Gezielte Tötung

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Gezielte Tötung ist die deutsche Übersetzung des Ausdrucks Targeted Killing als Bezeichnung für eine Taktik zur Bekämpfung von (mutmaßlichen) Terroristen. Rechtmäßigkeit, Moralität und Effektivität dieser Vorgehensweise sind umstritten. In der Öffentlichkeit werden zudem Fragen der Ausbildung, des Selbstverständnisses und der psychischen Belastungen für diejenigen, die berufsmäßig "gezielt töten", diskutiert.


Begriff

Eingeführt wurde er zur Bezeichnung der "Israeli policy of intentionally killing individuals who are on their way to commit a terrorist attack or those who are behind such attacks" (David 2002).

Der Begriff der gezielten Tötung ist bewußt wertneutral gewählt und soll eine Alternative darstellen zu wertenden Begriffen wie "assassination policy" und "extrajudicial killing". Anders als letztere präjudiziert der Begriff kein Urteil über die Rechtmäßigkeit oder Moralität dieser Taktik. Das begünstigt die Diskussion über die Frage, ob diese Taktik unter bestimmten Voraussetzungen rechtmäßig ist oder durch entsprechende legislative Akte legalisiert werden kann oder soll.

Entstehung

Der Einsatz von Scharfschützen, um einzelne Feinde gezielt zu töten, ist sehr viel älter als der sicherheitspolitische Begriff der "gezielten Tötung". Der Begriff der gezielten Tötung hängt zusammen mit der Tatsache, dass die israelische Armee (IDF) als Reaktion auf die sog. zweite Intifada im Jahre 2000 begann, Scharfschützen für diese nunmehr systematisch angewandte Anti-Terror-Taktik auszubilden und einzusetzen.


Abgrenzung zur Hinrichtung

Der Begriff bezeichnet eine hinrichtungsartige Tötung durch staatliche Stellen, die sich von einer Hinrichtung in Ausführung einer Todesstrafe jedoch in manchem unterscheidet. Hinrichtungen sind Strafen für begangene Taten, sind also repressiv. Gezielte Tötungen werden meist mit präventiven Zwecken begründet - obwohl auch ein Vergeltungszweck dahinter stehen kann.

Hinrichtungen vollziehen ein gerichtliches Urteil und sind Teil der rechtsprechenden Gewalt. Gezielte Tötungen vollziehen eine ohne Einschaltung der Justiz zustande gekommene Entscheidung der Exekutive, d.h. der Regierung. Unmittelbar ausgeführt werden Hinrichtungen von Henkern an dafür vorgesehenen Hinrichtungsstätten (z.B. innerhalb von Gefängnisgebäuden), gezielte Tötungen hingegen von Angehörigen der Polizei, des Militärs und/oder der Geheimdienste im Umfeld des Betroffenen (im Wohnhaus, im Straßenverkehr).

Diese Vorgehensweise bringt es mit sich, dass nicht nur die Zielperson getötet wird, sondern häufig auch weitere Personen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Hinrichtungen werden gegenüber "gewöhnlichen" und gegenüber "politischen" Tätern durchgeführt, gezielte Tötungen hingegen gelten als Mittel gegen "Terroristen". Vornehmlich im Zusammenhang mit dem "War on Terror" werden Praxis und Begriff der gezielten Tötung auch außerhalb der israelischen Politik benutzt. Sowohl Israel als auch die USA praktizieren gezielte Tötungen auch außerhalb ihres eigenen Staatsgebiets.

Erscheinungsformen und Häufigkeit

Verbreitung

Israel und die USA bedienen sich der Taktik der gezielten Tötungen in unterschiedlichen Kontexten und mittels unterschiedlicher Institutionen (Armee, Inlands- und Auslands-Geheimdienste).

Methoden

Der interne Prozess, in dem darüber entschieden wird, wer wann wie durch eine gezielte Tötung eliminiert werden soll, unterliegt normalerweise der Geheimhaltung und ist der Öffentlichkeit unbekannt.

Mehr ist über die Methoden der Durchführung der gezielten Tötungen bekannt. So können gezielte Tötungen z.B. mittels unbemannter Drohnen oder mittels von Hubschraubern abgefeuerter Raketen durchgeführt werden. In beiden Fällen ist die Distanz der Akteure zu den Opfern so gross, dass ein Sichtkontakt von Tätern und Opfern vermieden wird.

Das ist anders in den Fällen, in denen die Tötung durch Scharfschützen erfolgt.

Einzelfälle

  • USA vs. Abu Laith al-Libi. Am 29. Januar 2008 tötete eine amerikanische Drohne den Al-Qaida-Führer nahe der pakistanischen Stadt Mir Ali in der Grenzprovinz Waziristan. Die FAZ schrieb dazu, dass es sich dabei um den "ersten größeren Erfolg des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA im Kampf gegen den Führungszirkel des Terrornetzes" gehandelt habe, der von amerikanischen Geheimdiensten und Streitkräften in dieser Gegend "schon lange" geführt werde, "ohne dass sie dazu die formale Erlaubnis Islamabads eingeholt hätten" (Rüb 2008).
  • Israel vs. Scheich Ahmed Yassin. Im März 2004 töteten die israelischen Streitkräfte das gelähmte geistige Oberhaupt der Hamas. Die BBC berichtete am 22.03.04: "Reports from the scene said Sheikh Yassin was being pushed in his wheelchair when he was directly hit by a missile."

Effektivität

Die Taktik der gezielten Tötung gilt als effektiv. Sie eliminiert gefährliche Individuen und verbreitet Schrecken in der personalen, organisatorischen und politischen Umgebung des Getöteten. Wenn der Anführer einer politischen Gruppe getötet wird - und seine Nachfolger im Amt ebenfalls - dann wird die Aussicht auf die Nachfolge von getöteten Führungspersonen im Laufe der Zeit unter Umständen unattraktiv. Letztlich kann die Taktik zwar vorübergehend unter Umständen den Zusammenhalt der betroffenen Gruppe stärken, von einem gewissen Punkt an dürfte aber die zerstörerische Folge von gezielten Tötungen überwiegen.

Kollateralschäden

Bei Raketenbeschuss von Drohnen oder aus Kampfhubschraubern werden häufig Unbeteiligte getötet, verletzt oder traumatisiert.

Wirkungen auf den Konflikt

Ergebnisse einer Wirkungsforschung - so sie überhaupt betrieben wird - sind der Öffentlichkeit nicht bekannt. Zu untersuchen wären die Bedingungen, unter denen gezielte Tötungen auf das betroffene Kollektiv integrierend, bzw. desintegrierend wirken - und unter denen sie auf den Konflikt, innerhalb dessen sie angewandt werden, eskalierend oder de-eskalierend wirken.

Einen besonderen Aspekt stellt die Nutzung von Informanten aus den betroffenen Milieus dar.

Legalität

Ungeachtet zahlreicher Einzelprobleme gilt die gezielte Tötung dann als grundsätzlich legal, wenn sie in einem bewaffneten Konflikt - insbesondere einem Krieg - angewandt wird. Illegal ist sie nach allgemeiner Ansicht in Friedenszeiten als "Bestrafung" für vorangegangene Taten. Dazwischen befindet sich eine juristisch-politische Kampfzone, in der die juristische Bewertung umstritten ist.

  • In den USA erlaubt eine nach dem 11. September 2001 erlassene Verfügung von Präsident George W. der CIA die gezielte Tötung mit Hilfe unbemannter Drohnen: "Shortly after the attacks, Bush approved a 'presidential finding' that allowed the CIA to write a set of highly classified rules describing which individuals could be killed by CIA officers. Such killings were defined as self-defense in a global war against al Qaeda terrorists. The rules have been vetted by the White House, CIA and State Department lawyers. They allow CIA counterterrorism officials in the field to decide much more quickly when to fire, according to former intelligence officials involved in developing the rules."

Akteure

Akteure gezielter Tötungen finden sich vor allem im Militär, in der Polizei und den Geheimdiensten.


Ausbildung

Die israelische Armee führt seit der Zweiten Intifada eine spezielle Scharfschützen-Ausbildung für die Durchführung gezielter Tötungen durch. Auch Geheimdienste (z.B. der Mossad) unterhalten spezielle Einheiten für diesen Zweck.

Der Militärpsychologe David Grossman (1995; 1999) - Erfinder des Begriffs "Killologie" (als Bezeichnung für die wissenschaftliche Erforschung des destruktiven Akts, bzw. für die Lehre von der Erziehung zum Töten in Militär und Gesellschaft) - geht davon aus, dass Menschen einen biologisch machtvollen Widerstand gegen den Akt des Tötens besitzen. Wenn Soldaten nicht speziell geschult würden, dann würden sie - wie im Zweiten Weltkrieg geschehen - selbst im Ernstfall nur in 10 bis 15 Prozent der Fälle auf einen gut sichtbar exponierten Feind schießen. Auch aufgrund dieser Erfahrung habe man in den USA vier effektive Mechanismen entwickelt, um das Töten zu trainieren:

  • (1) Brutalisierung und Desensibilisierung (z.B. militärische Grundausbildung, sog. bootcamp): "Brutale Ausbilder überzeugen die jungen Soldaten davon, dass sie in eine dunkle, grausame Welt eintreten. Und dass darin nur überleben kann, wer Gewalt akzeptiert."
  • (2) Klassische Konditionierung (unmittelbare Verknüpfung von Tod und Leid mit Vergnügen und Belohnung; heute weitgehend abgelöst durch operante Konditionierung)
  • (3) Operante Konditionierung (Töten wird durch Zielscheiben mit menschlichen Silhouetten und häufige Wiederholung unmittelbarer Gratifikationen - Umfallen der Zielscheibe - zu automatischem Verhalten gemacht, das etwa die individuelle Schussrate in Vietnam auf 90 Prozent anhob)
  • (4) Attraktive Rollenmodelle sprechen das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung (Heldenstatus) an.


Psychische Belastung

Die psychische Belastung der Scharfschützen und sonstigen Akteure, die mit gezielten Tötungen beauftragt wurden und diese - in manchen Fällen dutzendfach - ausführten, scheint sich in engen Grenzen zu halten. Post-traumatische Belastungssymptome sind ebenso selten wie das Leiden unter starken Schuldgefühlen.


Literatur

  • Cox, Edward L. (2008) The Legality of U.S. Targeted Killings in the War on Terror. aufgerufen am 14.06.08 unter http://blog.left-handedelephant.com/wp-content/uploads/2008/06/the-legality-of-targeted-killings.pdf
  • David, Steven R. (2002) Targeted Killing has its Place. Los Angeles Times, 25.07., S. 13.
  • Grossman, David (1995) On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society
  • Grossman, David (1999) Warum töten wir? Kinder sind wie Soldaten: man kann sie lehren, Menschen umzubringen. Der Militärpsychologe Dave Grossman hält Videospiele für ein gutes Training. DIE ZEIT Nr. 39, 23. 09. 1999. Sektion "Leben", S. 5
  • Luft, Gal (2003) The Logic of Israel`s Targeted Killing. Middle East Quarterly 10. Winter aufgerufen am 08.06.08 unter: http://www.meforum.org/article/515
  • Melzer, Nils (2008) Targeted Killing in International Law. Oxford: Oxford University Press.
  • Nolte, Georg (2004) Vorbeugende Gewaltanwendung und gezielte Tötungen: der Weg in eine andere Rechtsordnung. In: Kai Ambos & Jörg Arnold, Hg.: Der Irak-Krieg und das Völkerrecht. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, 303-321.
  • Priest, Dana (2005) Surveillance Operation in Pakistan Located and Killed Al Qaeda Official. Washington Post, 15. Mai 2005: A25. aufgerufen am 26.02.08: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2005/05/14/AR2005051401121.html
  • Rüb, Matthias (2008) Unbestrittener Treffer. FAZ 25.02.08: 12.
  • Romirowsky, Asaf (2006) Targeted Killings. FrontPageMazine.com. 21. Juli aufgerufen am 08.06.08 unter: http://www.meforum.org/article/980
  • Statman, Daniel (2004) "Targeted Killing," Theoretical Inquiries in Law: Vol. 5 : No. 1, Article 7. Available at: http://www.bepress.com/til/default/vol5/iss1/art7

Links

Filme

  • Kedar, Nurit (2004) One Shot. (deutscher Titel: Der Todesschuss). Die Regisseurin interviewte mehrere Scharfschützen der israelischen Armee. Der Film berichtet nur aus der Sicht der Scharfschützen, bzw. Heckenschützen, und enthält sich jeglichen Kommentars. Der Film lief am 16.10.04, 10.15 Uhr und am 17.10.04, 22.15 Uhr auf dem deutschen TV-Sender PHOENIX und wurde auf der Cologne Conference im Juni 2004 mit dem PHOENIX-Preis als bester Film der TopTen Nonfiction ausgezeichnet.