Akademie der Fäuste

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Akademie der Fäuste war der Name einer geselligen intellektuellen Vereinigung in Mailand in der Zeit von 1761 bis 1765, zu der auch Cesare Beccaria gehörte und die 1765/66 eine Zeitschrift namens Il Caffè herausgab. Der Name ging auf die Idee rücksichtslos-antikonventionellen Denkens und rationalen Argumentierens zurück. Das war ein Gegenprojekt zur konventionell-erstarrten Florentiner "Accademia della Crusca".


„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1784)

Der Verstand – ein anderes Wort für Vernunft – sollte von nun an herrschen, im Gegensatz zu seiner Unterordnung unter vorgefasste Doktrinen, Auffassungen und Meinungen in früheren Zeiten. Aufklärung, so schien es jedenfalls vielen Zeitgenossen –: das war Klarheit, Licht und Erleuchtung, war Kampf gegen die Dunkelheit von Dogma und Aberglauben. In England, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland aufgekommen und dort schon verbreitet, erreichte die Aufklärung nach und nach weitere Länder. Montesquieu hatte das Wesen der Gesetze untersucht und damit den Gedanken der Gerechtigkeit ins Zentrum gerückt. Die französischen Enzyklopädisten erklärten die Materialität der Welt, Rousseau begründete die revolutionäre Idee von der Gesellschaft als Vertrag, der von gleichen und freien Menschen geschlossen wird.

In Italien, genauer: in Mailand, fassten diese Gedanken im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in einer kleinen Gruppe von jungen Leuten Fuß. Sie waren gebildet, intelligent, neugierig, aktiv, lernbegierig. Aber sie wuchsen in einem politisch und wirtschaftlich dahindämmernden Land auf, in der Lombardei. Die gehörte seit 1748 zu Habsburg, zu Österreich. Das bedeutete vor allem: alle wichtigen Entscheidungen wurden in Wien gefällt und aller Reichtum, alle Steuern und Abgaben, flossen dorthin. Wie, fragten sich die jungen Leute, aus dieser misslichen ökonomischen und politischen Lethargie ausbrechen? Es kam aber noch etwas Elementares hinzu, was sie zu einer echten Protestgeneration machte: der erste Zusammenstoß mit dem Alten fand in den Familien statt. Die Väter der jungen Rebellen waren Patrizier und Adlige. Als Inhaber von Privilegien, die die österreichische Imperialmacht ihnen zugestand, waren sie der Inbegriff des Stillstands und des Beharrens. Und sie behandelten ihre Söhne – Töchtern ging es noch schlechter - mit derselben autoritären Härte wie ihre Untergebenen. Die Generation, in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts geboren, wollte sich aber nicht länger unterwerfen lassen, nicht unter die Familie, nicht unter hohle Konventionen, nicht unter den kaiserlichen Staat.

Kaum erwachsen geworden, trafen sich einige dieser Patriziersöhne in einem Mailänder Salon, zuerst zufällig, dann regelmäßig. Die jungen Männer vereinte ein Bedürfnis nach Gedankenaustausch, nach Diskussion und gemeinsamer Lektüre. Ein kleines Ölbild ist von diesen Zusammenkünften erhalten. Es zeigt ein einfaches Zimmer, in trübem Nachmittagslicht. Das einzig Luxuriöse ist ein zierlicher Kachelofen in der Mitte des Raumes. Die sieben abgebildeten Personen sind nicht besonders gut gelungen; sie erscheinen etwas hölzern, aber man kann doch die Verschiedenheit der Physiognomien erkennen. Drei von ihnen sind unschwer zu identifizieren. Links, an einem viereckigen Tischchen, schaut einer interessiert in ein Buch. Eine rote Weste unter einer blauen Jacke betont seine Rundlichkeit. Auch an den Pausbacken ist zu erkennen: Es ist der 26 Jahre alte Marchese Cesare Beccaria, der gerade im Juli 1764 ein aufsehenerregendes rechtsphilosophisches Werk über „Verbrechen und Strafen“ veröffentlicht hat, einen leidenschaftlichen Appell an Humanität und Vernunft.

Ihm gegenüber am Tisch sitzt schreibend ein Jüngling mit auffallend scharf geschnittenem Profil und lebhaften dunklen Augen, der sechsundzwanzigjährige Alessandro Verri, der jüngere Sohn des Senators Gabriele Verri, in dessen Haus sich die jungen Leute treffen. In der anderen Zimmerhälfte sitzt mit übergeschlagenem Bein, so dass eine weißbestrumpfte Wade schön in den Blick rückt, der Älteste der Versammlung. 36 Jahre ist er, hat schon einiges zu Fragen der Ökonomie und des Geldwesens veröffentlicht, zeitgenössische französische Philosophen gelesen, ist gereist. Es ist Pietro Verri, der Erstgeborene des Senators. Seine feinen Züge mit kleiner Nase und hoher Stirn werden von den Augen beherrscht, von einem Blick, der Energie ausstrahlt. Pietro Verri ist Zentrum und Mentor dieser Runde. Der Maler hat den Augenblick festgehalten, in dem Verri ein Blatt Papier ergreift und vorzulesen beginnt, was er am Abend zuvor verfasst hat.

Selbiges zu eigenem Spaß und Vergnügen geschrieben zu haben, erkläre ich Cola da li Picirillo im Jahr des Herrn 1763.

Am 28. Jenner ist zum Empfang bei Hofe eine gewisse Signora Teresa, Gemahlin des tugendhaften und hirnerleuchteten hier anwesenden Herrn Marquis Cesare Beccaria mit einer höchst wunderlichen Haube erschienen, die nicht aus Linnen war, sondern aus Vogelfedern, worüber ein solches Gerede und Getratsche entstand, dass von nichts anderem mehr konversiert wurde in der ganzen Stadt und seit dem Tod des Erzherzogs Franziskus kein Ereignis mehr Rumor gemacht.

Hört zu, jetzt kommt die eigentliche Nachricht. Im Monat Augustus gabs ein großes Ratschen und Tratschen in der Metropole Mailand über eine gewisse „Akademie der Fäuste“. Es hieß, dass ein paar Gelehrte namens Beccaria, Longo, Lambertenghi, Visconti und zwei Brüder Verri sich versammelten um ihre Fäuste aneinander auszuprobieren. Die ganze Metropole stand Kopf über diese Sache. Man hörte, diese Leute seien Ketzer und Heiden und befänden es für gut, wenn die Ehefrauen ihren Männern eins auswischten und ähnliche Abscheulichkeiten. Das Gerede dauerte eine Weile und jeder trugs auf seine Weise weiter. Alles war von einem Musikus erfunden worden, der wütend auf den Herrn Pietro Verri war, weil der sich geweigert hatte, seine Kompositionen zu kaufen!

Die Atmosphäre im Salon des Hauses Verri ist gedämpft heiter, die Einrichtung spartanisch: zwei Tische, ein paar Stühle, ein paar Bücher. Auf einem Regalbrett liegen zwei Würfelbecher. Es wird weder Kaffee serviert noch Schokolade, wie das sonst in einem lombardischen Salon durchaus üblich ist. Dunkle Tapeten. Man möchte nicht glauben, dass es ein Zimmer im Haus einer der wichtigsten Mailänder Familien ist, des Senators und zukünftigen Senatspräsidenten Gabriele Verri. Der Senat ist die alte patrizische Regierung der Stadt; seitdem das Herzogtum Mailand aber zu Österreich gehört – offiziell seit 1748 – fungiert er nur noch als Oberstes Gericht. Der Senatspräsi-dent ist also der höchste Richter in Mailand. Seine beiden Söhne, Pietro und der zehn Jahre jüngere Alessandro, sind die Initiatoren dieser Treffen. Wie ihre Freunde haben sie eine unerfreuliche Kindheit in Klosterschulen verbracht, danach die Universität besucht. Ihr Äußeres, feine Röcke, weißgepuderte Lockenfrisuren, gepflegtes Äußeres, unterscheidet sie kaum von anderen Mailänder Patriziersöhnen. Aber ihre Reden sind gar nicht fein und gepudert. Vor kurzem haben sie beschlossen, ihre Zusammenkünfte „Akademie der Fäuste“ zu nennen. Eine Akademie – aber unernst, spöttisch und rebellisch!

Sprecherin: Von Faustkämpfen natürlich keine Spur. Auf dem kleinen Gemälde steht im dunklen Gewand eines Kirchenmannes der Abt Marquis Alfonso Longo am Tisch. Der 26-jährige liebt die Gelehrsamkeit, aber auch das mondäne Salonleben. Graf Giambattista Biffi ist 28 und ein begeisterter Rousseau-Anhänger. Der Senatorensohn Luigi Lambertenghi, gerade 25 geworden, hat eben sein Studium in Bologna beendet und will sich der Ökonomie und Politik widmen. Und Graf Giuseppe Visconti di Saliceto, Anfang 30, berichtet über die fulminate „Encyclopédie“, die in Paris erscheint und ein revolutionäres, umstürzendes Kompendium aller Wissenschaften ist. Stoff zur Diskussion gibt’s also genug.

Sprecher: Sie lachen und spotten über die gesellschaftliche Enge, die sie überall bemerken. Sie leiden am Stillstand ihrer Stadt, ihres kleinen Landes, ihrer Welt. Die Unterdrückung beginnt schon in den Familien. Keine Selbständigkeit, autoritäre Väter, Hierarchie, Kälte. Cesare Beccaria hat ein wahres Familiendrama hinter sich. Sein Vater war nicht davor zurückgeschreckt, ihn gefangen setzen zu lassen, um seine Heirat zu verhindern. Nur dank Pietro Verris Vermittlung kam eine Art Versöhnung zustande und Beccaria konnte seine geliebte Teresa heiraten. Auch Pietro und Alessandro haben zu Hause, besonders durch ihren Vater, nur Härte und autoritäres Verhalten erfahren, ebenso Geiz, Unterdrückung und Lieblosigkeit. Die Rebellion der jungen Männer beginnt als Widerstand gegen die Väter.

Sprecherin: Sie wollen etwas anderes, etwa Neues. Sie haben studiert und sind voller Tatendrang. Sie wollen etwas mit ihrem Wissen anfangen. Sie sind Ökonomen, Juristen, Mathematiker. Sie sehen, dass neues, modernes Wissen aus Frankreich und England kommt. Sie wollen frei und offen diskutieren, ohne Zeremonien und alberne akademische Regeln, und sich nicht mit dem in ihren Kreisen üblichen langweiligen Salonleben begnügen, mit flachem Liebesgetändel oder im Theater ewig die gleichen Opern hören, nach bedeutungslosen und trivialen Melodramen von Pietro Metastasio. Sie wollen etwas verändern – aber wie?

Musik von Pietro Metastasio

Sprecher: Cesare Beccaria, ein hochgebildeter Jurist, mit leuchtend roter Weste über dem schon feisten Bauch, spricht über sein Buch, in dem er die unhaltbaren Zustände des lombardischen Rechtswesens beschreibt und einschneidende Veränderungen fordert. Außerdem geißelt er Todesstrafe und Folter. Das höchst positive Echo, aus ganz Europa kommend, hat ihn überrascht, aber auch erschreckt.

Eben jetzt! Wir werden etwas machen, was in diesem stocklangweiligen Mailand Staub aufwirbeln wird. Was Franzosen und Engländer schon längst machen: eine Zeitschrift. In London gibts den Spectator – sogar die Deutschen haben so etwas. Irgendwas Neues liegt in der Luft. Man fühlt es, man ahnt es überall. Eine Mischung aus Neugier und Wissensdurst, aus Bildung und Bildungshunger. Wer so fühlt, ist unser Publikum. Wir leben, wie das die Franzosen beschrieben haben, in einer Gesellschaft. Wir sind Teil von ihr, wir wirken in ihr, Alessandro:

Gesellschaft. Ja. Das ist mein Stichwort. Wir erfinden eine kleine Gesellschaft! Einen Ort, wo alles gesagt werden kann! Wo wir uns ein bisschen maskieren hinter Klatsch und Geschwätz, in dem sich mancher Hieb auf die Alten verbergen lässt.

Stimmen: Und wo wäre der? -

Zitator 2: - Wo man zusammensitzt, freundlich und harmlos bei einer Tasse dampfenden Kaffees!

Stimmen: Ein Café! In ganz Europa trinkt man jetzt Kaffee!

Zitator 1: Ja, Freunde. Die braune Brühe ist besonders geeignet für unsere Zwecke. Sie soll die Seele erfreuen und angeblich die Lebensgeister wecken. Bei manchen wirkt sie, heißt es, abführend. Sie soll wach halten und ist daher nützlich für Leute, die sich wenig bewegen und die Wissenschaften pflegen. Man berichtet sogar von Fällen, bei denen der Kaffee Fieber vertrieben und Blutvergiftungen erfolgreich bekämpft hat. Kaffee gibt nämlich ein leicht lösliches Salz ins Blut ab, das dessen Bewegung im Herzen beschleunigt.

Zitator 3: Wir werden aber nicht nur darüber reden. Dabei wird es nicht bleiben. Alles andere ist ziemlich gefährlich. Wir werden uns überall Feinde machen! Es wird heißen, wir seien Umstürzler.

Zitator 4: Sie werden uns angreifen, die Pedanten, die Alten und die Frommen. Aber wir werden ihnen zuvorkommen. Wir werden auch unsere Leserbriefe selbst verfertigen. Zum Beispiel: Liebe Redaktion! Der Artikel über den Kaffee hat ihr Autor abgeschrieben. Einfach unerhört! Das zeigt, wie geistlos und talentlos ihre Mitarbeiter sind. Man kann nur wünschen, dass dieses Blatt bald eingeht.

Zitator 1: Mit viel Abschreiben! Ich werde einen Artikel von mir selbst abschreiben. Über den Handel im Herzogtum Mailand. Meine Grundidee ist: Nur bei einem sinnvollen Austausch von Waren wird sich die Stagnation dieses Landes beseitigen lassen. Sinnvoll ist die Einfuhr von fehlenden Rohstoffen, damit hier neue Manufakturen entstehen und die Leute Arbeit finden. Wartet; ich bin noch nicht fertig. Ein armes Volk kann keinen Herrscher reich machen – das müssen wir erklären. Alle haben ein Recht auf Glück, nur so kann ein Gemeinwesen bestehen.

Sprecherin: Wollte man alle Sachgebiete und Themen nennen, die in der Zeitschrift behandelt wurden, müssten beide Jahrgänge von „Il Caffè” nahezu vollständig zitiert werden. Verri, sein Bruder und seine Freunde, schrieben über Geldwirtschaft und Handel, über Landwirtschaft und Politik, über Neuerer, wie Voltaire und Montesquieu, aber auch über Galileo Galilei und andere Naturforscher. Sie befassten sich mit dem Anbau von Leinen und Tabak, mit dem Import von Kakao und, natürlich, mit Kaffee und Cafés. Mit dem Wetter, mit eben erschienenen Büchern, zeitgenössischer Musik, mit Gerüchen, mit der Sprache, mit Steuern und Zöllen, mit den alten Römern und den modernen Kriegen. „Il Caffè” war unterhaltsam, frech und spöttisch, eine kleine chaotische italienische „Encyclopédie”. Und genau wie diese versteckte sie ihre ungewöhnlichen und mutigen Gedanken. Nicht in sachlichen Lexikonartikeln wie beim französischen Vorbild, sondern vielmehr in scheinbarer Unterhaltsamkeit und Leichtigkeit. Sprecher: Der Stil, so schrieb Beccaria in seinem gleichnamigen Artikel „ist Ausdruck von Passion, von Leidenschaft”. Eben diese Leidenschaft versammelte die Freunde Woche um Woche, von Nummer zu Nummer, zwei Jahre lang. Sie setzten ihre Hoffnungen darauf, dass sich ihre Ideen verbreiten würden, dass es ein neues, aufgeschlossenes Publikum gäbe, mit mehr Bildung und mit mehr Offenheit. Hoffnungsvoll schrieb Pietro Verri:

Zitator 1: Wenn sie aber den Blick auf die Wirklichkeit richteten, dann sah es im Herzogtum Mailand unter ihrer kaiserlichen Majestät Maria Theresa trotz einiger erster Reformen doch recht kümmerlich aus unter den sogenannten Gebildeten.

Zitator 1: Von tausend Menschen, die sich als unwissend bezeichnen, gibt es nicht einen, der es nicht wäre, - aber keinen einzigen, der wirklich glaubt, unwissend zu sein. Von tausend Literaten betreiben neunhundert die Literatur, um Brot, Reichtum und Ruhm zu erwerben, siebzig wollen sich die Zeit damit vertreiben, zwanzig bringen es fertig, nicht neidisch auf die Begabung der anderen zu sein, und zehn wollen ihren Geist bilden und sich innerlich entwickeln.

Sprecher: In einem späteren Artikel setzte Pietro Verri dieser satirischen Be¬trachtung einen hoffnungsvollen Ausblick entgegen:

Zitator 1: Da heute allgemein gelesen wird, wird jeder Autor, der schreiben kann, das heißt, der Dinge verfasst, die wert sind, gelesen zu werden, und der sie klar, und gut ausdrücken kann, -: wird jeder Autor früher oder später die Achtung und die Aufmerksamkeit des Publikums erringen. Und Schreiben ist der Weg, die eigenen Ambitionen zu befriedigen, denn dazu bedarf es keiner Dienereien in Vorzimmern von Ministern oder höherer Protektion.

Sprecherin: Schreiben, das erlebten die jungen Leute mit ihrer Zeitschrift, war direktes Wirken, es war Unabhängigkeit, war Selbstverwirklichung in ihrer Rolle als Intellektuelle. Oder, genauer: So sollte es sein, das hofften Pietro Verri und seine Freunde. Denn das Experiment war noch immer im Gange.

Zitator 2: Wir müssen etwas schreiben gegen das ewig Alte, gegen das scheinbar Unveränderliche und Starre.

Zitator 1: Gegen die Florentiner “Accademia della Crusca” zum Beispiel, die von uns verlangt, wie Dante zu reden!

Zitator 2: Mein Artikel heißt: „Feierlicher und notariell beglaubigter Verzicht der Autoren dieses Blattes auf die Benutzung des Wörterbuchs der Florentiner „Accademia della Crusca”. Da bis zum heutigen Datum nicht bewiesen ist, dass eine Sprache [bereits] ihre höchste Vollkommenheit erreicht hat, ist es eine ungerechte Sklaverei, uns zu verbieten, sie zu bereichern und zu verbessern.

Zitator 4: Schreib weiter Alessandro! Freiheit und Vernunft sollen auch in der Sprache gelten!

Zitator 1: Kritik, Lachen, Gähnen sind erlaubt!

Zitator 2: Und damit wir nicht ersticken an Worten, soll ein Text dort anfangen, wo die Ideen anfangen; nicht bei überflüssigen Vorreden. Musik.

Sprecher: Juni 1765. „Il Caffè“ erscheint im zweiten Jahrgang. Die Einfälle und Themen wirbeln durcheinander. Thema Wissenschaft: Galilei, der große Italiener, der Neuerer, der nicht das Fernrohr erfand, aber einen neuen Gebrauch davon machte – ist er nicht ein Beispiel auch für die moderne Wissenschaft? Klug, mutig, listig.

Sprecherin: Ein Kardinalthema der Zeitschrift ist Erziehung. Die eigene Jugend ist den Autoren noch sehr nahe. Die Patrizierfamilien stellten Lehrer an, die mit Stock und Peitsche das Einbläuen übernahmen – was ja bedeutet: blaue Flecke machen. Also heißt ein Artikel ironisch: „Über den Nutzen der Prügelstrafe“. Prügel, sagt der Schulmeister zu einem Fremden, der über die blauen Flecken bei den Kindern staunt, Prügel sind ein wunderbares Mittel zum Lernen. Die Hände, die falsch geschrieben haben, werden gepeitscht. Der Kopf, der nicht richtig denkt, kriegt Püffe und Kopfnüsse. Das hilft! Das macht gute Laune! Wir haben es immer so gemacht und werden es weiter so machen, und die Gepeitschten und Geprügelten sind damit sehr zufrieden.

Zitator 2: Freunde, wir müssen uns wieder einmal mit unseren Kritikern befassen. Ihr heimliches Murren nimmt zu. Sie hassen das Lachen, weil es befreit, sie hassen Goldoni, unseren größten Komödiendichter, der jetzt in Paris Erfolge feiert und in Italien missachtet wird.

Zitator 1: Sie haben nur eine wahre Leidenschaft, den Neid!

Zitator 4: Schreiben wir uns ein paar schöne Leserbriefe!

Zitatoren 1, 2 und 4, abwechselnd:

Ja Alessandro fang an! Ihre Zeitschrift ist viel zu ernst. Es fehlen Anekdoten.

Sie bringen zu viele Anekdoten, nur albernes Zeug. Wo bleibt der Ernst? Sie sollten nicht dauernd belehren, sondern unterhalten. Sie sollten belehren und informieren statt dauernd zu unterhalten. Viel zu literarisch, es fehlt die Kritik an Sitten und Bräuchen. Diese ewige Kritik an Sitten und Bräuchen – es fehlt die Wissenschaft. Sie werden von Tag zu Tag langweiliger. Warum schreiben Sie so wenig über Musik? Bitte fassen Sie sich kürzer. Warum sind die Artikel so kurz?

Sprecher: Im Mai 1766 erschien die letzte Nummer von „Il Caffè”. Pietro Verri beschloss die Zeitschrift mit einem Artikel über Pockenimpfung. Das war ein langer, ausführlicher medizinischer Bericht – doch nur scheinbar ein rein fachspezifisches Thema. Hygiene, eine neue, vorbeugende Wissenschaft, vor allem eine experimentell erprobte, gehörte zu all dem, was nötig war, um eine wirklich aufgeklärte Gesellschaft zu schaffen. Ein Artikel voller Fakten und Zuversicht. Aber die langen Ausführungen Pietro Verris konnten auch nicht verbergen, dass sich die Zeitschrift erschöpft hatte. In einem der letzten Artikel schrieb sein Bruder Alessandro:

Zitator 2: Der Kampf gegen Irrtümer dauert lange, und manchmal ersetzen neue Irrtümer die alten.

Zitator 1: Mailand im Mai 1766. Die Autoren dieses Blattes teilen ihren Lesern mit, dass ihre Arbeit hier endet. Sollte irgendwo eine Zeitschrift unter dem Namen „Il Caffè” gedruckt werden, dann stammt diese von anderer Hand.

Sprecherin: Carlo Capra, Ordinarius für die Geschichte der Aufklärung an der Università degli Studi di Milano, hat über „Il Caffè” geforscht:

Zitator 3: Der kleinste gemeinsame Nenner, der Rote Faden, der sich auch wie¬terhin durch das gesamte Werk von Pietro Verri zieht, ist die Idee der Freiheit. Freiheit in der Sprache, Freiheit von den Sprachregeln der Accademia della Crusca, aber auch Freiheit auf dem Gebiet der Ökonomie, Freiheit von den Beschränkungen des Handels, von Monopolen und Zunftvorschriften, Freiheit schließlich im sozialen Leben, in der Erziehung der Kinder, Freiheit von Konventionen und Zwängen und Freiheit auch auf politischem Gebiet – auch wenn ihre einzige Hoffnung das aufgeklärte Fürstentum blieb.

Sprecher: Die „Akademie der Fäuste” ging auseinander, die Freunde trennten sich. Cesare Beccaria wurde Beamter. Alessandro Verri suchte in Rom als Schriftsteller und Übersetzer sein Glück. Pietro Verri übernahm verschiedene Ämter in der lombardischen Verwaltung, wo er unermüdlich und gegen viele Widerstände Veränderungen zu erreichen suchte. Als 1796 das Heer der französischen Republik unter General Bonaparte in Mailand einzog und die Lombardei Teil der Cisalpinischen Republik wurde, stellte er sich der neuen Stadtverwaltung zur Verfügung. Auch zwei weitere Mitglieder der „Akademie der Fäuste”, Alfonso Longo und Luigi Lambertenghi, arbeiteten in den republikanischen Gremien mit.

Sprecherin: Die Brüder Verri blieben durch ihren Briefwechsel bis zu Pietros Tod im Jahr 1797 miteinander eng verbunden. Bis ins hohe Alter erinnerte sich Pietro Verri gerne an die heitere Zeit in Mailand, an die Zusammenkünfte der Freunde, die rebellische „Akademie der Fäuste” und „Il Caffè“:

Zitator 1: Ich glaube, wenn es einen Weg gegeben hat, die damalige Generation zu bessern, dann war es “Il Caffè”. Durch unsere Angriffe und unseren Spott gegen Blödheit und Aufgeblasenheit und all die italienischen Beschränktheiten. Wir waren nur ein kleines Blatt, aber auch das Kleine wirkt auf die Dauer, nicht mit der Darstellung des Schönen und Großen, sondern es wirken die Brennnesseln der Lächerlichkeit – da zittern die andern, sie schweigen, das große Heer zieht sich zurück; die wenigen Neuerer rücken vor - und dann, ja dann folgen andere ihnen nach.

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