Cesare Beccaria

Der Mailänder Aristokrat Cesare Beccaria (15. März 1738 in Mailand - 28. November 1794 in Mailand) war ein einflussreicher Kritiker der Todesstrafe und der Folter und gilt vielen als der Begründer der Kriminologie. Von seiner andauernden Wertschätzung zeugen verschiedene nach ihm benannte Preise und Medaillen (Beccaria-Medaille, Beccaria Award, Beccaria Prize usw.).

Cesare Beccaria

Beccarias Argumentation, derzufolge der humane Umgang mit Straftätern sich auch für die Gesellschaft als nützlicher erweise als die hergebrachten Umgangsformen, wirft einige empirische Fragen sowie potentielle Dilemmata im Falle der Nichtübereinstimmung auf, die bis heute die Kriminalpolitik plagen und von Peter Strasser als Beccaria-Falle bezeichnet wurden (vgl. auch das von Wolfgang Naucke so genannte Beccaria-Schema).

Leben

Beccaria war der Sohn eines Mailänder Aristokraten von bescheidenem Wohlstand. Mit acht Jahren wurde er auf die Jesuitenschule in Parma geschickt - deren Stil er später als "fanatisch" beschrieb. Er galt als Mensch von unstetem Temperament, bei dem Phasen des Enthusiasmus sich mit solchen der Depression und Untätigkeit abwechselten. In seiner Beziehung zu anderen Menschen galt er als schweigsam und etwas zurückhaltend, aber er legte großen Wert auf seine Freunde und Familie. Dementsprechend litt er während seiner letzten Lebensjahre nicht nur unter gesundheitlichen Problemen, sondern auch unter den Prozessen, die seine zwei Brüder und seine Schwester gegen ihn führten und ihn viele Jahre beschäftigten.

Als er nach juristischer Promotion in Pavia (1758) im Jahre 1760 die 16-jährige Teresa Blasco heiraten wollte, kam es zu einem heftigen Konflikt mit seinem Vater, der zunächst einen Haftbefehl gegen seinen Sohn erwirkte, aufgrund dessen Cesare das Haus nicht verlassen durfte. Als der Sohn anschließend doch Teresa heiratete, verstieß ihn der Vater aus dem Haus und es bedurfte einer Leidenszeit von 15 Monaten, bis es - wohl unter Vermittlung eines der Prominenten vom Wiener Kaiserhof, die Cesare in seiner Not angeschrieben hatte (Fürst Kaunitz in Wien, Staatskanzler der Maria Theresa; Graf Karl Joseph Firmian) - zur Versöhnung kam. Danach wohnte Cesare sein ganzes Leben lang in dem väterlichen Hause: zuerst mit Teresa und den beiden Töchtern, dann (nachdem Teresa nach längerer Krankheit im Alter von 29 gestorben war und Cesare binnen vier Monaten erneut geheiratet hatte) mit seiner zweiten Frau.

Etwa um 1760 schloss Beccaria sich dem Grafen Pietro Verri an und half diesem bei der Gründung einer literarischen Gesellschaft, die sich als Akademie der Fäuste („Accademia dei Pugni“) bezeichnete. Zudem schrieb Beccaria in dem Periodikum der Akademie namens Il Caffè. 1762 erschien seine erste Veröffentlichung: eine Broschüre über die Münzreform. Auch publizierte Beccaria in der Zeitschrift Il Caffè, die dem englischen The Spectator nachgebildet war. 1764 wurde er mit Dei delitti e delle pene berühmt.

Auch danach blieb er konstruktiv und produktiv, doch erreichten seine Arbeiten über Wirtschaftsfragen, denen er sich dann zuwandte, bei weitem nicht die Erfolge, die seiner strafreformerischen Arbeit vergönnt waren. Seine Rolle als Prominenter genoss er überhaupt nicht. 1766 brach er einen Paris-Besuch, der ihn mit der Elite der Zeit zusammenbrachte, vorzeitig ab. 1768 nahm er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie in Mailand an - die Vorlesungen, die er dort über zwei Jahre hielt, machten ihn zu einem Pionier im Bereich der ökonomischen Analyse (postume Publikation im Jahre 1804 unter dem Titel Elementi di economia pubblica; Elements der Volkswirtschaft). Er antizipierte einige Ideen von Adam Smith und Thomas Malthus. 1771 wurde er Mitglied des obersten Wirtschaftsrates von Mailand. 1774 starb seine erste Frau nach längerem Leiden im Alter von 29 Jahren (drei Monate später heiratete er erneut). Beccaria blieb für den Rest seines Lebens Träger öffentlicher Ämter. Er kümmerte sich um eine große Bandbreite von Themen, von Münz- und Finanzfragen über das Arbeitsrecht bis hin zur Reform des öffentlichen Erziehungswesens. Ein Bericht Beccarias beeinflusste sogar die Entscheidung Frankreichs zugunsten des metrischen Systems. Beccarias letzte Monate waren überschattet von der Tatsache, dass die von ihm begrüßte Französische Revolution in eine Phase des Terrors abglitt.

Dei delitti e delle pene

Beccarias von humanistischer Rhetorik und utilitaristischem Denken bestimmtes Buch Verbrechen und Strafen (zuerst anonym veröffentlicht in Livorno, 1764: Dei delitti e delle pene, in dem er die Abschaffung der Willkür in der Kriminaljustiz, der geheimen Prozesse, der Folter und der Todesstrafe forderte, wurde in Europa und den USA begeistert aufgenommen (sieben Auflagen in sechs Monaten; Übersetzungen ins Französische, Englische, Deutsche, Polnische, Spanische und Niederländische). Es war der erste unabhängige und von Rücksichten freie literarische Ausdruck der Aufklärung in Italien, die erste systematische und auch für Nichtjuristen lesbare Strafrechtstheorie - die sich zudem in völlig säkularisierter Form darstellte und auf eine grundlegende Veränderung der bestehenden Verhältnisse abzielte: „Die Gesetze, welche die Abfälle der barbarischsten Zeitalter darstellen, werden in dem vorliegenden Buch zu jenem Teil untersucht, der das Strafsystem betrifft; und es wird das Wagnis unternommen, den Lenkern des öffentlichen Glücks die Fehlleistungen dieser Gesetze in einem Stile darzulegen, welcher die unaufgeklärte und unruhige Menge fernhält.“ (Beccaria 1998: 49 f.).

In diesem Buch forderte Beccaria u.a.:

  • Ersatz der Todesstrafe durch lebenslange öffentliche Zwangsarbeit (mit zwei Ausnahmen, siehe Dei delitti e delle pene..)
  • Abschaffung der Folter, weil sie widersinnig und unmenschlich sei: der Unschuldige kann dabei nur verlieren: er wird auf Verdacht mit Folter bestraft - und falls er schwach ist, gesteht er (das führt zu einer weiteren Bestrafung); falls er frei gesprochen wird, ist seine Ehre dennoch ruiniert. Der Schuldige kann durch die Folter ein kleineres Übel gegen ein größeres eintauschen: falls er stark ist, widersteht er der Folter und wird freigesprochen. Außerdem ist durch Folter jedes beliebige - auch falsche - Geständnis einholbar.
  • Abschaffung grausamer Strafen
  • Willkürverbot für die Polizei
  • Strenge Bindung der Richter an das Gesetz. Keine Willkür beim Strafen: nur das Gesetz bestimmt die Fälle, in denen gestraft wird, die Richter haben bei der Anwendung der Strafen keinen Entscheidungsspielraum.
  • Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen
  • Gewährung ausreichender Zeit für die Verteidigung
  • Zügige Abwicklung des Strafverfahrens
  • Unschuldsvermutung (in dubio pro reo)
  • Abschaffung des Strafzwecks der Vergeltung zugunsten der Abschreckung
  • Primat der Prävention vor der Repression (Aufklärung der Bürger, Toleranz, Bildung und Erziehung). Prävention ist wichtiger als das Strafen. Dabei greift Beccaria einen Gedanken von Montesquieus weiterführend auf: „Ich beabsichtige nicht, den gerechten Abscheu zu verringern, den diese Verbrechen [Kindsmord, Homosexualität; K.R.] verdienen; aber indem ich auf ihre Quellen hinweise, glaube ich das Recht zu haben, einen verallgemeinernden Schluß daraus zu ziehen, nämlich daß die Strafe eines Verbrechens nicht im genauen Sinn gerecht (will sagen notwendig) heißen kann, ehe nicht das Gesetz das unter den gegebenen Verhältnissen einer Nation bestmögliche Mittel angewandt hat, um dem Verbrechen vorzubeugen.“ (Beccaria 1966: 144 f.) „Besser ist es, den Verbrechen vorzubeugen als sie zu bestrafen. Dies ist der Hauptzweck jeder guten Gesetzgebung, die in der Kunst besteht, die Menschen zum größtmöglichen Glück oder zum geringstmöglichen Unglück [Glück versteht Beccaria aufklärerisch diesseitsgewand im größtmöglichen materiellen Wohlstand aller; K.R.] zu führen...“ (Beccaria, Cesare: Über Verbrechen und Strafen – Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff, S. 167, Frankfurt am Main / Leipzig: Insel Verlag Frankfurt am Main 1998.)
  • Proportionalität von Verbrechen und Strafe
  • Gleichheit vor dem Gesetz. Keine Privilegien für den Adel. Die Gesetze sollen klar und einfach sein. Und sie sollen öffentlich bekannt sein. Freiheit der ökonomischen Betätigung soll von Gesetzen so gelenkt werden, dass keine zu große Kluft zwischen Arm und Reich entsteht.
  • Gewissheit im öffentlichen Bewusstsein, dass jeder Gesetzesbruch bestraft wird.
  • Keine Strafe bei Verbrechen, die von ihrer Natur aus in der Mehrzahl der Fälle straflos bleiben, da sonst die Strafe zu einem Anreiz wird (z.B. Ehebruch). Gesetzlicher Schutz Schwächerer um z.B. lediger Mütter, Homosexueller
  • Vorbildwirkung des Souveräns, der die Todesstrafe abgeschafft hat und damit nicht mehr zum Mörder wird.
  • Belohnung der Tugend; Erziehung.
  • Milde Strafen, keine willkürlichen Begnadigungen: „Man erwäge indessen, daß die Milde die Tugend des Gesetzgebers als nicht des Vollziehers der Gesetze ist, sie im Gesetzbuch selber leuchten muß,...“ (Beccaria, Cesare: Über Verbrechen und Strafen – Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff, S. 176, Frankfurt am Main / Leipzig: Insel Verlag Frankfurt am Main 1998.)
  • Durchsetzung des Grundsatzes „nulla poena sine lege“
  • Beschränkung der Strafbarkeit auf sozialschädliches Verhalten. Einziger Maßstab für die Beurteilung von Strafen ist der Schaden, der der Allgemeinheit und Einzelpersonen zugefügt wird.

Die Rezeption des Buches war überwiegend enthusiastisch. In der Spannung zwischen den unmenschlichen Rechtsverhältnissen und der fast übereinstimmenden Ablehnung derselben durch die Philosophen war der Erfolg Beccarias gesichert. Er war einer der ersten Denker der Neuzeit, der sich mit Fragen der Rechts- und Kriminalpolitik befasste und weitreichende Vorschläge zur Verhinderung des Verbrechens machte. Das Werk hatte Einfluss auf Gesetzesreformen in England, Russland, Schweden, bei den Habsburgern und auf die Gesetzgebung einiger amerikanischer Staaten. Diderot, d’Alembert, Helvétius, Holbach und Voltaire waren begeistert. Sie luden Beccaria nach Paris ein (er besuchte nur eine Veranstaltung, fuhr dann aus Heimweh zurück, obwohl der ihn begleitende Alessandro Verri versuchte Beccaria zurückzuhalten).


Allerdings erschien er der aristokratischen Republik Venedig gefährlich; 1766 wurde das Werk vom Papst auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Auch erschien eine Gegenschrift des Mönches Ferdinando Facchinei (auf welche Alessandro Verri eine anonyme Verteidigungsschrift verfasste).

Später kam es zu einem Streit zwischen den Verris und Beccaria. Pietro Verri sähte Zweifel an der Eigenständigkeit von „Dei delitti e delle pene“. Nach Pietros Tod bestätigte Alessandro Verri die Autorenschaft Beccarias). Katharina die Große lud ihn danach nach Petersburg ein, um an ihrer Gesetzgebung mitzuwirken – kam nicht. Voltaire und Diderot kommentierten die Abhandlung zustimmend.- Kant, Hegel und Schopenhauer hielten Beccarias Argumente gegen die Todesstrafe nicht für überzeugend.

Kritik

  • Kant führte Beccarias Kritik an der Todesstrafe auf „teilnehmende Empfindelei einer affektierten Humanität" zurück und sah in Beccarias Argumentation nur "Sophisterei und Rechtsverdrehung" (Werke VII, ed. Weischedel, S. 457). Denn Strafe erlitte jemand nicht, weil er sie gewollt habe, sondern weil er die strafbare Handlung gewollt habe.


  • Beccaria begründet seine Forderung nach Milde der Strafen mit der Nützlichkeit solcher Strafen für die Gesellschaft. Diese Vermischung von Ethik und Utilitarismus wird von Peter Strasser (siehe: Beccaria-Falle) und von Wolfgang Naucke (siehe: Beccaria-Schema) kritisiert.

Beccaria als Namenspatron

  • Medaille: Die Neue Kriminologische Gesellschaft (NKG) verleiht nach einem Statut vom März 1964, zur Erinnerung an Cesare Beccaria, jährlich höchstens an fünf Personen die Beccaria-Medaille. Es gibt sie in zwei Klassen: Die Goldmedaille der ersten Klasse für hervorragende Leistungen in Forschung und Lehre auf dem Gesamtgebiet der Kriminologie. Die zweite Klasse für anerkennenswerte wissenschaftliche Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlerinnen oder erfolgreichen Einzelleistungen.
  • Kriminalprävention: Der Landespräventionsrat Niedersachsen rief im Rahmen von EU-Förderprogrammen das sog. "Beccaria-Programm" ins Leben. [[1]]

Literatur

  • Beccaria, Cesare (2005). Von den Verbrechen und von den Strafen (1764). Aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum. Mit einer Einführung von Wolfgang Naucke. Berlin: BWV. Nach der italienischen Werkausgabe von 1958. Cesare Beccaria, Opere. A cura di Sergio Romagnoli. 2 Bde. (hier: Band 1).
  • Beccaria, Cesare (1966). Über Verbrechen und Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff. Frankfurt: Insel. (für eine Liste weiterer deutscher Übersetzungen siehe Dei delitti e delle pene).
  • Beccaria, Cesare (1804) Elementi di economica pubblica.
  • Gerhard Deimling: Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa. Ausstellung aus Anlass des 250. Geburtstages von Cesare Beccaria, 1738-1794. 27. Juni bis 8. Juli 1988. Bergische Universität, Gesamthochschule Wuppertal, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. Katalog.
  • Helmut Jacobs (Hg.): Gegen Folter und Todesstrafe. Aufklärerischer Diskurs und europäische Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Peter Lang, Frankfurt/M. 2007.
  • Naucke, Wolfgang (2005) Einführung: Beccaria, Strafrechtskritiker und Strafrechtsverstärker. In: Cesare Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen (1764). Aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum. Mit einer Einführung von Wolfgang Naucke. Berlin: BWV: IX-XLVI.
  • Dieter Rössner (Hg.): Beccaria als Wegbereiter der Kriminologie. Verleihung der Beccaria-Medaille durch die Neue Kriminologische Gesellschaft. Forum-Verlag Godesberg, Mönchengladbach.
  • Gernot Steinhilper (Hg.): Verleihung der Beccaria-Medaille 1984. Deutsche Kriminologische Gesellschaft. Frankfurt/M. 1985.
  • Eberhard Weis: Cesare Beccaria (1738-1794). Mailänder Aufklärer und Anreger der Strafrechtsreformen in Europa. Bayerische Akademie der Wissenschaften 1992.

Weblinks