Anarchistische Kriminologie

Anarchistische Kriminologie betrachtet Gefängnisse und die Polizei, den Staat und das Strafrecht als Probleme. Sie bestreitet die Legitimationen der Strafe, des Strafrechts, der Gefängnisse und der Polizeigewalt und tritt für gewaltfreie Konfliktlösungen ein. Sie setzt sich kritisch mit der Existenz und Legitimation von Staat, Strafrecht, Polizei, Gefängnissen und Überwachungsbürokratien aller Art auseinander. Steht für die Kriminologie sonst die Reform dieser Institutionen im Sinne einer immer besseren Erforschung der Ursachen der Kriminalität, der Effektivität der Verbrechensbekämpfung und der Resozialisierung von Gefangenen im Vordergrund, so geht die anarchistische Kriminologie das Problem der Kriminalität von der anderen Seite her an: von der Existenz der Herrschaft, der sozialen Ungleichheit und des Strafjustizsystems. Kriminalität ist für sie nicht der Gegenstand der Kriminalpolitik, sondern deren Produkt. Wer etwas über die Ursachen der Kriminalität erfahren möchte, muss sich die Organisation des Staates und der Gesellschaft selbst ansehen.

Der anarchistischen Kriminologie wird - falls man sie überhaupt wahrnimmt - ein Mangel an guten Argumenten und an Realitätsbezug vorgehalten. Eine pauschale Kritik übersieht allerdings die Wahlverwandtschaft neuerer Strömungen in der Kriminalpolitik mit anarchistischen Grundideen. Und sie ignoriert die Existenz von empirisch belegten Zusammenhängen zwischen sozialer Ungleichheit, Kriminalitätsraten und Einsperrungsquoten. Die These, dass Gesellschaften mit größerer Gleichverteilung der Einkommen ein geringeres Ausmaß an Kriminalität und anderen sozialen Problemen aufweisen, gehört damit inzwischen zu den stärksten Argumenten, die sich (nicht nur, aber auch) für die anarchistische Kriminologie finden lassen.

Ungleichheit korreliert mit Kriminalität und weiteren sozialen Problemen. Daraus folgt, dass es wirksamer und kostengünstiger wäre, die soziale Ungleichheit zu verringern, als die mit der sozialen Ungleichheit zusammenhängenden Probleme jeweils für sich zu bearbeiten: "Politiker behandeln die sozialen und gesundheitlichen Probleme, die nach unseren Befunden alle ursählich mit der Ungleichverteilung zusammenhängen, zumeist als völlig unabhängige Phänomene, denen man jeweils nur mit ganz spezifischen Maßnahmen beikommen kann. Folglich bezahlen wir für die einen Probleme Ärzte und Krankenschwestern, für die anderen Polizei und Gefängnispersonal, für diese Probleme Nachhilfelehrer und Erziehungspsychologen, für jene Sozialarbeiter und Entziehungskliniken oder Psychiater und Gesundheitsexperten usw. Das ist ein teures und immer nur partiell wirksames Verfahren, um hier mit Krankheit, dort mit Verbrechen, da mit Schulproblemen und da mit psychischen Störungen oder anderen Problemen umzugehen. Tatsächlich hat der Grad sozialer Ungleichheit einen viel größeren Einfluss auf die Lebenserwartung als die Qualität der medizinischen Versorgung. Und selbst wenn die verschiedenen sozialen Einrichtungen ihre Aufgaben erfüllen würden - Resozialisierung von Straftätern, Krebsvorsorge und -therapie, Heilung Drogenabhängiger, Hilfe für Schulversager usw.-, es wird immer so sein, dass von Ungleichverteilung geprägte Gesellschaften von Generation zu Generation mit neuen und anderen gesundheitlichen und sozialen Problemen konfrontiert sind" (Wilkinson/Pickett 2009: 40 f.).



Jeff Ferrell (1997) schrieb zum Thema: "So it is with anarchist criminology. Complete or incomplete, as intellectual critique or failed moment of visceral defiance, anarchist criminology serves if only by standing outside the law, by stopping short of the seductive ideologies of obedience and conformity which undergird it. And in this stance, in this disavowal of legal authority and it destructive effects on social and cultural life, anarchist criminology serves to remind us that human relations and human diversity matter -- and that, in every case, they matter more than the turgid authority of regulation and law."


Geschichte der anarchistischen Kriminologie

Die anarchistische Kriminologie macht nicht viel von sich reden. Das hat mehrere Gründe. Erstens kann man sich auch in Kreisen der Wissenschaft das Mögliche meist doch nur im engen Gehäuse des Bestehenden vorstellen. Eine Denkrichtung, die entschiedene Alternativen für grundsätzlich möglich und sogar notwendig hält, hat da keinen guten Resonanzboden. Zweitens ist die Kriminologie innerhalb der Wissenschaften eine der am stärksten am Status Quo orientierten, also besonders phantasielos. Drittens ist der Begriff des Anarchismus weitgehend negativ besetzt: wer ihn affirmativ benutzt, riskiert jedenfalls informelle soziale Sanktionen, die im Wissenschaftsbetrieb allerdings für eine Karriere tödlich sein können. Ganz abgesehen davon ist der Mut vielleicht auch umsonst: auch ein noch so sinnvolles Argument würde wohl leicht "in eine bestimmte Ecke" gestellt und schlicht den Sprung in den seriösen Diskurs nicht schaffen, wenn es unter dem Titel des "Anarchismus" aufträte. Daher gibt es in Wirklichkeit gar nicht so wenige anarchistische Denker wie es scheint. Projekte wie Justice Reinvestment oder Restorative Justice, bzw. Transformative Justice basieren alle auf der Idee, dass der Umgang mit Kriminalität viel besser erfolgen kann, wenn man die Regelung der Konflikte dem Staat aus den Händen nimmt der Gesellschaft zurückgibt.

Kriminalpolitische Wahlverwandtschaften

Der Anarchismus bringt das Individuum und die Gesellschaft gegen den als illegitim und schädlich angesehenen Staatsapparat und das staatliche Strafrecht in Stellung. Polizei und Gefängnisse werden als Quellen der Willkür, der Unterdrückung und der Produktion von "Kriminellen" - also als Instanzen der Kriminalisierung - gesehen. Dahinter steht die Vorstellung einer wahren Demokratie ("Demarchie"), die ohne politische Herrschaft auskommt ("Anarchie"), bzw. eine Art gesellschaftlicher Selbstregulierung.

Fragen der Selbstregulierung sind freilich kein Monopol des Anarchismus. Ferrell (1997): "Instead, anarchist criminology calls for an ongoing critical conversation among perspectives, for a multi-faceted critique of legal injustice made all the more powerful by its openness to alternatives. Cohen (1988: 232) speaks of his 'lack of commitment to any master plan (such as liberalism, left realism, or abolitionism), a failing, I would like to think, not of my own psyche but of the social world's refusal to correspond to any one theory.' Anarchist criminology shares this lack of commitment to master plans -- including its own -- and embraces instead fluid communities of uncertainty and critique."


Literatur

  • Burnheim, John (1985) Über Demokratie. Alternativen zum Parlamentarismus. Berlin: Wagenbach.
  • Cohen, Stanley (1988) Against Criminology. New Brunswick, NJ: Transaction.
  • Pepinsky, Harold E. 1991. "Peacemaking in Criminology." In Brian D. MacLean and Dragan Milovanovic, eds., New Directions in Critical Criminology, pp. 107-110. Vancouver: The Collective Press.
  • Pepinsky, Harold E. and Paul Jesilow. 1984. Myths That Cause Crime, 2nd ed. Cabin John, MD: Seven Locks.
  • Pepinsky, Harold E. and Richard Quinney (eds.). 1991. Criminology as Peacemaking. Bloomington: Indiana.
  • Wilkinson, Richard & Kate Pickett (2009) Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin: Tolkemitt.

Weblinks

  • Answer: Anarchist Criminology [[1]] (18.02.10)
  • Ferrell, Jeff. (1997). Against the Law: Anarchist Criminology, in Brian D. MacLean and Dragan Milovanovic (eds.) Thinking Critically About Crime. [[2]] (18.02.10)
  • Pepinsky, Harold E. (1978) Communist Anarchism as an Alternative to the Rule of Criminal Law. Contemporary Crises 2: 315-327.