Belastungstheorie

Die Belastungstheorie (engl. strain theory) der Kriminalität behauptet eine kriminogene Wirkung von individuellen und gesellschaftlichen Widersprüchen und Spannungen. Während die Widersprüche auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene z.B. in Mertons Anomietheorie eine große Rolle spielen, hat Robert Agnew (1992) den Aspekt der individuellen Belastung in seiner "General Strain Theory" (Allgemeine Belastungstheorie) stärker in den Vordergrund gerückt.

Strukturelle Belastung entsteht aus inadäquaten Sozialstrukturen oder inadäquaten Regulierungen, die sich auf die individuelle Definition der Situation, insbesondere von Zielen und Mitteln, auswirken können. Individuelle Belastung bezieht sich auf Friktionen und Notlagen, die von einem Individuum in bezug auf seine Bedürfnisbefriedigung wahrnimmt.

Agnew (1992) postuliert, dass die Belastungstheorie zur Erklärung von Kriminalität und Abweichung von ihrer Verknüpfung mit Schicht- und Kulturvariablen gelöst und auf selbstgenerierte Normen re-fokussiert werden müsste. Seine Allgemeine Belastungstheorie ist weder strukturell noch interpersonal, sondern emotional und konzentriert sich auf die aktuelle soziale Umgebung des Individuums. Seiner Ansicht nach resultiert Belastung aus:

  • Failure to achieve positively valued goals (tatsächlichem oder antizipiertem Versagen bei dem Versuch, positiv bewertete Stimuli zu erreichen)
  • Disjunction of expectations and achievements (Entkopplung von Erwartungen und Leistungen; man hegt unrealistische Erwartungen und ist frustriert und ärgerlich, wenn sie sich nicht realisieren lassen). Wenn Individuen nicht so behandelt werden, wie sie erwarten (oder zu verdienen glauben) behandelt zu werden, werden sie den Glauben an die Rolle anderer in der Erwartungserfüllung verlieren.
  • Removal of positively valued stimuli (Entfernung positiver Stimuli; z.B. Verlust wichtiger Bezugspersonen)
  • Presentation of negative stimuli (Konfrontation mit negativen Reizen; z.B. Schläge, Erniedrigung, Verletzung; negative Beziehungen zu anderen ...).

Sollten Versuche der Zielerreichung durch andere blockiert werden, können negative Gefühle zu einem Druck führen, der viele Individuen leicht dazu führen kann, sich illegitimer Mittel der Zielerreichung zu bedienen. Häufig wird es sich dabei um einseitige Aktionen handeln, da das Individuum natürlich bemüht sein wird, sich unangenehme Zurückweisungen durch andere zu ersparen. Das wiederum verstärkt die allgemeine Entfremdung. Wenn spezielle Zurückweisungserfahrungen in ein Gefühl verallgemeinert werden, dass die Umwelt wenig taugt, dann können stärkere Emotionen entstehen, die wiederum ein Engagement in stärker abweichendem Verhalten, etwa kriminellen Handlungen, wahrscheinlicher machen können. Dies gilt besonders für jüngere Leute - aber auch in der Gruppe, meint Agnew, müsste weitere Forschung sich mit der Dimension (magnitude), zeitlichen Nähe (recency), Dauer (duration) und der Ballung (clustering) belastender Ereignisse befassen, um zu bestimmen, ob eine Person mit Belastungen auf konforme oder kriminelle Weise umgehe. Insbesondere identifizierte er Faktoren wie

  • Temperament
  • Intelligenz
  • Interpersonelle Kompetenzen
  • Selbstwirksamkeit
  • Kontakte mit kriminellen Gleichaltrigen sowie
  • konventionelle soziale Unterstützung.

Als Quellen von Belastung operationalisierte Akers (2000: 159) die Agnew'schen Gedanken wie folgt:

Agnew and White (1992) konnten zeigen, dass Jugendliche vor allem deshalb an Drogenkonsum Interesse zeigten, weil diese Aktivität in der Lage zu sein schien, "to manage the negative affect caused by strain."

Für Agnew (1992) ist "anger" - also Wut und Ärger - die kritische Emotion, da sie fast immer nach außen gerichtet ist und oft mit dem Zusammenbruch von Beziehungen einhergeht. Wenn belastende Ereignisse in großer Dichte auftreten, ist der Zusammenhang mit Kriminalität besonders eng - und zwar unabhängig von Alter, Schuldgefühlen und Coping-Fähigkeiten der Betroffenen.


Steven F. Messner und Richard Rosenfeld

Messner und Rosenfeld (1994) radikalisierten Mertons Schlüsselideen, indem sie die Belastungstheorie und die sozialen Kontrolltheorien miteinander verbanden. Ihre Institutionelle Anomie-Theorie (IAT) geht auf die besondere Bedeutung der materiellen Erfolgsziele ein und postuliert, dass die Folge des "American Dream" unter den Bedingungen der zunehmenden Dominanz des ökonomischen Sektors zu einem institutionellen Ungleichgewicht führt, das seinerseits in mehrfacher Hinsicht kriminogene Wirkungen zeitigt.

Literatur

  • Agnew, R. (1992). "Foundation for a General Strain Theory". Criminology 30(1), 47-87
  • Agnew, R. & White, H. (1992). "An Empirical Test of General Strain Theory" Criminology 30(4): 475-99.
  • Akers, R. (2000). Criminological Theories: Introduction, Evaluation, and Application. Los Angeles: Roxbury.
  • Cloward, R. (1959). "Illegitimate Means, Anomie and Deviant Behavior" American Sociological Review 24(2): 164- 76.
  • Cloward, R. & Ohlin, L. (1960). Delinquency and Opportunity. NY: Free Press.
  • Cohen, A. (1955). Delinquent Boys. NY: Free Press.
  • Cohen, A. (1965). "The Sociology of the Deviant Act: Anomie Theory and Beyond". American Sociological Review 30: 5-14.
  • Cohen, A. (1977). "The Concept of Criminal Organization". British Journal of Criminology 17: 97-111.
  • Featherstone, Richard & Deflem, Mathieu. (2003). "Anomie and Strain: Context and Consequences of *Merton's Two Theories". Sociological Inquiry 73(4):471-489. [1]
  • Hirschi, Travis. (1969). Causes of Delinquency. Berkeley: University of California Press.
  • Merton, Robert K. (1938). "Social Structure and Anomie". American Sociological Review 3: 672-82.
  • Merton, Robert K. (1959). “Social Conformity, Deviation, and Opportunity-Structures: A Comment on the Contributions of Dubin and Cloward”. American Sociological Review 24:177-189.
  • Merton, Robert K. (1968). Social Theory and Social Structure. New York: Free Press.
  • Messner, S & Rosenfeld, R. (1994). Crime and the American Dream. Belmont: Wadsworth.
  • Polk, K. (1969). "Class, Strain and Rebellion Among Adolescents" Social Problems 17: 214-24.
  • Polk, K., & Schafer, W. (eds.). (1972). Schools and Delinquency. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.
  • Reiss, A., & Rhodes, A. (1963). "Status Deprivation and Delinquent Behavior" Sociological Quarterly 4: 135- 49.
  • Rosenfeld, Richard & Messner, Steven. (1995). “Crime and the American Dream” in Criminological Theory:Past to Present (Essential Readings). Los Angeles: Roxbury. pp141-150.

Weblinks