Aktuarische Kriminalpolitik: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuarische Kriminalpolitik konzentriert nach ihrem Selbstverständnis die Ressourcen der Strafverfolgung auf die Populationen mit der höchsten Delinquenzbelastung, bis deren Straffälligkeitsrate sich derjenigen der sonstigen Bevölkerung angeglichen hat. Auf diese Weise maximiert sie die Aufdeckung von Straftaten und die Erfolge bei der Reduzierung der Kriminalitätsbelastung in den problematischsten Populationen.
Aktuarische Kriminalpolitik konzentriert nach ihrem Selbstverständnis die Ressourcen der Strafverfolgung auf die Populationen mit der höchsten Delinquenzbelastung, bis deren Straffälligkeitsrate sich derjenigen der sonstigen Bevölkerung angeglichen hat. Auf diese Weise maximiert sie die Aufdeckung von Straftaten und die Erfolge bei der Reduzierung der Kriminalitätsbelastung in den problematischsten Populationen.
Nach Harcourt beruht diese Strategie auf der (wahrscheinlich fehlerhaften) Annahme, dass unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft auf die Schwerpunktveränderungen im policing in gleicher Weise reagieren (identische relative Elastizität der Deliktsbegehung durch unterschiedliche Gruppen gegenüber Veränderungen im policing). Wenn Leistungsträger der Wirtschaft auf Intensitätserhöhungen der Steuerfahndung elastisch reagieren, d.h. wenn ihre Deliktsneigung zurückgeht, dann wird die Gesellschaft als Ganze nur dann davon profitieren, wenn nicht andere Bevölkerungsgruppen aufgrund der wahrgenommenen Schwerpunktsetzung auf "Leistungsträger" dazu übergehen, dank ihrer Elastizität gegenüber vermindertem Fahndungsdruck in erhöhtem Maße die Steuern zu hinterziehen. Wenn aber die relative Elastizität der Leistungsträger geringer ist als diejenige der übrigen Bevölkerung, dann dürfte die Erhöhung des Fahndungsdrucks auf Leistungsträger aufgrund der Differenz zwischen geringem Rückgang der Kriminalität bei den Leistungsträgern im Vergleich mit der stärkeren Zunahme der Kriminalität bei den nicht im Fokus befindlichen Gruppen in einer gesamtgesellschaftlichen Zunahme der Kriminalität resultieren.
Nach Harcourt beruht diese Strategie auf der (wahrscheinlich fehlerhaften) Annahme, dass unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft auf die Schwerpunktveränderungen im policing in gleicher Weise reagieren (identische relative Elastizität der Deliktsbegehung durch unterschiedliche Gruppen gegenüber Veränderungen im policing). Wenn Leistungsträger der Wirtschaft auf Intensitätserhöhungen der Steuerfahndung elastisch reagieren, d.h. wenn ihre Deliktsneigung zurückgeht, dann wird die Gesellschaft als Ganze nur dann davon profitieren, wenn nicht andere Bevölkerungsgruppen aufgrund der wahrgenommenen Schwerpunktsetzung auf "Leistungsträger" dazu übergehen, dank ihrer Elastizität gegenüber vermindertem Fahndungsdruck in erhöhtem Maße die Steuern zu hinterziehen. Wenn aber die relative Elastizität der Leistungsträger geringer ist als diejenige der übrigen Bevölkerung, dann dürfte die Erhöhung des Fahndungsdrucks auf Leistungsträger aufgrund der Differenz zwischen geringem Rückgang der Kriminalität bei den Leistungsträgern im Vergleich mit der stärkeren Zunahme der Kriminalität bei den nicht im Fokus befindlichen Gruppen in einer gesamtgesellschaftlichen Zunahme der Kriminalität resultieren.
Harcourt bezweifelt, dass die stärker delinquente Gruppe auf Veränderungen des Verfolgungsdrucks genauso elastisch reagiert wie andere Gruppen (schließlich und endlich hat sie ja nicht umsonst eine erhöhte Deliktsbelastung): "If their offending rates are different, than why would their elasticity be the same?" (24).


== Literatur ==
== Literatur ==

Version vom 19. Februar 2008, 18:50 Uhr

Aktuarische (d.h. eine der Versicherungslogik folgende, auf versicherungsstatistischen Methoden der Risikoprognose basierende) Kriminalpolitik ist der Inbegriff der "Kriminalpolitik der Spätmoderne" (Karl-Ludwig Kunz). Sie unterscheidet sich von der Kriminalpolitik der klassischen Moderne durch eine Verlagerung des Interesses von der Besserung des Straftäters auf die Gewährleistung innerer Sicherheit mittels Kontrolle von Risikopopulationen.

"Kriminalitätsrisiken werden nunmehr durch statistische Aufbereitung registrierter Ereignisse und Zuordnung der Ereignisse zu typischen Merkmalen von Situationen und Personen errechnet. So werden Wahrscheinlichkeitsaussagen darüber möglich, unter welchen Bedingungen mit dem Auftreten welcher krimineller Ereignisse zu rechnen ist. Diese Risikoanalyse erlaubt die Entwicklung risikomindernder und -begrenzender Interventionen. An die Stelle des ehrgeizigen Unterfangens, die Individuen vermittels Strafe zu tadeln und damit motivierend anzusprechen, tritt der vermeintlich ideologisch indifferente Versuch, Räume zu besetzen, Situationen zu beherrschen und damit Kriminalitätsrisiken zu beeinflussen. Kontrolltheoretisch geht es damit nicht mehr um individuelle Verhaltensbeeinflussung, sondern um Lenkung von Aktionsmöglichkeiten durch vorbeugende Regulierung. Mit dem versicherungsstatistischen Verständnis von Kriminalitätsrisiken verlagert sich das kriminalpräventive Interesse von der tat- und täterbezogenen Reaktion hin zur möglichst risikoarmen Gestaltung von Alltagssituationen. Im Vordergrund steht nunmehr das Ziel einer vorbeugenden Bestimmung von Kriminalitätsrisiken und einer Gefahrenminimierung vor Eintritt eines Schadens. Im übrigen tritt neben das kriminalpräventive Anliegen der Reduzierung von Kriminalität dasjenige der Verminderung gesellschaftlicher Verunsicherung durch Kriminalität. Während die Eignung der Strafe zur individuellen Verhaltensbeeinflussung überwiegend skeptisch eingeschätzt wird, gewinnt die strafrechtliche Repression eine neue Bedeutung als symbolisches Mittel zur Bestärkung von Rechtsvertrauen und zum Abbau gesellschaftlich dysfunktionaler Verunsicherung. Daraus ergibt sich ein grundlegender Wandel des kriminalpolitischen Selbstverständnisses" (Kunz 2006).


Kritik

Karl-Ludwig Kunz (2006) kritisiert die aktuarische Kriminalpolitik aufgrund ihrer negativen rechtlichen (die Grundrechte einschränkenden) und sozialen (zur Ausgrenzung tendierenden) Auswirkungen. Insbesondere nennt er die drei Aspekte der Vorbeugenden Überwachung, der Käuflichkeit von Sicherheit und Sicherheitspartnerschaften sowie der Ausgrenzung von Risikoträgern. Sein Vorschlag besteht in der Ersetzung aktuarischer Methoden durch eine gemeinsinnorientierte Kriminalpolitik.

Bernard E. Harcourt (2007: 21 ff.) kritisiert erstens die Mathematik der aktuarischen Methoden (insbesondere des kriminellen Profilings), zweitens die verborgenen sozialen Kosten der Anwendung dieser Methoden in der Kriminalstrategie und drittens die dadurch verursachte Veränderung und Beschädigung der herrschenden Gerechtigkeitsauffassungen. Sein kriminalpolitischer Vorschlag besteht darin, aktuarische Methoden nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zu benutzen und ansonsten Kontrollen gerade nicht nach statistischen Häufigkeiten, sondern nach dem Zufallsprinzip vorzunehmen.

  • Kritik der aktuarischen Mathematik

Aktuarische Kriminalpolitik konzentriert nach ihrem Selbstverständnis die Ressourcen der Strafverfolgung auf die Populationen mit der höchsten Delinquenzbelastung, bis deren Straffälligkeitsrate sich derjenigen der sonstigen Bevölkerung angeglichen hat. Auf diese Weise maximiert sie die Aufdeckung von Straftaten und die Erfolge bei der Reduzierung der Kriminalitätsbelastung in den problematischsten Populationen. Nach Harcourt beruht diese Strategie auf der (wahrscheinlich fehlerhaften) Annahme, dass unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft auf die Schwerpunktveränderungen im policing in gleicher Weise reagieren (identische relative Elastizität der Deliktsbegehung durch unterschiedliche Gruppen gegenüber Veränderungen im policing). Wenn Leistungsträger der Wirtschaft auf Intensitätserhöhungen der Steuerfahndung elastisch reagieren, d.h. wenn ihre Deliktsneigung zurückgeht, dann wird die Gesellschaft als Ganze nur dann davon profitieren, wenn nicht andere Bevölkerungsgruppen aufgrund der wahrgenommenen Schwerpunktsetzung auf "Leistungsträger" dazu übergehen, dank ihrer Elastizität gegenüber vermindertem Fahndungsdruck in erhöhtem Maße die Steuern zu hinterziehen. Wenn aber die relative Elastizität der Leistungsträger geringer ist als diejenige der übrigen Bevölkerung, dann dürfte die Erhöhung des Fahndungsdrucks auf Leistungsträger aufgrund der Differenz zwischen geringem Rückgang der Kriminalität bei den Leistungsträgern im Vergleich mit der stärkeren Zunahme der Kriminalität bei den nicht im Fokus befindlichen Gruppen in einer gesamtgesellschaftlichen Zunahme der Kriminalität resultieren. Harcourt bezweifelt, dass die stärker delinquente Gruppe auf Veränderungen des Verfolgungsdrucks genauso elastisch reagiert wie andere Gruppen (schließlich und endlich hat sie ja nicht umsonst eine erhöhte Deliktsbelastung): "If their offending rates are different, than why would their elasticity be the same?" (24).

Literatur

  • Harcourt, Bernard E. (2007) Against Prediction. Profiling, Policing, and Punishment in an Actuarial Age. Chicago, London: The University of Chicago Press.

(aufgerufen 19.02.2008)