drogentherapie. Danach baute er unter der Devise "Durchboxen durchs Leben" das Boxcamp auf. Erst in einem Stadtteil von Kassel, dann in Diemelstadt (20 junge Männer zwischen 14 und 18 Jahren): "Um 5:55 uhr stehen die Jugendlichen auf. es folgen Frühsport, Frühstück und Zähneputzen im Hof unter freiem Himmel - bei jedem Wetter. zweimal täglich 500 Liegestütze, Zirkeltraining, Boxen im 'Schweißcamp', Entspannungstraining und Respekttraining. In einem Schulungsraum sprechen die jugnen Männer über Umgangsformen oder Körperhygiene; sie schreiben Aufsätze. Kommandos werden mit der Trillerpfeife gegeben, REgeln einghealten: Nicht sprechen biem morgendlichen Antreten, anklopfen und das 'Kommando' zum Eintreten abwarten, bevor man eine Türe öffnet, 'bitte', 'danke' und 'guten Tag' sagen, Müll aufheben, putzen, Holz machen. Das Wort Freizeit gibt es nicht. Denn an ihrer Friezeit seien diese Jugendlichen doch gescheitert, sagt Kannenberg" (Müller 2008a).

Der Berliner Oberstaatsanwalt Roman Reusch, der Chefermittler gegen Intensivtäter in Berlin - dem TV-Auftritte von der Behördenleitung untersagt wurden - zählte allein für Berlin 495 Intensivtäter mit mindestens zehn schweren Straftaten. Ein Viertel davon seien Jugendliche, etwa 44% Heranwachsende. 80% der Tatverdächtigen seien Ausländer oder hätten mindestens einen ausländischen Elternteil. 20 Prozent seien Deutsche oder Rußlanddeutsche. Reusch meint, nicht die Türken, sondern Araber stellten die meisten Täter, insbesondere Palästinenser sowie Großfamilien mit türkisch-kurdisch-libanesischen Wurzeln. "Selbst kurzzeitige Freiheitsentziehungen wie vorläufge Festnahmen und Arreste gehen scheinbar spurlos an ihnen vorbei. Nicht einmal der Erlass von Haftbefehlen mit sofortiger Haftverschonung oder die drohende Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit Bewährung respektive Vorbewährung kann die übergroße Mehrheit von ihnen von weiterer serienmäßiger Begehung schwerer Straftaten abhalten. Selbst in einer solchen Lage lassen sie die Hauptverhandlungen in gelangweilt-belästigter Attitüde über sich ergehen und sind von ihren Verteidigern nur unter großen Mühen zu einigen Floskeln des Bedauerns und vorgetragener Einsicht zu bewegen. Es gibt nur eine einzige Maßnahme, die sie wirklich beeindrucken könnte, nämlich die Haft" (BILD Hamburg 04.01.08: 10).

Empfehlungen aus der Wissenschaft.

Wolfgang Heinz verfasste im Januar 2008 eine "Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts", die sich gegen die CDU-Vorschläge zur Verschärfung aussprach und der sich binnen weniger Tage über 600 Fachleute anschlossen.

Christian Pfeiffer verweist auf Erfolgsbeispiele. Im Gegensatz zu München, wo sich während der letzten sieben Jahre die Zahl der Mehrfachtäter (mind. 5 Straftaten) verdoppelt habe, habe sie sich in Hannover halbiert. In Oldenburg (Niedersachsen) gebe es die geringste Jugendgewalt in Deutschland - und den aktivsten Präventionsrat (Soldt u.a. 2008).

Prävention

Prävention betreibt die Bundesregierung auf verschiedenen Wegen. Nicht alle der Prävention günstigen Programme treten auch unter diesem Titel auf. So etwa die im Januar 2008 von der Regierung beschlossene Qualifizierungsinitiative. Deren teuerstes Programm heißt "Aufstieg durch Bildung" und soll per Zuschußgewährung an Unternehmen bis Ende 2010 rund 100 000 zusätzliche Lehrstellen für "ältere und schlecht qualifizierte Jugendliche" schaffen. Das rund eine halbe Milliarde Euro schwere Programm soll die Zahl der minderqualifizierten und sozial benachteiligten Jugendlichen abbauen, die trotz mehrmaliger Anläufe nur schwer eine Lehrstelle finden. Rund einer Drittel der Jugendlichen, die nach der Schule mindestens ein Jahr lang keinen Ausbildungsplatz finden, stammt aus Migrantenfamilien: "In der Altersgruppe bis 29 Jahre gibt es inzwischen 1,3 Millionen Menschen ohne berufliche Qualifizierung, das ist ein Anteil von 15 Prozent dieser jungen Frauen und Männer" (FAZ: "Ein Bonus für die schwierigen Fälle", 10.01.08: 13).

Tertiärprävention (Rückfallverhütung) ist ein Ziel, das nicht nur bei ambulanten Sanktionen, sondern gelegentlich auch während des Jugendstrafvollzugs - und dann auch in der Arbeit mit Haftentlassenen - verfolgt wird.

Intramurale Bemühungen finden sich z.B. in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Adelsheim, wo das Durchschnittsalter der rund 430 Insassen bei 19 Jahren liegt; nur vier Prozent der Häftlinge haben schon eine Berufsausbildung. In der Anstalt können die Häftlinge einen Schulabschluss machen oder einen von 18 Ausbildungsberufen erlernen. Im Jahr schaffen rund 70 Inhaftierte den Hauptschulabschluss und bis zu zehn den Realschulabschluss. Abitur geht auch (einmal in fünf Jahren). Sechs Monate vor Haftende können die Insassen sich für das "Isab"-Programm bewerben. Diese "Integration junger Strafgefangener in Arbeits- und Berufswelt" funktioniert bei rund 80% der Teilnehmer, wobei allerdings der erste Arbeitsmarkt nicht die entscheidende Rolle spielt.

Um Rückfallverhütung bemühen sich auch viele Vereine. In Hannover kümmert sich z.B. der Verein für Bildungsmaßnahmen im Arbeits- und Freizeitbereich (BAF) seit 1981 um mehrfach straffällig gewordene Jugendliche. In Baden-Württemberg leistet das "Projekt Chance e.V." Nachsorge für Strafentlassene bis zu 26 Jahren.

Bürgerinitiativen. Praktische Arbeit mit Gefangenen verbindet der "Kölner Appell gegen Rassismus e.V. " mit Bemühungen um die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Haftbedingungen der jungen Gefangenen. Unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Bundesinnenministers Gerhard Baum (FDP) organisierte der "Kölner Appell" z.B. 2007/2008 eine Wanderausstellung unter dem Titel "Menschen statt Mauern", um den Reformbedarf im Jugendstrafvollzug Aufmerksamkeit zu verschaffen. Der Nachbau einer Zelle (8 Quadratmeter) und die Information, dass allein in Köln an jedem Wochenende rund 700 meist ausländische Jugendliche in ihren Zellen hocken - mit einem Betreuer auf 100 Gefangene - soll einerseits das Vorurteil von der angeblichen Kuschelpädagogik widerlegen und andererseits auf die Problematik hinweisen, dass die Härte der Haftbedingungen die kriminellen Karrieren eher festigt: "Härte macht roh" (Boldt 2008).


Internationale Perspektiven

Sucht man nach positiven Perspektiven im Ausland, so bleibt jenseits der momentanen Moden letztlich vor allem eines: "Restorative Justice". Das ist auch die Richtung, in die sich die Kritik an den Boot Camps in den USA entwickelt. Statt auf Erniedrigung, Drill und Angst zu setzen, sei es besser - im Sinne von effektiver - eine Verhaltensänderung durch gemeinsame Besprechungen von Delinquenten, ihren Familien und Betroffenen zu bewirken.

Großbritannien: Seit den 1990er Jahren schwankte die Diskussion zwischen "Colchester" und "Thorn Cross". Colchester war ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager und Militärgefängnis, das bei den Konservativen hoch im Kurs stand, weil man Jugendliche (18-21) dort mit paramilitärischem Drill, Sport und Degradierungen ("Anbrüllen") wieder auf Kurs bringen wollte. Im Jahre 2002 kam eine Studie des Innenministeriums zu dem Schluss, dass das Programm milderen Programmen nicht überlegen sei. Insbesondere seien die harten Elemente des Trainings nicht kausal für irgendwelche positiven Effekte. Sie hätten nicht einmal dazu geführt, dass die Insassen nach ihrer Entlassung ihre Aggressionen besser im Griff hätten. Demgegenüber wurde das von der Strafvollzugsbehörde betriebene Programm des nordwestenglischen Thorn Cross der Regierung Blair als Modell für den Umgang mit jugendlichen Straftätern nahegelegt. Auch Thorn Cross war allerdings hart - wenngleich nicht militärisch und nicht erniedrigend - und galt als englische Variante der Boot Camps. Eine deutliche Verbesserung der Erfolge hat sich aus daraus nicht ergeben. Allein in de nersten 14 Tagen des Jahres 2008 wurden in England drei Teenager erstochen. 2007 fielen in London 27 Jugendliche der Gewalt zum Opfer. 17 starben durch Messerstiche, acht wurden erschossen, einer zu Tode geprügelt. Messerstechereien hängen mit dem Bandenwesen in innerstädtischen Sozialsiedlungen zusammen ("knife culture"). Die Regierung Blair hatte allerhand Innovationen eingeführt. Ihr Motto "Hart gegen die Kriminalität, hart gegen die Ursachen der Kriminalität" führte u.a. zu den "antisocial behaviour orders", den sog. Asbos. Es scheint, als habe weder der eine noch das andere eine meßbare Wirkung entfaltet. Interessanterweise spielt die konservative Opposition (David Cameron) jetzt die Karte der Hilfe ("liebevolle Kritik"). Camerons Plädoyer für das Verstehen der sozialen Ursachen und für das Vermitteln von Hoffnung für die in miserablen Verhältnissen aufwachsenden Jungtäter wurden als "Hug a Hoodie" (umarme einen Kapuzenträger) verspottet. Gina Thomas berichtet jedenfalls aus England im Januar 2008: "Weder die verständnisvolle noch die hart durchgreifende Methode haben sich bisher bewährt." Dieselbe Autorin berichtet von einer Studie "einer englischen Denkfabrik", nach der im vergangenen Jahr 44 % der britischen Jugendlichen (Deutschland: 28%) an Prügeleien beteiligt gewesen seien.

Literatur

Boldt, Kirsten (2008) Menschen statt Mauern. Kölner Stadt-Anzeiger 07.01.08.

Müller, Claus Peter (2008) Junge Türken neigen am meisten zur Gewalt. Christian Pfeiffer hat die Gewaltbereitschaft Jugendlicher untersucht. Der Kriminologe erklärt die hohen Deliktzahlen bei jungen Migranten mit deren Lebenslage. FAZ 10.01.08: 9.

Müller, Claus Peter (2008a) Putzen, kämpfen und 'danke' sagen. FAZ 04.01.08: 4.

Soldt, Rüdiger u.a. (2008) Fortbildungen und Antigewaltprogramme. Projekte für Straftäter im Jugendstrafvollzug/Bundesratsinitiative für Gesetzesnovelle. FAZ 04.01.08: 4.

Thomas, Gina (2008) Kultur der langen Messer. FAZ 10.01.08: 33.

Links

Kriminologie-Lexikon ONLINE Jugendkriminalität.

http://www.uni-konstanz.de/FuF/Jura/heinz/ResolutionHeinz.pdf


Polizeiliche Programme gegen Jugendkriminalität in Hamburg