Anomie

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Unter Anomie (von griech. anomia: Gesetzlosigkeit) wird im allgemeinen ein Zustand mangelnder gesellschaftlicher Integration verstanden. In der Kriminologie spielt Anomie in der Anomietheorie und in der Theorie der institutionellen Anomie eine zentrale Rolle.

Mit dem Wort Anomie wird eine gesamtgesellschaftliche Situation beschrieben, in welcher herrschende Normen auf breiter Front ins Wanken geraten, bestehende Werte und Orientierungen an Verbindlichkeit verlieren, die Gruppenmoral eine starke Erschütterung erfährt und die soziale Kontrolle weitgehend unterminiert wird (Durkheim). Mit dem Niederbruch dieser Normen entsteht ein Zustand unbegrenzter Aspirationen. Da diese nicht gesättigt werden können, ist andauerndes soziales Unbehagen die Folge, das sich in statistisch meßbaren Störungen negativer sozialer Akte ausdrückt (Selbstmord, Kriminalität, Ehescheidungen etc.).
Nach Durkheim ist Anomie auch ein Zustand der sozialen Desintegration, der dadurch entsteht, dass die wachsende Arbeitsteilung sozial befriedigende solidarische Kontakte zwischen den arbeitenden Menschen einer Gesellschaft zunehmend verhindert. Sie ist die Folge der Schädigung des kollektiven Bewußtseins und des kollektiven Gewissens im Zuge der zunehmenden Spezialisierung und Arbeitsteilung.
Nach Merton stellt Anomie einen Zusammenbruch der kulturellen Ordnung in Form des Auseinanderklaffens von kulturell vorgegebenen Zielen und Werten einerseits und den sozial erlaubten Möglichkeiten, diese Ziele und Werte zu erreichen, andererseits dar. Die Situation der Anomie übt für ihn auf die Individuen einen Druck zu abweichendem Verhalten aus und wird je nach Anerkennung oder Ablehnung der kulturellen Ziele und Werte oder der erlaubten Mittel durch verschiedene Formen der Anpassung bewältigt (Klima, 1995). Man bezeichnet Anomie auch als einen psychischen Zustand, der vor allem durch Gefühle der Einsamkeit, der Isoliertheit, der Fremdheit, der Orientierungslosigkeit sowie der Macht- und Hilflosigkeit gekennzeichnet ist. An Stelle dieses Begriffes der Anomie wird auch die Bezeichnung „Anomia“ verwandt. Psychologische Anomie ist danach die Folge von Anomie im soziologischen Sinne. Zur Messung psychologischer Anomie sind Einstellungsskalen entwickelt worden (H. ""McClosky"" u. J.H. Schaar 1965; L. Scrole 1956).

Begriffsgeschichte

Der Begriff wurde durch Emile Durkheim (1858 – 1917) in die Soziologie eingeführt. In seinem Werk „La division du travail“ (1893) setzt sich Durkheim erstmalig mit dem Phänomen der Anomie als einem Zustand der sozialen Desintegration in einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft auseinander. Darüber hinaus untersucht er die Ursachen des Selbstmordes als einer Form abweichenden Verhaltens, die gegen soziale Normen (zumeist religiöser Art) verstößt, in seiner klassischen Studie „Der Suizid“ aus dem Jahre 1897, die von verschiedenen Autoren als „Urtext“ der Anomietheorie bezeichnet wird (Lüdemann, Ohlemacher, 2002). Er hat dabei eingehend das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinen Bedürfnissen und Zielen (oder Aspirationen) diskutiert, die in stabilen Verhältnissen durch Normen und Regeln begrenzt sind. Er betont, dass erst dann, wenn die sozialen Regeln keine Beachtung mehr finden (wenn die kollektive Ordnung zerstört oder zerrissen wird) „werden menschliche Triebe übermächtig und laufen in Zustände der Anomie“ (Durkheim). Folgen sind etwa Phänomene wie Selbstmord und Kriminalität. Durkheim unterscheidet in Blick auf die Ursachen des Selbstmordes mehrere Typen, u.a.

  • den egoistischen Selbstmord (Fehlen sozialer Kontrolle, Verlust von Gruppenkohäsion durch arbeitsteilige Gesellschaften)
  • den altruistischen Selbstmord (beruht auf starker Gruppenkohäsion: zu starke Integration des Individuums in die Gruppe, Vorrang der Gruppenwerte, starke Kontrolle, kann bei Normverstoß zu Suizid führen),
  • der anomische Selbstmord (kennzeichnend etwa in Phasen der Depressionen oder der Hochkonjunktur, da in beiden Fällen die Orientierung an dem gewohnten Verhältnis von gesellschaftlichen Zielen und den Mitteln zur Erreichung dieser Ziele gestört ist. Entweder sind die Ziele wegen wirtschaftlicher Not unerreichbar oder durch Wohlstand zu schnell erreicht, so dass sie ihre handlungsorientierte Wirkung verlieren. Dies führt zu einer Desorientierung)

In Bezug zum Phänomen Kriminalität gelangte Durkheim schon in seinen „Regeln der soziologischen Methode“ (1895) zu dem Ergebnis, dass Kriminalität kein pathologisches (krankhaftes) Phänomen ist, sondern als integrierender Bestandteil jedes gesunden Gemeinwesens eine normale (immer zu erwartende) Erscheinung darstellt. „Es gibt ... keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existierte“ (Schwind, 2004).
Andere Akzente setzt Merton (zuerst 1938) bei den Merkmalen seines Anomiebegriffes. Er stellt nicht nur auf die Limitierungen zur Regelung der Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen und der Gruppen ab, sondern hebt vielmehr die Störung der Beziehungen zwischen den Zielen einerseits und den legitimen Mitteln zur Erreichung dieser Ziele andererseits hervor. Wie Durkheim entwickelt Merton auch die Grundlage für eine völlige Neubewertung der Armut in Bezug auf abweichendes soziales Verhalten.
Er ging bei der Entwicklung seiner Anomietheorie von der Beobachtung aus, dass es in der amerikanischen Gesellschaft ganz bestimmte Gruppen (vor allem untere soziale Schichten, die farbige Bevölkerung sowie neu eingewanderte ethnische Minderheiten) gab, die hohe Kriminalitätsraten haben, da sie sich kriminell betätigen.
Anomie nach Merton resultiert so vor allem aus einem Widerspruch von Sozial- und Kulturstruktur: aus dem Auseinanderklaffen von den als legitim anerkannten gesellschaftlichen Zielen und den Zugangsmöglichkeiten zu den zur Erreichung dieser Ziele erlaubten Mittel. Diese Diskrepanz fällt schichtspezifisch unterschiedlich aus:

  • auf der einen Seite die von allen sozialen Schichten verinnerlichten Ansprüche der Gesellschaft bzw. Kultur
  • auf der anderen Seite die chancenlose Realität der Unterschichtsangehörigen, denen es an Ressourcen (Erbe, Einkommen, berufliche Stellung, politische Verfügungsmacht) mangelt, sich solche Ansprüche erfüllen zu können. Die Erklärung für diese spezifische Verteilung abweichenden Verhaltens lautet: Die Gleichheit der durch die Gesellschaft festgelegten Interessen (an einem hohen Einkommen, sozialem Ansehen, Besitz) aller in dieser Gesellschaft lebenden Personen führt bei gesellschaftlich verursachter Ungleichheit der verfügbaren Mittel dazu, dass von denjenigen Gruppen, die nicht über ausreichende konforme Mittel verfügen, auch „unerlaubte“ Mittel in Form abweichender oder krimineller Handlungen eingesetzt werden, um diese kulturell festgelegten Ziele zu verwirklichen.

Nach Merton greifen die Betroffenen, um mit dieser Streßsituation fertig zu werden, insgesamt auf eines der fünf folgenden Verhaltensmuster zurück:
Konformität: gesellschaftliche Ziele werden bejaht, Mittel zur Erreichung stehen zur Verfügung (soziale Stabilität, keine kriminologische Bedeutung)
Innovation: Kulturelle Ziele werden akzeptiert, aber mit illegalen Mitteln zu erreichen versucht, z.B. mit Kriminalität
Ritualismus: Kulturelle Ziele werden heruntergeschraubt, die legalen Mittel beibehalten (evt. kriminologische Bedeutung)
Rückzug: Kulturelle Ziele sowie die legalen Mittel werden abgelehnt. Folge: Flucht in gesellschaftliche Scheinwelten (z.B. Alkohol, Rauschgift, Sekten)
Rebellion: Ziele und Mittel werden aufgegeben und durch neue ersetzt. Revolution oder alternative Lebensformen sind Beispiele für diese Handlungsform. Hier können auch kriminelle Aktivitäten wie Attentate, Bombenanschläge oder gewaltsame Krawalle ebenfalls durch Rebellion hervorgerufen werden.
Zahlreiche Autoren bieten weitergehende Interpretation der Anomietheorie nach Merton an, z.B. Pfeiffer/Scheerer (1979: 28 f): Sie weisen darauf hin, dass Merton mehrere Bedeutungen von Anomie verwendet hat.
Albrecht (1979) und Agnew (1998) betonen, dass Merton zwischen „gesellschaftlicher Anomie“ und „individueller Anomie“ (Anomia) unterscheidet. Anomie wird dabei keineswegs mit der Dissoziation zwischen kultureller und sozialer Struktur gleichgesetzt, aber auch nicht mit den Anpassungsreaktionen darauf. Sie wird vielmehr zeitlich und kausal zwischen beiden Phänomenen eingeordnet. Das strukturelle Auseinanderklaffen von Zielen und Mitteln führt zu sozialen Spannungen („strain“), die wiederum die individuelle Anomie („Anomia“) hervorrufen. Anomia und Anomie stehen also in einer Interdependenz- bzw. Interaktionsbeziehung.

Zusammenhang mit anderen Begriffen

Abweichendes Verhalten, Gelegenheitsstruktur, Kulturkonflikttheorie (Sellin), Subkulturtheorie (Cloward/Ohlin), Shaw/ Mc Kay, Theorie der differentiellen Assoziation (Sutherland), Strain theory (Agnew)

Zusammenhang mit der Realität

Zustände der Anomie sind vor allem nach sozialen Umbrüchen (industrielle Revolution bzw. politischen Umbrüchen), etwa nach dem Zusammenbruch 1945, und bei sozialen und ökonomischen Umwälzungen, etwa in den neuen Bundesländern und in den einzelnen osteuropäischen Staaten, insbesondere den GUS-Staaten zu beobachten (Schwind, 2004: 128). Gegenwärtig führt die Ausbreitung der modernen globalisierten Gesellschaft mit ihrem Pluralismus der Weltanschauungen und Wertorientierungen zu einer Verdrängung überkommener Kulturen mit stabilisierten Wert- und Normensystemen. Dies führt ebenfalls zu Problemen der Orientierungs- und Verhaltensunsicherheit, der Individualisierung und Desorientierung. Gegentendenzen sind die fortschreitende Verrechtlichung des sozialen Zusammenlebens, die Rückbesinnung auf die geschichtlich-kulturelle Identität, die Wiederbelebung kleinerer Einheiten („Glokalisierung) und der expansive Fundamentalismus im islamischen Kulturkreis (Kröner, 1994:29). Erkenntnisse zur neueren Selbstmordforschung: Vigderhous und Fishman (1976) untersuchten die geschlechtsrollen- und familienspezifischen Variablen zur Erklärung des Selbstmordes, insbesondere der Selbstmordrate von Frauen und kamen zu dem Ergebnis, dass nicht, wie von Durkheim behauptet, Ehescheidungen an sich zur Erhöhung der Selbstmordraten führen, sondern dass dieser Umstand bei den Frauen immer im Zusammenhang mit den spezifischen Effekten der „Emanzipation“ (der Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung) über die Auflösung der familialen Integration steht. Verheiratete haben insgesamt eine niedrigere Suizidrate (Studie von Janvansen, 1989) in Finnland, aber Männer begehen rund 6 mal mehr Suizid als Frauen, unabhängig, ob sie single, geschieden oder verheiratet sind.

Kritik an der Anomietheorie nach Merton

  • Kulturelle Ziele und soziale Schichten werden nur unzureichend und vage umschrieben, außerdem widerspricht das einheitlich gedachte Werte- und Normensystem der Vielfalt unterschiedlicher Normensysteme.
  • Die Theorie beschränkt sich größtenteils auf Eigentumskriminalität und erklärt nur Kriminalität der Unterschicht und Jugendkriminalität bzw. Aussiedlerkriminalität.
  • nach modernen Dunkelfeldforschungen sind Devianz, Delinquenz und Kriminalität aber kein ausschließliches oder auch nur vorwiegendes Unterschichtsproblem. Aber selbst wenn es so wäre, erklärt z.B. Mertons Theorie nicht, warum die Masse der Unterschicht sich sozial konform verhält, d.h. die Anomietheorie lastet auf der gesamten Unterschicht (Schneider, 1994:29).
  • Das Individuum wird als isolierte Einheit konzeptualisiert, das angesichts eines anomischen Drucks ihre Probleme löst. Interaktionsprozesse zwischen dem abweichenden Individuum und anderen Handelnden und Bezugsgruppen bleiben in diesem Modell unberücksichtigt (Scheerer, Pfeiffer, 1979:33).

Neuerdings werden z.B. Phänomene wie Rechtsextremismus und Jugendgewalt, Fremdenfeindlichkeit und ethnisch-kulturelle Konflikte durch ihren Bezug auf anomische Einstellungen analysiert bzw. erklärt. Anomische Einstellungen sind in dieser Sichtweise Aspekte negativen Wohlbefindens, die durch verringerte soziale Integration gekennzeichnet sind. Solch einer pauschalen Ausweitung des Anomiebegriffes kann entgegengehalten werden, „dass von Anomie erst dann gesprochen werden kann, wenn es wegen des beschleunigten sozialen Wandels keine Regeln gibt, diese unbekannt bleiben oder aus anderen Gründen ihre Orientierungsfunktion verlieren. Nur dann resultieren aus Desorientierung die anomischen Zustände der Desorganisation und Desintegration (Schäfers 1998).

Literatur

  • Agnew (1998): Foundation für a General Strain Theory of Crime and Delinquency in: Henry, Stuart; Einstadter, Werner: The Criminology Theory Reader, New York, London: New York University Press, S. S. 177-194
  • Ahlbrecht (1997): Anomie oder Hysterie – oder beides? Die bundesrepublikanische Gesellschaft und ihre Kriminalitätsentwicklung in: Heitmeyer (Hg) „Was treibt die Gesellschaft auseinander“, erste Auflage Frankfurt am Main, S. 506-512
  • Dahrendorf (2004), Außenansicht, Neue Phase der Aufklärung nötig in: Süddeutsche Zeitung Nr. 122
  • Durkheim (1930), De la division du travail social, Paris
  • Durkheim (1983), Der Selbstmord, Neuwied und Berlin
  • Durkheim (1961), Regeln der soziologischen Methode, Berlin
  • Klima (1995): Anomie in: Heinritz (Hg): Lexikon zur Soziologie, Opladen, S. 41
  • Kandil (2001): Anomie in: Schäfers (Hg): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen, S. 16-19
  • Kerscher (1977), Sozialwissenschaftliche Kriminalitätstheorien, Weinheim und Basel
  • König (1969): Anomie in :Bernsdorf (Hg), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, S. 27-29
  • Kröner: Anomie in: Hillmann (1994): Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, S. 28-29
  • Lüdemann, Ohlemacher (2002), Soziologie der Kriminalität, Weinheim und München
  • McClosky (1995): Anomie in: Heinritz (Hg): Lexikon zur Soziologie, Opladen, S. 41
  • Pfeiffer, Scheerer (1979), Kriminalsoziologie, Stuttgart: Kohlhammer, S.28-34
  • Schaar (1995): Anomie in: Heinritz (Hg): Lexikon zur Soziologie, Opladen, S. 41
  • Schäfers (1998), Anomie oder Rückkehr zur Normalität? in: Soziologische Revue, Jg.21, H.1, S. 3-12
  • Scrole (1995): Anomie in: Heinritz (Hg): Lexikon zur Soziologie, Opladen, S. 41
  • Schneider (1987), Kriminologie, Berlin, New York, S. 434
  • Schwind (2004), Kriminologie, Heidelberg


Weitere Informationen zum Stichwort Anomie finden Sie im Kriminologie-Lexikon ONLINE unter Anomie.