Heimkampagne

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BAUSTELLE!!!

Als Heimkampagne wurde eine Initiative des Sozialistischen Studentenbundes (SDS), einer Kerngruppe der APO, im Juni 1969 bekannt, die sich gegen die Zustände in den Erziehungsheimen richtete. Spätere Mitglieder der RAF waren ebenfalls an der Kampagne beteiligt.



Heimzustände

In der Zeit nach dem Krieg beschäftigten die ca. 3000 Heime und Anstalten häufig noch dasselbe Personal, das bereits während der Zeit des Nationalsozialismus dessen Erziehungskonzepte umgesetzt hatte. 1953 wurde das RJGW durch das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) abgelöst und 1961 novelliert. Die Zuständigkeit für die Heimaufsicht wechselte vom Bund auf die Länder. Obwohl verbesserte rechtliche Bedingungen geschaffen wurden, änderte sich die Lage der Kinder und Jugendlichen in der Fürsorge zunächst kaum - repressive Methoden wie Prügelstrafen oder das Einsperren wurden weiterhin angewendet[1].

"Die Besserungsanstalt war daher eher vom Charakter des Verwahrens und Wegschließens als von einer pädagogischen Erziehung geprägt" [2]

Aktionen vor der Heimkampagne

Im Frühjahr 1969 begann eine Gruppe Studenten mit Jugendlichen in zwei Frankfurter Lehrlingswohnheimen Kontakt aufzunehmen. Die Studenten suchten gezielt den Kontakt zum "Jugendproletariat". Dabei wird ein Bezug zu Marcuse Rangruppenstrategie gesehen: sozial Deklassierte können folglich als leicht mobilisierbares revolutionäres Potenzial angesehen werden, da sie den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft am unerträglichsten ausgeliefert sind. Zusammen mit den Lehrlingen wurden Stadtteilgruppen gebildet, in denen Heimzustände kritisiert und Aktionen durchgeführt wurden. In Frankfurt gingen die Gruppen in verschiedene Heime, um Zöglinge für ihre Initiative zu mobilisieren. Dabei stand die Selbstorganisation der Zöglinge im Vordergrund. Einige konnten sie überzeugen: "Wir lassen uns nicht länger wie Unmündige behandeln und zu Druckmäusern erziehen, die schön brav und anständig ihrer Arbeit nachgehen, damit die Geldsäcke in Ruhe an uns verdienen können. FANGEN WIR GEMEINSAM DEN HAUSORDNUNGSTERROR ZU BRECHEN!" (Brosch 1971: 94). Jedoch scheiterten die Versuche, da die Fürsorge schnell auf den Aufstand reagierte: Dadurch wurden viele Heimzöglinge eingeschüchtert und die politischen Aktionen mobilisierten nicht so, wie die Studenten und Lehrlinge es sich dachten: die Selbstorganisation scheiterte. Fünf Heimzöglinge, darunter auch Peter Brosch, flüchteten aus den Frankfurter Heimen. Zusammen mit den Stadtteilgruppen entstand die Idee Material gegen die Fürsorgebürokratie zu sammeln, um bei der Agitation vom Jugendproletariat (z.B. Arbeiterkindern) argumentieren zu können. Doch aus der Materialsammlung wurde die Idee einer Heimkampagne.


Zu dem wurde durch ein Projekt der Alice-Salomon-Akademie für Soziale Arbeit auf die Situation in den Heimen aufmerksam gemacht. Studierende hatten sich 1967 die Heimerziehung als Thema für ihr Projektseminar gewählt. Im Rahmen von Praktika und Hospitationen lernten sie die Verhältnisse in Berliner Heimen kennen. Unterstützt wurden sie dabei von dem Pädagogik-Professor Klaus Mollenhauer, der sich bereits in der Fachpresse kritisch über die Heimerziehung geäußert und an Alternativen zur autoritären Heimerziehung mitgearbeitet hatte.

Erste Begegnungen mit späteren RAF Mitgliedern

Die kritische Auseinandersetzung mit der Fürsorgeerziehung fand am Ende der 60er Jahre auch unter späteren RAF-Mitgliedern statt, von denen sich später einige an der Heimkampagne beteiligten.

Ulrike Meinhof

Für die damalige Journalistin und das spätere RAF-Mitglied Ulrike Meinhof war die Situation in den Heimen eines ihrer zentralen Themen und dieses bereits einige Zeit vor der sogenannten Heimkampagne. Immer wieder veröffentlichte sie Artikel über die Vorgehensweisen und Folgen der Fürsorgeerziehung in Rundfunksendungen und in Artikeln für die Zeitschrift konkret. Dabei bekam sie Unterstützung von Gottfried Sedlaczek. Er hat in einzelnen Heimen Befragungen durchgeführt und die Ergebnisse seiner Arbeit Meinhof zur Verfügung gestellt. Laut Wensierski behauptete Meinhof 1968, dass Familien oft nur "den Heimausweg" wüssten, "weil diese Gesellschaft sich immer noch nicht darauf eingerichtet hat, dass sie zehn Millionen berufstätige Frauen hat und weit über eine Million berufstätige Mütter mit Kindern unter 14. Und weil wir eine Familienpolitik haben, die nichts tut, um die Eltern über Erziehungsfragen aufzuklären, nichts." Ende 1969 schrieb sie anschließend das Drehbuch für den Fernsehfilm Bambule, welcher die Erziehungsmethoden im Mädchenheim Eichenhof in West-Berlin kritisiert.

Baader, Ensslin, Astrid und Thorwald Proll

Andreas Baader und Gudrun Ensslin wurden am 13. Juni 1969 aus dem Gefängnis entlassen. Ihre damaligen Anwälte hatten gegen das Urteil (Brandstiftung in mehreren Frankfurter Kaufhäusern) Revision eingelegt, wobei diese, laut einigen Berichten, bis zur Entscheidung der Revision als Auflage einer "Tätigkeit im sozialen Bereich" nachgehen sollten. Meinhof hingegen beschreibt, dass Baader, Ensslin und Thorwald Proll, welcher sich auch an der Brandstiftung beteiligte, so viel Zeit im Gefängnis verbracht hatten, dass sie allen anderen intellektuellen Kritikern der deutschen Heimerziehung meilenweit voraus waren und somit gegen die Zustände in den Heimen aktiv agieren wollten. Mit weiteren späteren RAF-Mitgliedern, zu denen unter anderem Ulrike Meinhof selbst und Thorwalds Schwester, Astrid Proll zählten, beteiligten sie sich anschließend an der Heimkampagne. Baader, Ensllin und Astrid Proll unterstützten, so Schulz, außerdem vom 15.07. bis 21.07.1969 "Die Rote Knastwoche in Erbach" [3] bevor sie Ende November erst nach Frankreich flohen und später nach Italien reisten. Denn am 12. November 1969 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision gegen das Brandstifter-Urteil des LG Frankfurt. Die Verurteilten (Baader und Ensslin) sollten eine Freiheitsstrafe von 22 Monaten verbüßen.

Anfänge der Heimkampagne

Die Heimkampagne fand ihren Anfang im Juni 1969 in dem hessischen Heim Staffelberg bei Biedenkopf. Initiiert wurde die Kampagne von Frankfurter Lehrlingen, SDS-Studenten, ehemaligen Fürsorgezöglingen, sowie den oben genannten späteren RAF-Mitglieder. Die Heimleitung stimmte einer Vollversammlung zu, war sich aber des Ausmaßes der Aktion nicht bewusst. Denn neben Staffelberg hat sich die Kampagne auch in weiteren Heimen in der BRD ausgedehnt. Insgesamt kam in der Zeit vom 28. Juni 1969 bis zum 31. August 1969 zu fünfzehn Aktionen in verschiedenen Erziehungsheimen in Hessen. Darunter auch im Beiserhaus in Rengshausen, wo der Heimzögling Peter-Jürgen Boock zum ersten Mal auf Baader traf.

Die Staffelberg-Kampagne

Am 28. Juni 1969 fand eine Massenaktion vor dem Erziehungsheim in Staffelberg/Hessen statt. Beteiligt waren ca. 250 Personen, in der Anwesenheit von 80 Polizisten, die gegen die repressiven Zustände in den Heimen protestierten. Zu den angereisten Aktivisten gehörten auch Andres Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll sowie seine Schwester Astrid. In einer öffentlichen Diskussion wurden die Zustände im Heim angeprangert. Die Informationen erhielten die Studenten unter anderem von dem Jugendlichen Peter Brosch, einem erst wenige Monate zuvor entlassenen Staffelbergzögling: "gefängnisähnliche Isolation und Einsperrung, miese Berufsausbildung, autoritäre Erziehungsmethoden, Entzug von Grundrechten, psychische Zerstörung der Insassen. Diesem Erziehungsterror der Fürsorge, der sich nicht nur in Staffelberg und nicht nur in Erziehungsheimen zeigt, sagen die politisch bewußten Teilnehmer der Aktion ihren entschiedenen politischen Kampf an" (Brosch 1971: 7). Flugblätter mit Beschwerden von weiteren Heimzöglingen und Forderungen wurden laut verlesen und diskutiert. Von Ensslin, Baader und Thorwald stammt im ersten Staffelberg-Flugblatt die Formulierung: "Eure Wärter, die sich Erzieher nennen!" (Meinhof 1969: 5).

Forderungen

Während der Kampagne wurden, laut Brosch, folgende Forderungen gestellt:

  • tarifgerechte Löhne und freie Verfügung darüber (kein Geldentzug)
  • Öffentlichkeit der Erzieherkonferenz
  • Offenlegung sämtlicher Verwaltungsvorgänge
  • dass der Staat uneingeschränkt die Kosten für die Heimunterbringung trägt
  • Abschaffung der Prügelstrafe und die Entlassung von gewalttätigen Erziehern
  • Abschaffung der Postzensur
  • freie Berufswahl
  • Abschaffung der Anstaltskleidung
  • freier Ausgang nach Arbeitsende, sowie Besuchserlaubnis (Tag und Nacht)
  • Selbstverwaltung der Jugendlichen im Heim
  • Wahl eines Heimrates (Jugendliche und Erzieher zu jeweils 50%)

Wohnkollektive

30 Jugendliche verließen das Heim in Staffelberg und fuhren mit ihren "Befreiern" nach Frankfurt. Es folgten ihnen weitere Heimzöglinge, auch aus anderen Heimen. Für die entflohenen Jugendlichen wurden Quartiere bei Studenten und das notwendige Geld besorgt. Einige der Heimzöglinge wurden von späteren RAF-Mitgliedern in Wohngemeinschaften untergebracht. Astrid Proll:"Wir mussten wahnsinnig aufpassen mit unserem eigenen Lebensstil, der relativ locker und provokativ war. Sie sollten arbeiten gehen oder eine Lehre machen, wie selbst gingen aber nicht irgendwo arbeiten. Unsere Arbeit war die revolutionäre Arbeit, damals eben die Heimkampagne. Die fanden das natürlich toll, identifizierten sich mit uns. Wir wollten aber, dass sie ihren eigenen Weg finden. Viele entdeckten obendrein Haschisch, da gab es plötzlich wahnsinnig viel zu tun für uns: Aufsicht, Gespräche und Betreuung"(Wensierski 2006: 163). Ensslin gründete zudem ein sogenanntes "Lehrlingskomitee", das Studenten und Heimzöglinge täglich an einem Tisch versammelte. Das Ziel war es die Jugendlichen vom "Abgleiten" zu schützen und sie versuchte finanzielle Unterstützung der Behörden sowie Wohnräume zu beschaffen. Als das alles zu lange dauerte, besetzte die Gruppe das Büro des Frankfurter Jugendamtsleiters Herbert Faller; die späteren RAF-Mitglieder wollten nicht nur radikale Reformen in den Heimen, sondern Sofortmaßnahmen für die entwichenen Fürsorgezöglinge: "Go-ins" wurden diese Aktionen genannt. Am 12. September kam es auf dem Frankfurter Opernplatz zu einer Solidaritätsdemonstration. Die Demonstranten forderten, alle illegal nach Frankfurt gekommenen Heimzöglinge müssten eine Wohnung erhalten. Mit Erfolg. Der Landeswohlfahrtsverband wollte ein Ende der Aktionen vor den Heimen und bot als Kompromiss Wohnungen an, in denen die Jugendlichen Unterstützung von Sozialarbeitern erhielten. Nach dem Vorbild dieser ersten "Wohnkollektive" entstanden die noch heute üblichen "betreuten Jugendwohngemeinschaften".

Ergebnis der Kampagne

Strafanzeigen

Gegen acht Erzieher aus den Heimen Staffelberg und Karlshof stellte der Asta der Frankfurter Uni Strafanzeige wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen. In einem Bericht listet Ulrike Meinhof die Beschuldigten und deren Taten auf.

Karlshof

  • Gegen den Lehrlingserzieher Mutz, weil er einem Jungen, den er bei der Flucht ertappt hatte, geschlagen und getreten haben soll;
  • Gegen den Erzieher Bayer, weil er einen Jungen, der betrunken war, mit einem Stock verprügelt haben soll, bis der Stock abbrach;
  • Gegen den Erzieher Landau, weil er einen Jungen nach einem missglückten Fluchtversuch zu Boden geschlagen haben soll;
  • Gegen den Erzieher Wiegel, weil er drei Jungen nach einem Fluchtversuch mit den Köpfen zusammengeschlagen und mit den Fäusten eingeprügelt haben soll;

Staffelberg

  • Gegen den Arbeitserzieher Diehl, dem vorgeworfen wurde, dass er einem Jungen, der wegen zu langer Haare in die geschlossene Abteilung verlegt worden war und die Haare vom Heimfriseur mit Gewalt abschneiden ließ;
  • Gegen den Arbeitserzieher Ebtin, der einen Jungen verprügelt haben soll;
  • Gegen dn Erzieher Fett, dem vorgeworfen wurde, er habe einen Jungen auf der Toilette so zusammengeschlagen, dass ihm das Trommelfell geplatzt ist. Zudem habe er einen Jungen psychisch gequält und geschlagen.
  • Gegen den Obererzieher Bartel, der zusammen mit dem Obererzieher Fett geschlagen und sie - als sie schon am Boden lagen - in die genetalien getreten haben soll; den einen Jungen, der sein Essen nicht aufessen wollte, haben diese angeblich geschlagen und in einen Karzer gesperrt, bis er aufgegessen hatte.


Neben der Asta stellte auch, laut Wiesbadener Tagesblatt, die Aktionsgruppe Fürsorgeheime der Heilpädagogischen Aktionsgemeinschaft in Marburg gegen die Abteilung Erziehungshilfe des hessischen Landeswohlfahrtsverbandes, gegen den Direktor des Heilerziehungsheimes Kalmenhof, Alfred Göschl, und dessen Gutsverwalter Hofbauer bei der Staatsanwaltschaft in Wiesbaden Strafanzeige. Die Aktionsgruppe warf Göschl Korruption und Ausnutzung Abhängiger vor, Hofbauer ebenfalls und dem Landeswohlfahrtsverband Verletzungen seiner Aufsichtspflichten und Vernachlässigung seiner erzieherischen Aufgaben.

Reform der Heimerziehung

Nach der Flucht mehrere Zöglinge kommt es, laut Brosch, zum Chaos zwischen den Studenten und den Heimzöglingen. Das Ziel der Politisierung bleibt auch aus. Doch die massenhafte Reaktion der Jugendlichen bleibt nicht ohne Erfolg. Durch den 1970 in Nürnberg stattfindenden 4. Deutschen Jugendhilfetag kam es erneut zur Kritik der Fürsorgeheime. Ende der 70er kam es dann zu Reformen, zu den unter anderem neue therapeutische Methoden, Abschaffung vieler geschlossener Heime sowie die Qualifizierung des Heimpersonals zählten (vgl. Pankofer 1997: 45 f.). Auch heutzutage werden einige Strukturen und Methoden in der Fürsorge fortgeführt, wie z.B. die betreuten Jugendwohngruppen.

Kritik

"Rekrutierung" von Heimzöglingen

Die Kritik an der Heimkampagne ist in verschiedenen Beiträgen verbreitet - vor allem im Zusammenhang mit Marcuse Theorie. Es wird behauptet, so Köhler-Saretzki/Schölzel-Klamp, dass die Heimzöglinge während der Heimkampagne hauptsächlich für die revolutionären Ziele und Ideale der Studenten wie auch späterer RAF-Mitglieder „rekrutiert“ wurden.

Angeblich wollten Baader und Co. sich nur an der Kampagne beteiligen, um die Heimzöglinge für ihre Ideologien zu begeistern. Von diesen "Zöglingen" sprechen Baader, Ensslin und Proll als "unsere Lehrlinge", "Lehrlinge" in Sachen Rebellion. Zu der Gruppe gehörten insgesamt rund vierzig "Lehrlinge", so Peters. Der Politiker Marc Daniel Cohn-Bendit sagte in einem Interview [4] Im Zusammenhang mit dieser sogenannten Heimkampagne habe ich auch Baader kennengelernt. Die Kampagne war einerseits getragen von dem sozialen Impetus, diesen Jugendlichen eine Chance zu geben, andererseits von der totalen Instrumentalisierung der Jugendlichen. Ich habe Baader und Ensslin gesagt: Lasst diese Jugendlichen in Ruhe. Daraufhin zückte Baader seine Mao-Bibel und sagte: "Sie sind die Speerspitze des revolutionären Proletariats." Da wurde mir klar, dass er vor nichts zurückschrecken würde, um andere Menschen für seine Zwecke zu funktionalisieren. Zudem behauptete der ehemalige Lehrer Gottfried Sedlaczek, der engen Kontakt zu den späteren RAF-Mitgliedern pflegte, vor allem zu Meinhof, welcher er mit einer Studie über die Zustände im Mädchenheim Fuldatal für ihre Radioreportage unterstützte: "Wir wollten die Revolution in den Heimen, sie aber wollten die Revolution in der Gesellschaft und dafür aus den Heimen Mitstreiter rekrutieren" (Wensierski 2006: 161).

Die Erwartung von Mahler, Meinhof & Co.

Der Kritik widersprachen einige Jugendliche, vor allem aber spätere RAF-Mitglieder, die sich an der Revolte beteiligten. Peter-Jürgen Boock, beispielsweise,überzeugte das Engagement der zukünftigen RAF-Anhänger, aber auch die Möglichkeit gegen die autoritäre Heimerziehung als Heimzögling zu agieren. Im Gegensatz zu den anderen Studenten, waren diese (Baader, Ensslin etc.), laut Boock, die einzigen, die nicht an dem Existierenden 'rumreformieren' wollten, sondern es abschaffen und ersetzen wollten. Diese Einstellung motivierte viele Jugendliche zum aktiven Aufstand gegen die Heimerziehung. In der alten Straßenverkehrsordnung heißt es: "Wenn beispielsweise die Guerilla gegen einen sadistischen Erzieher in einem staatlichen 'Fürsorgeheim' einschreitet, werden viele proletarische Eltern empört sein und diese Intervention verurteilen, weil sie Notwendigkeit staatlicher Erziehungsheime und an eine rigide Erziehung glauben; weil sie selbst oft mit dem Gedanken spielen, ihre eigenen Erziehungsprobleme, die zunehmen, den staatlichen Instanzen zu überantworten und schließlich, weil sie erzogen sind, jegliche Auflehnung gegen gesellschaftliche Gewalten unschicklich und unerlaubt zu finden. Die proletarischen Jugendlichen in den Heimen dagegen, die die Repression unmittelbar erfahren, aber auch viele Jugendliche, die täglich mit der Androhung der Heimerziehung als Zuchtmittel terrorisiert werden, sie werden die Aktion verstehen. Wird diese zudem in Formen und mit Mitteln durchgeführt, deren sich die Jugendlichen selbst ohne großen Aufwand bedienen können, werden sie nach einigen 'Lehrstücken' dazu übergehen, ihre Peiniger selbst zu disziplinieren. Mehr noch: die Jugendlichen können ihren Widerstand verstärken in dem Bewußtsein, daß die Guerilla eingreifen wird, wenn die Behörden die Repression steigern sollten" (Kollektiv RAF in: Bittermann 1986: 95). Davon war vor allem Horst Mahler überzeugt. Mahler setzte auf die westdeutsche Jugend in ihrer Gesamtheit, wozu Studenten, aber auch die proletarischen Jugendlichen zählten. Anlass dazu bot ihm die kritische Einstellung der meisten Jugendlichen zu der Welt der Erwachsenen und zu deren Idealen. Er war der Meinung, dass die Einstellung der Jugendlichen tendenziell antikapitalistisch und revolutionär sei."Sie ist verbunden mit der für Jugendliche kennzeichnende Bereitschaft zu aggressiver Äußerung bis hin zur Gewaltanwendung im großen Maß. Dort ist in erster Linie das Potential für revolutionäre Gewaltanwendung zu suchen und zu finden" (Mahler in: Fetscher/Rohrmoser 1981: 64). Somit zeigt sich auch in seiner Erwartung eine wesentliche Unterstützung der RAF durch diese Jugendlichen. Genauso wie Mahler, fasste Ulrike Meinhof zu Beginn der RAF-Aktionen die Marginalisierten als die bereits revolutionären Teile der Bevölkerung ins Auge. So behauptete sie, dass die spätere Befreiung Andreas Baaders den potentiell revolutionären Teilen des Volkes zu verdanken sei. Als potentiell revolutionäre Teile des Volkes sah sie die Marginalisierten, zu denen unter anderem die Heimzöglinge zählten, und Teile der Arbeiterschaft an. Meinhofs Interesse an "randständigen Jugendlichen" kam mit dem oben erwähnten Fernsehspiel Bambule zum Ausdruck, in dem sie das Leben in dem Mädchenheim, die vorhandene Not und die Möglichkeiten erfolgreichen Widerstandes darzustellen versucht hatte. Im Folgendem wird deutlich, wie fest Meinhof davon überzeugt war, dass die RAF von dort eine Nachhaltige Unterstützung ihrer Aktionen zu erwarten habe. Zitat aus ihrem Traktat "Die Rote Armee aufbauen": "Kriegt raus, wo die Heime sind und die kinderreichen Familien und das Subproletariat und die proletarischen Frauen, die nur darauf warten, dem Richtigen und die Fresse zu schlagen. Die werden die Führung übernehmen" (Meinhof 1973 in: Fetscher/Rohrmoser 1981:66). Taktische und logistische Erfordernisse des "bewaffneten Kampfes in Westeuropa" zwangen jedoch die RAF sich immer mehr von dieser Gruppe abzusetzen. Hindernisse waren aber vor allem in den Kommunikationsformen vorhanden. "Wenn Mahler beispielsweise dazu aufforderte, 'randständige Jugendliche zu revolutionieren' , so kam darin jene Beziehung von Subjekt (Revolutionierender) und Objekt (zu Revolutionierender) zum Vorschein, die diesen Jugendlichen aus der Realität der Heime nur schon allzu gut bekannt war. Baader bzw. Ensslin gestanden denn auch in dem Ende 1974 erschienenen Info der Gruppe ein: 'Wir beziehen uns nicht auf das Subproletariat als einzige Zielgruppe - ganz sicher ist es jetzt nicht das revolutionäre Subjekt und unsere Rekrutierungsversuche waren Katastrophen'(Info Ende 1974)"(Fetscher/Rohrmoser 1981:66 f.).

Vom Heimzögling zur RAF

  • Die Heimjugendliche Irene Goergens lernete Meinhof bei den Dreharbeiten zu ihrem Fernsehfilm Bambule über ein Mädchenheim in West-Berlin kennen. Sie zählt zu den Gründungsmitgliedern der Roten Armee Fraktion. Goergens war beispielsweise an der Baader-Befreiung beteiligt, indem sie für diese Tat eine Waffe besorgte.
  • Nachdem das Jugendamt ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, lebte Inge Viett ab 1946 zunächst in einem Kinderheim. 1950 kam sie zu einer Pflegefamilie nach Schleswig-Holstein, aus der sie nach neun Jahren floh. Sie war Angehörige der Bewegung 2. Juni und im Jahr 1980 trat sie der RAF bei. Im August 1981 schoss sie in Paris aus vier Metern Entfernung auf den Polizisten Francis Violleau. Der Beamte erlitt eine Querschnittslähmung und starb 2000 im Alter von 54 Jahren an den Folgen der Verletzung.
  • Stefan Wisniewski wurde 1969/70 aufgrund von "Erziehungsschwierigkeiten" in einem Heim untergebracht. 1975 ist er dann der RAF beigetreten. Unter anderem war er an der Geiselnahme von Stockholm am 25.April 1975 und 1977 an der Entfürhung und Ermordung Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer beteiligt.

Siehe auch

Literatur

  • Arbeitsgruppe Heimreform (2000): Aus der Geschichte lernen: Analyse der Heimreform in Hessen (1968 - 1983), Frankfurt/M.
  • Brosch, Peter (1971): Fürsorgeerziehung - Heimterror und Gegenwehr. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main.
  • Fetscher, Iring/Rohrmoser, Günter (1981): Analysen zum Terrorismus. Ideologien und Strategien. Band 1, Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen.
  • Kollektiv RAF: Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa in: Bittermann, Klaus, Hg. (1986): Die alte Straßenverkehrsordnung. Dokumente der RAF. 1. Auflage, Verlag Klaus Bittermann, Berlin: S.47-125.
  • Köster, Markus (2003) Holt die Kinder aus den Heimen! Veränderungen im öffentlichen Umgang mit Jugendlichen in den 1960er Jahren am Beispiel der Heimerziehung, in: Matthias Frese u.a.(Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn.
  • Kunstreich, Timm (2001). Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit. Band II: Blicke auf die Jahre 1955, 1970 und 1955 sowie ein Rückblick auf die Soziale Arbeit in der DDR (von Eberhard Mannschatz). Kleine Verlag GmbH, Bielefeld.
  • Lehning, Klaus, Hg. (2006) Aus der Geschichte lernen - die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, die Heimkampagne und die Heimreform. Kassel ISBN 978-3-925146-65-7
  • Meinhof, Ulrike (1969) Jugendkollektive (Unveröff. Manuskript, 10 Seiten).
  • Peters, Butz (2007): Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
  • Strafanzeige gegen Kalmenhof-Leiter, in: Wiesbadener Tagblatt v. 3.4.1970.
  • Wensierski, Peter (2006). Schläge im Namen des Herren. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, 2. Auflage, Deutsche Verlags-Anstalt, München.

Weblinks