Amok

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Amok ist ein explosionsartiger Ausbruch "besinnungslos-schrankenloser" homizidal-suizidaler Gewalttätigkeit. Für die Opfer kommt die Gewaltaktion völlig überraschend. Für den - fast ausnahmslos männlichen - Täter ist sie der Abschluss eines oft jahrelangen Prozesses des Grübelns und der Vorbereitung, der im wesentlichen zwar innerpsychisch verläuft, sich aber in manchen Fällen auch nach außen Ausdruck verschafft (Notizen, Ankündigungen, Interneteintragungen etc.). Von der Erforschung solcher "leakages" verspricht man sich eine verbesserte Prävention.

Kulturell amok-ähnlich sind: ahade idzi be (Neu Guinea), Benzi mazurazura (in Teilen Südafrikas), der Berserker-Gang (Skandinavien), Cafard (Polynesien), Colerina (Andenstaaten), Hwa-byung (Korea) und Ii'aa (Navajo-Indianer).

Aktuell verwandte Phänomene sind Schulmassaker (school shootings), Familizid (Familienmord) und Hassverbrechen (hate crimes).


Begriff

Unter Amok wird ein explosionsartiger Ausbruch "besinnungslos-schrankenloser" homizidal-suizidaler Gewalttätigkeit im öffentlichen Raum verstanden. In der Regel kommt dieser Ausbruch für die Opfer völlig überraschend, wurde aber vom (fast ausnahmslos männlichen) Täter (dem Amokläufer, Amokschützen ...) über längere Zeit psychisch und materiell vorbereitet.

Herkunft

Das Wort Amok stammt aus dem Malaiischen (âmok: wütend, vor Wut außer sich; meng-âmok: in blinder Wut angreifen und töten; peng-âmok: Amokläufer) und kennzeichnet dort ein seit Jahrhunderten überliefertes Handlungsmuster. Seit dem 15. Jahrhundert gab es Berichte vom malaiischen Archipel über zwei Formen des Amok, den kollektiven (= kriegerischen) und den individuellen.

Der kriegerische Amok war eine malaiische Kampftechnik, bei der sich die "amoucos" mit dem Schrei »Amok, Amok« auf ihre Gegner stürzten und bis zum Tod kämpften. Wenn sie überlebten, sahen sie das als Schande an. Adler vermutet, dass »amoucos« eine Elitegruppe des kriegerischen Volkes Nayros waren, die in Kriegen auf Befehl ihres Königs bedingungslosen Einsatz zeigten.

Der individuelle Amok wurde 1430 von Nicolo Conti beschrieben: zahlungsunfähige Schuldner liefen Amok, um der Versklavung zu entkommen. Sie töteten so lange, bis sie selbst getötet wurden. Ein Jahrhundert später beschrieb Duarte Barbosa einen Amoklauf als Danksagung an Gott nach überstandener Krankheit.

Definitionsversuche

  • Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Amok als "eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-)zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie und/oder Erschöpfung. Häufig auch der Umschlag in selbst-zerstörerisches Verhalten, d.h. Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid."
  • Das psychiatrische Klassifikationssystem DSM IV beschreibt Amok als "dissoziative Episode, die durch eine Periode des Grübelns charakterisiert ist, auf die ein Ausbruch gewalttätigen, aggressiven oder menschengefährdenden Verhaltens folgt, das sich auf Personen und Objekte richtet. Eine solche Episode scheint durch eine wahrgenommene Herabsetzung oder Beleidigung ausgelöst zu werden und nur bei Männern vorzukommen. Die Episode geht oft einher mit Verfolgungsideen, Automatismen, Amnesie und Erschöpfung sowie einer anschließenden Rückkehr zum prämorbiden Status. In einigen Fällen tritt Amok während einer kurzen psychotischen Episode auf oder kann den Beginn oder die Verschlechterung eines chronisch verlaufenden psychotischen Prozesses kennzeichnen" (Saß et al. 1996: 897).
  • Jens Hoffmann (2003:399) definiert Amok als "intentionale und nach außen hin überraschende Tötung und/oder Verletzung mehrerer Personen bei einem Tatereignis ohne Abkühlungsperiode, wobei einzelne Tatsequenzen im öffentlichen Raum stattfinden."
  • Karl Weilbach (2008) definiert Amok "als planmäßige homizidal-suizidale Aktion eines einzelnen Akteurs auf mehrere Menschen im öffentlichen Raum. Der bewaffnete und mit Tötungsintention durchgeführte plötzliche Angrif richtet sich gegen gezielt wie zufällig ausgewählte extrafamiliäre Opfer, die angesichts der Aktionsmacht des zum Suizid bereiten Akteurs kaum Möglichkeiten zur Gegenwehr haben."


Einzelfälle

  • In der Schweiz (Zug) tötete der 57 Jahre alte Friedrich Leibacher am 27. September 2001 unter Einsatz von Schusswaffen und einem Brandsatz 14 ParlamentarierInnen des Kantonsparlament und verletzte 15 weitere Personen. Nach weniger als drei Minuten erschoss sich der Täter mit einer Pistole noch am Tatort.


Erklärungsansätze

Vom extremen Charakter der Gewaltaktion schließt man häufig auf das Vorliegen einer psychischen Extremsituation beim Täter, oft auch auf seine Unzurechnungsfähigkeit.

Über die psychologischen Hintergründe besteht keine Einigkeit. Es fällt aber auf, dass Amok-Zustände offensichtlich dort öfter auftreten, wo extreme Aggressionen oder selbstzerstörerische Angriffe (z. B. im Rahmen von Kriegshandlungen) eine traditionell hohe Wertschätzung erfahren.


Von Schünemann stammt folgendes Phasenmodell des Amoklaufs:

  • intensive Phase des Grübelns bzw. eine Depression mit Isolation von der Umwelt folgt auf Kränkungen, Objektverluste
  • Ausbruch des eigentlichen Amoks mit rücksichtsloser Tötungsbereitschaft. Oftmals beginnt der Amoklauf bei der Familie oder Verwandten und weitet sich dann wahllos auf Fremde aus.
  • Anschließend folgt eine oft mehrstündige anhaltende mörderische Raserei, bis der Amokläufer sich selbst tötet oder von anderen getötet bzw. kampfunfähig gemacht wird.
  • Überlebende Täter geben vor, keine Motive gehabt zu haben, bzw. sich nicht an die Tat erinnern zu können, gelegentlich fallen die Täter in einen terminalen Tiefschlaf.

Durch Schünemann und Adler et al. wird Amok in neueren Studien als eine plötzliche Geistesgestörtheit mit stark aggressivem Bewegungsdrang definiert, kann beim Befallenen wutartige, wahllose Tötungsversuche auslösen, zuerst bei malaiischen Eingeborenen beobachtet. Amok wird als kulturell beeinflusste Sonderform des Selbstmords aus aufgestauter, zur Entladung drängender Aggressivität angesehen. Als Ursache werden Epilepsie, Malaria oder Katatonie angenommen, doch weist der gleichförmige Ablauf bei den verschiedensten Fällen auch auf die Mitwirkung eines psychogenen Faktors hin. Heutige psychologische Erklärungsansätze sehen Amok als eine Konfliktreaktion von Erlebnissen sozialer Degradierung, Verlusterfahrungen oder Nichterfüllung des Geltungsdrangs. Ein soziologisch orientierter Konfliktansatz sieht in Amok ein weltweites Phänomen, das vermehrt in politischen, ökonomischen und soziokulturellen Umbruchphasen auftritt. Veränderungen in diesen Bereichen können in Verbindung mit einer anfälligen Persönlichkeit des Täters das Aufkommen von Amoktaten begünstigen. Lübbert kommt in ihrer geschlechtsspezifisch orientierten Untersuchung zum Schluss, dass Amok dem Täter zur Demonstration von Macht und Wiederherstellung seiner Männlichkeit dient.

Tätertypen nach der sogenannten transkulturellen Psychiatrie

Die so genannte Transkulturelle Psychiatrie meinte aufgrund ihrer Untersuchungen von fernöstlichen Amokläufern verschiedene Charakter-Typen abgrenzen zu können. Ob sich das auch auf den westlichen Kulturkreis übertragen lässt, bleibt offen. Das, was man bisher zu wissen glaubt, gliedert sich - zumindest theoretisch - in folgende Gruppierungen auf:

  • Da gibt es Amokläufer, die gelten von Natur aus sogar als sanft und gutmütig und haben Schwierigkeiten, ihre Ansprüche und vor allem Aggressionen wirksam zum Ausdruck zu bringen ("Aggressions-Stau", "Beiß-Hemmung"). Hier kann es trotzdem zu einem Gewalt-Durchbruch kommen - und dann natürlich besonders unerwartet.
  • Andere Amokläufer werden als krankhaft geltungsbedürftig geschildert, stellen sich ständig zur Schau und sind außerordentlich empfindlich gegenüber dem erwähnten Verlust an Ansehen und Prestige (neue Stichworte: "Verdruss-Karriere" oder gar "Verhängnis-Karriere"). Hier ist man vielleicht schon nicht mehr so überrascht, wenn eine solche Tat geschieht (siehe auch Schul-Amok).
  • Ein dritter Typ gilt als abnorm ichbezogen, reizbar, ja erregbar, streitsüchtig, ggf. fanatisch, querulatorisch, aggressiv bis explosibel. Er missachtet die sozialen Normen, Regeln und Verpflichtungen, gilt als verantwortungslos und unfähig, die Gefühle der anderen zu respektieren und längerfristige Beziehungen einzugehen. Er hat nicht nur eine niedrige Schwelle für aggressives oder gar gewalttätiges Verhalten, sondern ist auch unfähig, ein normales Schuldbewusstsein zu entwickeln und aus der Erfahrung zu lernen, selbst nicht aus Bestrafungen.

Wenn ein solcher Mensch im Rahmen eines Amok-Laufes zur Waffe greift, ist es zwar ebenfalls furchtbar, aber man ist vielleicht nicht so überrascht wie bei den anderen Wesensarten.


Soziodemographischer Hintergrund

Anhand der Studie von Adler ist festzuhalten, dass ein Amoklauf von überwiegend jüngeren bis älteren männlichen Tätern begangen wird. In der Mehrzahl der Fälle wird von einer aktuellen Lebensgemeinschaft der Täter berichtet, unabhängig vom formalen Status. Im überwiegenden Maße haben die Amokläufer eine »Blue-Collar«-Qualifikation, wie Handwerker, ungelernte Arbeiter und Andere. Gefolgt von Personen mit »White-Collar«-Qualifikationen, wie Angestellte, Beamte, Akademiker. Das Vorkommen der Amokläufe bezog sich eher auf Städte bis zu 10.000 Einwohner. Bei Untersuchungen zur Gefährlichkeit waren 3 kleinere Subgruppen mit hohen Opferzahlen auffällig. Erstens wurden altersinadäquate, mit der Mutter zusammenlebende, Amokläufer identifiziert, zweitens jüngere, eher altersgemäß bei den Eltern lebende Amokläufer und drittens im Trend ältere Akademiker....

Täter-Opfer-Beziehung

Adler beschreibt den Amoklauf, der bei Verwandten, Bekannten oder Konfliktpartner beginnt und sich dann auf Fremde und völlig Unbeteiligte ausweitet. Lübbert berichtet von ausschließlich Fremden als Opfer des Amoklaufs in mehr als einem Drittel der Fälle.


Tatausgang

Studie von Sven Sehle (1999)

Sven Sehle untersuchte im Rahmen seiner Dipolomarbeit 89 Amoktaten und stellte dabei folgendes fest:

  • die Taten werden überwiegend mit Schusswaffen ausgeführt
  • durchschnittlich sind 5,3 Todesopfer bzw. 4,7 Verletzte pro Amoklauf zu beklagen

Bei den einzelnen Taten sind erhebliche Schwankungen festzustellen:

  • die Anzahl der Todesopfer liegt im Bereich zwischen 0 und 35 pro Tat
  • ohne Todesopfer endeten 12 Amokläufe (14%), in 17 Fällen wurde bei der Tat ein Mensch getötet
  • die Anzahl der Verletzten liegt im Bereich zwischen 0 und 32 Verletzten pro Tat
  • in 24 Fällen wurde keiner verletzt (30%), in 12 Fällen wurde ein Mensch verletzt (15%)
  • in 34 Fällen (43%)verübte der Täter Suizid und in 6 weiteren Fällen lag ein Suizidversuch vor(7 %)
  • in 50 % der Fälle endeten die Amoklagen ohne jede Selbstverletzung des Täters
  • in 27 Fällen (37%)wurde der Amoktäter von Einsatzkräften der Polizei überwältigt
  • in 5 Fällen (7%)wurde der Täter von der Polizei erschossen
  • in 5 weiteren Fällen wurde der Täter vom Opfer selbst bzw. dem unmittelbaren Umfeld überwältigt
  • in zwei Fällen (3%) stellte sich der Amoktäter nach der Tat selbst

Studie von Lothar Adler (2000)

Nach der Studie von Adler wurden 40,1% der Täter nach deren Widerstand entwaffnet, bei 33,5% handelte es sich um einen tödlichen Ausgang durch Suizid und bei 6,6% durch Fremdeinwirkung, 10,8% der Täter ließen sich widerstandslos festnehmen und 5,4% waren Suizidversucher. Unbekannte Ausgänge kommen mit 14,2% hinzu.

Literatur

  • Lothar Adler, „Amok- Eine Studie“, Belleville-Verlag, München, 2000.
  • Jens Hoffmann (Hg.): Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen. Früherkennung, Risikomanagement, Kriseneinsatz, Nachbetreuung. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt/M 2007.
  • Jens Hoffmann, Amok - ein neuer Blick auf ein altes Phänomen. In: Clemens Lorei, Hg., Polizei & Psychologie. Kongressband der Tagung "Polizei & Psycholgie" am 18. und 19. März 2003. Frankfurt a.M.: 397-414.
  • Thomas Knecht, Amok und Pseudo-Amok. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 150 (1998) (3) 142-148.
  • Monika Lübbert, „Amok-Lauf der Männlichkeit“, Verlag für Polizeiwissenschaft , Frankfurt 2002.
  • W. M. Pfeiffer, Transkulturelle Psychiatrie. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 1994.
  • Saß, Henning, et al. (1996): Diagnostisches und statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM-IV. Göttingen.
  • Sven Sehle, „Zum Phänomen Amok“, Diplomarbeit, FHÖV Hildesheim, 1999.
  • Karl Weilbach „Aktionsmacht Amok“, Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik. Münster: LIT 2004.
  • Karl Weilbach, "Es sieht so aus, als würde ich der Wolf sein". Eine Fallanalyse zur Amoktat von Zug (CH) aus kriminologischer Sicht. Hamburg (Dissertation), 2008.