Erweiterter Suizid: Unterschied zwischen den Versionen

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== Terminologie ==
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Ein Suizid (Lateinisch: ''suicidium'', aus sui „seiner [selbst]“, und ''caedere'' (in Zusammensetzung -cidere) „[er]schlagen, töten“) ist die vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens, auch Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod genannt (Duden 2017).
Ein '''Suizid''' (Lateinisch: ''suicidium'', aus sui „seiner [selbst]“, und ''caedere'' (in Zusammensetzung -cidere) „[er]schlagen, töten“) ist die vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens, auch Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod genannt (Duden 2017).


Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet der von Psychiatern verwendete Begriff des ''erweiterten Suizids'' eine Kombination aus einem Homizid (Tötung eines anderen Menschen) und anschließendem Suizid. Fremd- und Selbsttötung finden meist in rascher Abfolge sowie am selben Ort bzw. in räumlicher Nähe statt. Sie geschehen meistens innerhalb enger sozialer Verbindungen wie Familie oder Partnerschaften sowie ohne Einverständnis bzw. gegen den Willen der Homizid-Opfer (Faller-Marquardt und Pollak 2006). Darüber hinaus ist der primäre Entschluss zur Selbsttötung für viele Autoren eine wesentliche Bedingung des ''erweiterten Suizids''.
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet der von Psychiatern verwendete Begriff des ''erweiterten Suizids'' eine Kombination aus einem Homizid (Tötung eines anderen Menschen) und anschließendem Suizid. Fremd- und Selbsttötung finden meist in rascher Abfolge sowie am selben Ort bzw. in räumlicher Nähe statt. Sie geschehen meistens innerhalb enger sozialer Verbindungen wie Familie oder Partnerschaften sowie ohne Einverständnis bzw. gegen den Willen der Homizid-Opfer (Faller-Marquardt und Pollak 2006). Darüber hinaus ist der primäre Entschluss zur Selbsttötung für viele Autoren eine wesentliche Bedingung des ''erweiterten Suizids''.

Version vom 20. Februar 2017, 00:51 Uhr

Terminologie

Ein Suizid (Lateinisch: suicidium, aus sui „seiner [selbst]“, und caedere (in Zusammensetzung -cidere) „[er]schlagen, töten“) ist die vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens, auch Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod genannt (Duden 2017).

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet der von Psychiatern verwendete Begriff des erweiterten Suizids eine Kombination aus einem Homizid (Tötung eines anderen Menschen) und anschließendem Suizid. Fremd- und Selbsttötung finden meist in rascher Abfolge sowie am selben Ort bzw. in räumlicher Nähe statt. Sie geschehen meistens innerhalb enger sozialer Verbindungen wie Familie oder Partnerschaften sowie ohne Einverständnis bzw. gegen den Willen der Homizid-Opfer (Faller-Marquardt und Pollak 2006). Darüber hinaus ist der primäre Entschluss zur Selbsttötung für viele Autoren eine wesentliche Bedingung des erweiterten Suizids.

Begriffsvielfalt

Auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin im Jahr 1907 wurde unter dem Rahmenthema „Familienmord“ der Begriff kombinierte Selbstmorde vorgeschlagen (Geiger 1991; Foerster 2009), im Verlauf der damaligen Diskussion etablierte sich jedoch der unter den Psychiatern vorwiegend gebrauchte Terminus des erweiterten Suizids. Über 100 Jahre später gibt es heute allerdings immer noch keine einheitliche Verwendung für den Begriff erweiterter Suizid. Je nach professioneller Ausrichtung und Interessenlage werden unterschiedliche Begriffe in der Literatur bevorzugt. So ist in juristischen Publikationen meist von Mitnahmesuizid die Rede. Weitere häufig verwendete Begriffe sind kombinierter Suizid, komplizierter Suizid, Filizid, Doppelsuizid, Familiensuizid, gemeinschaftlicher Selbstmord, induzierter Suizid, Massensuizid oder Mord- (Totschlag)-Selbstmord-Kombination. Jedoch konnte sich bis heute keine einheitliche und eindeutige Definition durchsetzen (Hellen u.a. 2014:1144). In der neueren Literatur wird daher der Begriff Tötung mit anschließendem Suizid vorgeschlagen.

Begriffskritik

Anhand der Aufzählung der oben erwähnten Begriffe ist es offensichtlich, dass die Unterscheidung zwischen Täter/in und Opfer oder auch die Charakterisierung des Auslösers schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist. Insbesondere wurde viel Kritik am Begriff erweiterter Suizid geübt, da die unfreiwillig getöteten Personen nicht als Opfer einer Straftat wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Begleitumstand der Selbsttötung des Täters betrachtet werden (Foerster 2009). Hellen u.a. (2014) bevorzugen deshalb den im angelsächsischen Sprachraum verbreiteten Begriff „homicide-suicide“, was Homizid mit nachfolgendem Suizid bedeutet, da er einen neutralen, eher deskriptiven Begriff darstellt (Hellen u.a. 2014: 1144). Paschen (2006) kritisiert dagegen an diesem Terminus, dass er nichts über die Beziehung der Beteiligten aussagt, die beim erweiterten Suizid eine wesentliche Rolle spielt.

Auslöser und Motivation

Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei Tötungen mit anschließendem Suizid nicht um Impulstaten handelt (Geiger 1991; Dubbert 2013). Nach einer Phase von ausgeprägten psychischen Belastungen kann die Tat als eine Art Abschluss dieser erlebten Belastungsphase betrachtet werden. (vergl. Geiger 1991). Nicht selten ist ein Streit der letzte tatsächliche Auslöser der Tat. Darüber hinaus sind viele Täter/innen aus psychiatrischer Sicht auffällig. Besonders häufig sind narzisstische Persönlichkeitsmerkmale, emotionale Instabilität, Impulsivität, Substanzmittelmissbrauch oder Depression festzustellen (vergl. Foerster 2009).

Hinsichtlich der Motive werden an erster Stelle Enttäuschung in einer Beziehung, Eifersucht, Trennungswunsch und drohende bzw. vollzogene Trennung genannt. An zweiter Stelle stehen materielle Probleme, gefolgt von Angst vor Krankheit / Tod, Angst vor Abwertung, das Gefühl des Versagens und Angst vor Aufdeckung einer Schuld (Geiger 1991). Während männliche Täter meist ihre Intimpartnerinnen töten, neigen weibliche Homizid-Suizid-Täterinnen eher zur Tötung ihrer Kinder (Hellen u.a. 2014). In der älteren Literatur wird den Müttern, die ihre Kinder mit in den Tod nehmen, oft eine altruistische oder pseudoaltruistische Motivation zugestanden. Sie sollen als letzte Mutterpflicht das Kind vor den Folgen des eigenen Suizids bewahrt haben wollen. Die Tatsache, dass diese Frauen (versuchen) ihren Kindern das Leben (zu) nehmen, verfehlt die primär gestörte und aggressive Dynamik (Geiger 1991). Laut Foerster (2009) dient der Begriff Altruismus hier der Erklärung und Entschuldigung, ist aber nicht angebracht. Wie Paschen (2006) zusammenfasst, ist es bislang nicht gelungen, ein grundlegendes Motiv für den erweiterten Selbstmord festzustellen, was die Prävention derartiger Taten im besonderen Maße erschwert.

Kategorien und Erscheinungsformen

Foerster bemerkte 2009, dass das Fehlen einer eindeutigen Definition und das Manko einer eigenen Kategorie in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) eine Vergleichbarkeit für die wissenschaftliche Forschung nahezu unmöglich macht. Exemplarisch sollen hier die von Pollak entwickelten Kategorien aufgezeigt werden (Pollak 2009: 73-77):

  1. Tötung des Intimpartners
  2. Erweiterte Selbstmorde unter Einbeziehung von unmündigen Kindern oder Pflegebefohlenen
  3. Familienmorde im engeren Sinn: Die Opfer gehören zwei verschiedenen Generationen an
  4. Selbstmord in Verbindung mit der Tötung von Haustieren oder in den Suizid eingebundene Brandstiftung um den geliebten Lebensraum zu vernichten. Auf diese Art der Suiziderweiterung hat vor allem Lange, aber auch Foerster (Foerster 2009: 1083) hingewiesen.

Die in der Literatur erwähnten wesentlichen Konstellationen des erweiterten Suizids/Tötung mit anschließendem Suizid sind:

  • Der Täter/die Täterin handelt gegen den Willen des Opfers.
  • Der Täter/die Täterin handelt im Einverständnis mit dem Opfer; beide haben die Tat unter Umständen sogar gemeinsam geplant, da sie nicht voneinander getrennt werden wollen. Der sogenannte Doppelsuizid wird von einigen Autoren vom erweiterten Suizid ausgenommen.
  • Der Täter/die Täterin bringen sich nach einem Mord(-versuch) aus Schuldgefühl oder Angst vor Strafe selbst um. Hellen u.a. (2014: 1144) zählen diese Kategorie nicht zum erweiterten Suizid.
  • Es wird mehrheitlich ein zeitlicher Zusammenhang von bis zu einer Woche zwischen Tötungshandlung und Suizid toleriert (Hellen u.a. 2014: 1144).

Tötungsarten

Im Rahmen der Homizid-Suizid-Taten ist die häufigste Fremd- und Selbsttötungsart das Erschießen, gefolgt von der sogenannten scharfen Gewalt. Betrachtet man Täterinnen isoliert, belegt den zweiten Platz die Intoxikation. An dritter Stelle steht die Strangulation (Geiger 1991).

Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Tätern und Opfern

Analog zu den Suizidzahlen gibt es mehr männliche als weibliche Homizid-Suizidenten. Weltweit werden 75% aller begangenen Suizide von Männern durchgeführt und nur ca. 25% von Frauen (Watzka, 2015). Da Frauen sich weniger aggressiver Methoden, wie z.B. Medikamenten- oder CO-Vergiftungen und Ertrinken bedienen, sind sie, wie Fishbain (1986) und später Pollak (2006) ebenfalls zeigten, sowohl beim Suizid, als auch beim Homizid-Suizid weniger erfolgreich als Männer. Diese bevorzugen als Methode das Erhängen und Erschießen (Hellen u.a. 2014).

Alter der Täter und Täterinnen

Was das Alter der Täter/innen von erweitertem Suiziden/Tötung mit anschließendem Suizid betrifft, kann festgehalten werden, dass die Mehrzahl der Täter/innen zwischen 30 und 60 Jahren alt sind (vergl. Geiger 191: 118). Paschen (2006: 89) stellt jedoch fest, dass Personen, die ihre Intimpartner ohne erkennbares Einverständnis töten, deutlich jünger sind, als jene, die ihre Partner im Einverständnis töten.

Ort und Tatzeit

Der erweiterte Suizid findet größtenteils in der eigenen Wohnung, oft sogar im Ehebett statt. Geiger (1991) stellt einen eindeutigen Schwerpunkt hinsichtlich der Tatzeit fest, nämlich v.a. in der Nacht zwischen 00:00 und 06:00 Uhr, gefolgt von den davor liegenden Stunden zwischen 18:00 und 24:00 Uhr. Eine Abhängigkeit der Taten von Jahreszeit, Monat oder Wochentag konnte nicht gezeigt werden (Paschen 2006; Rasch 1966).

Täter-Opfer-Beziehung

Wie bereits erwähnt, töten Männer überwiegend ihre Partnerinnen und sind im Sinne der Tat erfolgreicher. Insofern ist es schlüssig, dass die meisten Täter und Opfer in einer Intimbeziehung zueinander standen. Die zweitgrößte Gruppe bilden Mütter und ihre Kinder, an dritter Stelle stehen andere Angehörige, gefolgt von Bekannten.


Risikofaktoren für das Eintreten eines erweiterten Suizids

Hellen u.a. (Hellen u.a. 2014: 1147) identifizieren folgende Risikofaktoren für die Realisation eines erweiterten Suizids, wobei laut ihrer Studie mindestens drei, meistens sogar vier oder auch mehr als vier Risikofaktoren vorliegen:

  1. Männliches Geschlecht (Täter)
  2. Alter über 55 Jahre (Täter)
  3. Intime Beziehung zwischen Täter und Opfer
  4. Häusliche Gewalt in der Vorgeschichte
  5. Zugang zu (Schuss-)Waffen
  6. Psychiatrische Erkrankung 

Geiger (1991) entwickelt die Hypothese, dass bei Menschen, die eine depressive und suizidale Entwicklung durchlaufen, ein erhöhtes Risiko für einen Homizid oder erweiterten Suizid besteht, sofern zusätzlich narzisstische und paranoide Störungsformen auftreten und / oder erheblicher Alkoholmissbrauch vorliegt. Dubbert (2006: 260) sieht dagegen in der Häufung und damit einhergehender Belastung von wahrgenommenen Problemen die Zuspitzung zur Krise – v.a. dann, wenn keine funktionalen Bewältigungsstrategien vorhanden sind. Eine negative Grundeinstellung sowie eine Einengung und Fixierung auf die jeweiligen Probleme erhöhen in Kombination mit einer externen Ursachenzuschreibung das Risiko weiter.

Abgrenzung zu Homizid und Suizid nach Hellen u.a. (2014)

Es wurde festgestellt, dass Homizid-Suizidenten in der Regel älter sind als „reine“ Homizidenten (Mörder oder Totschläger), jedoch jünger als „reine“ Selbstmörder. Sie sind häufiger männlich und stammen eher aus der Mittelschicht. Watzka (2015) spricht hinsichtlich des Suizids von sozio-ökonomischen Risikofaktoren und meint damit, dass Menschen mit niedrigem Ausbildungsniveau, Berufsstatus und Einkommen bzw. Arbeitslose ein erhöhtes Suizidrisiko haben. Gleiches gilt für Personen mit besonders hohem sozialen Status. Die Mittelschicht hat zwar das geringste Suizidrisiko, jedoch das vergleichsweise höchste Risiko hinsichtlich des erweiterten Suizids. Auch bezüglich der Tatumstände (Tatorte, -waffen, Täter-Opfer-Beziehungen) gibt es kriminologische Abgrenzungsmerkmale. Erweiterte Suizide finden vornehmlich im häuslichen Rahmen – sehr oft im Ehebett – statt, was weder auf Suizide noch auf Fremdtötungsdelikte zutrifft. Die Verwendung von Schusswaffen ist überproportional hoch im Vergleich zu anderen Arten, gewalttätig aus dem Leben zu scheiden.

Literatur

Dubbert, Gaby (2013): Erweiterte Suizide aus forensischer-psychologischer Perspektive. Eine Aktenanalyse von 31 Fällen. Verlag für Polizeiwissenschaft. Frankfurt am Main.

Duden http://www.duden.de/rechtschreibung/Suizid (abgerufen am 12.02.2017)

Faller-Marquardt, Maria; Pollak, Stefan (2006): Erweiterter Suizid mit Tötung von 5 Familienmitgliedern aus 3 Generationen. In: Kauert, Gerold; Mebs, Dietrich; Schmidt, Peter (Hrsg.). Kausalität. Forensische Medizin, Toxikologie, Biologie, Biomechanik und Recht. Hansjürgen Bratzke zum 60. Geburtstag. 43-53. Berliner Wissenschaftsverlag GmbH. Berlin.

Foerster, Karl (2009): „Erweiterter Suizid“ Ein problematischer Begriff? In: Der Nervenarzt, 80: 1078-1084. Springer Verlag. Berlin, Heidelberg.

Geiger, Dietmar Walter (1991): Erweiterter Suizid: Genese der Tatsituation und Tatmotivation, Täter-Opfer-Beziehung; kasuistische Beiträge aus der Gutachtenpraxis des Instituts für Gerichtliche Medizin der Universität Tübingen (Berichtszeit 1964 bis 1985). Tübingen.

Hellen, F.; Lange-Asschenfeldt, C.; Huckenbeck, W.; Hartung, B. (2014): Der „erweiterte Suizid“. Vollendete Homizid-Suizide unter psychopathologischen und  kriminologischen Aspekten. In: Der Nervenarzt, 85: 1144-1150. Springer Verlag. Berlin, Heidelberg.

Horn, Hans Jürgen (1996): Der erweiterte Suizid. In: Pohlmeier, H. (Hrsg): Suizid zwischen Medizin und Recht. 105-113. Gustav Fischer Verlag. Stuttgart, Jena, New York.

Paschen, Anne (2006): Handlungen von Fremd- und Selbsttötung. Eine forensisch epidemiologische Analyse für Hamburg 1990 – 2005. Verlag Dr. Kovač. Hamburg.

Pollack, Stefan (1981): Erscheinungsformen des erweiterten Selbstmordes. In: Forensia: Nr.3/4 Band 2. 67-78. Interdisziplinare Zeitschrift für Recht, Neurologie, Psychiatrie und Psychologie. Fakultas Verlag. Wien.

Watzka, Carlos (2015): Suizide und ihre biopsychosozialen Bedingungsfaktoren Epidemiologische Analysen auf Basis von Aggregat- und Individualdaten. Springer VS, Springer Fachmedien. Wiesbaden 2015.

weiterführende Literatur und Web-Links

Foerster: Erweiterter Suizid. Ein problematischer Begriff. 2009.


Die Toten Hosen: Alles aus Liebe