Winfried Hassemer

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Winfried Hassemer (* 17. Februar 1940 in Gau-Algesheim; gest. 9.1. 2014 in Frankfurt a.M.) war ein deutscher Strafrechtsprofessor (Frankfurt a.M.) und zwölf Jahre lang - davon die Hälfte als Vizepräsident - Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Leben

Nach seinem ersten Staatsexamen war Hassemer von 1964 bis 1969 Assistent am Institut für Rechts- und Sozialphilosophie der Universität des Saarlandes und wurde 1967 in Saarbrücken mit der Arbeit Tatbestand und Typus. Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik promoviert. Es folgten das zweite Examen und die Habilitation des Arthur-Kaufmann-Schülers im Jahre 1972 mit Theorie und Soziologie des Verbrechens. Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre. Von 1973 bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.

Von 1991 bis 1996 war Hassemer zudem als Nachfolger von Spiros Simitis Landesbeauftragter für den Datenschutz des Landes Hessen.

Er war in einer Anwaltskanzlei tätig und zudem auch Ombudsmann bei Daimler und dem Kreditauskunftskonzern Schufa.

Von 1996 bis 2008 war er Richter am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, seit 2002 Vorsitzender des Senats und Vizepräsident des Gerichts.

Hassemer erhielt Ehrendoktorwürden in Thessaloniki (1998) und von der Bundesuniversität Rio de Janeiro (2001), der Universität Lusíada (2004), der Universität Pablo de Olavide in Sevilla (2005) und eine Honorarprofessur der Renmin University of China (2005).

Er war verheiratet mit Kristiane Weber-Hassemer, der Vorsitzenden Richterin eines Strafsenates am Oberlandesgericht Frankfurt am Main und Vorsitzenden des Nationalen Ethikrats Deutschlands. Sein jüngerer Bruder Volker Hassemer (CDU) war u.a. Umwelt- und Stadtplanungs-Senator in Berlin.

Freiheit und Sicherheit

Ein zentrales Thema in Hassemers späterem Schaffen war das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit.

  • Er argumentierte gegen elektronische Mautsysteme auf Fernstraßen, insofern diese die Bewegungsprofile der Autos rekonstruierbar machten
  • Er kritisierte das hessische Landesamt für Verfassungsschutz, weil es bei der Sicherheitsüberprüfung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu weit ging
  • Er war ein Gegner der Kronzeugenregelung und des Großen Lauschangriffs: das angebliche Grundrecht auf Sicherheit existiere höchstens als Geisterfahrer, der immer in der falschen Richtung unterwegs sei
  • Wie die Opferinteressen im Strafrecht gewürdigt werden könnten, versuchte er zusammen mit Jan Philipp Reemtsma und Carolin Emcke zu ergründen

Mit der Idee einer Gesellschaft ohne Strafe und Strafrecht freundete er sich nie an. In seinem Buch "Warum Strafe sein muss" verteidigte er die Idee der positiven Generalprävention.

Verfassungsrichter

Der Nachfolger von Ernst-Wolfgang Böckenförde als Richter am Zweiten Senat war Vizepräsident und Vorsitzender des Zweiten Senats, als dieser das NPD-Verbotsverfahren stoppte, weil dem Einsatz von V-Leuten in dieser Partei nicht anders Rechnung getragen werden könne.

In einem Sondervotum begründete er, dass die Strafbarkeit des Inzests unter Geschwistern verfassungswidrig sei.

In der FAZ schrieb Hassemer im Juli 2007 als Bundesverfassungsrichter über die Zukunft des Datenschutzes. Staat und Gesellschaft seien sich einig, im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit die Sicherheit vorzuziehen. Diese Wahl beherrsche die Innenpolitik. „Kritik am Sicherheitsparadigma richtet sich kaum auf das Ob; sie beschränkt sich zumeist auf ein Wieweit (und bestätigt damit jeweils die Herrschaft dieses Paradigmas).“ Datenschutz brauche dagegen ein Klima der Freiheitslust. Er braucht eine kritische Einstellung gegenüber Kontrolle und „einen Sinn für Scham.“ Die Zukunft des Datenschutzes liegt nicht nur im ständigen Werben für Privatheit und Selbstbestimmung. Erforderlich sind auch Angebote an die Sicherheitspolitik, wie mehr Sicherheit ohne Überwachung erreicht werden kann. „Europa“ hat exekutivische Züge. In der Innen- und Justizpolitik macht es sich durch effektivitätsorientierte Forderungen nach der Vermehrung und Verschärfung von Grundrechtseingriffen bemerkbar (z.B. Fluggastdatenübermittlung, Vertrag von Prüm). Im Recht auf informationelle Selbstbestimmung, so Hassemer abschließend, „fließen zwei Ströme zusammen, die aus der politischen Philosophie der europäischen Aufklärung stammen: die philosophische Begründung bürgerlicher Freiheit und der pragmatische Sinn für die Entwicklungen der Moderne. … Für deren Schutz streitet das Freiheitspathos, das die hohe Rechtskultur begründet hat, von der wir alle in denjenigen Regionen der Welt zehren, in denen die Traditionen der Aufklärung noch lebendig sind. Der Datenschutz ist nichts anderes als diese Freiheit, gespiegelt an den Bedingungen der modernen Informationsgesellschaft. Sollten Tage kommen, da Europa sich nicht nur über Risikobeherrschung und Problemkontrolle definiert, sondern seine Traditionen der politischen Philosophie wiederentdeckt, so wird auch der Datenschutz Flügel bekommen.“

Im Mai 2008 kritisierte Hassemer auf dem Deutschen Anwaltstag in Berlin "mannigfaltige Verschärfungen der Polizei- und Strafgesetze" seit dem 11. September 2001. Zu der Welle neuer Straftatbestände vom Typ abstrakter Gefährdungsdelikte mit oft vage definierten Rechtsgütern sei eine "exorbitante Zunahme heimlicher Ermittlungen" auch bei Unverdächtigen gekommen, Datenaustausch zwischen verschiedenen Institutionen und eine "flächendeckende Beobachtung". Die Bürger würden dem Staat freiwillig ihre Freiheit auf dem silbernen Tablett servieren, damit der Staat diese Freiheit in Sicherheit verwandle. Die Normerosion würde den Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat schwächen. Der Staat werde nicht mehr als Risiko, sondern als Partner im Kampf gegen Kriminalität gesehen.

Weblinks und Literatur