Nothing Works

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Im Jahre 1974 veröffentlichte der New Yorker Soziologe Robert Martinson einen Essay mit dem Titel "What Works? Questions and answers about prison reform" in der Zeitschrift "Public Interest". Grundlage war eine umfangreiche Metaanalyse zur Evaluation bisheriger Versuche, Straftäter zu rehabilitieren. Martinson bewertete die Ergebnisse der Studie als wenig erfolgversprechend, was dem Essay den Spitznamen Nothing Works einbrachte.

Kontext

Im Bemühen, eine stärker an Rehabilitation orientierte Gefängnispraxis in New York zu etablieren, gab das New York State Governor's Special Committee on Criminal Offenders 1966 eine Studie in Auftrag. Um herauszufinden, welche Methode für diesen Zweck am erfolgversprechendsten war, hatte das Komittee eine umfangreiche Bestandsaufnahme und Auswertung der bisherigen Rehabilitationsversuche anvisiert. Mit der Durchführung der Untersuchung betraute es Douglas Lipton und Judith Wilkes, denen sich später Robert Martinson anschloss.

231 Studien aus dem Zeitraum 1945 bis 1967 wurden ausgewertet. Die Forscher berücksichtigten nur solche Studien, die einem konventionellen Standard sozialwissenschaftlicher Forschung entsprachen (Evaluation einer Behandlungsmethode, unabhängiger Maßstab, Kontrollgruppe). Das Spektrum der bewerteten Maßnahmen reichte von praktischer Lebenshilfe und Bildung bis zu Individual- und Gruppentherapie sowie medizinischen Maßnahmen.

Die Ergebnisse der Studie fasste Martinson wie folgt zusammen: "With few and isolated exceptions, the rehabilitative efforts that have been reported so far have had no appreciable effect on recidivism".

Wirkung

Martinsons Artikel hatte eine außerordentliche Wirkung. Dies lässt sich vor allem mit seiner politischen Relevanz erklären. Seine Implikationen ließen sich sowohl in den Dienst liberaler wie auch konservativer Positionen stellen. Während linksliberale Kritiker der rehabilitativen Ausrichtung eine Ausweitung der Bestrafung unter dem Deckmantel der Therapie befürchteten, sahen ihre rechtskonservativen Gegenspieler das Vergeltungs- bzw. Abschreckungsideal bedroht durch eine aus ihrer Sicht zu lasche Strafpraxis. Insbesondere wurde die Kriminalitätsbekämpfung im Gefolge der Steigerung von Kriminalitätsraten in den 60er Jahren immer mehr zum Wahlkampfthema amerikanischer Präsidentschaftskandidaten wie insbesondere Richard Nixon, die sich mit einer harten Linie gegenüber Straftätern zu profilieren trachteten.

Martinson mag mit seiner Einschätzung den Nerv der Zeit getroffen haben – der Abschied vom Ideal der Rehabilitation fiel offenbar nicht schwer. Der US Supreme Court hatte 1989 bekräftigt, dass auf den Erfolg von Rehabilitationsmaßnahmen abzielende Überlegungen bei der Strafzumessung keine Rolle spielen dürfen. Hier ist noch der Einfluss von Martinsons skeptischer Beurteilung spürbar. Entgegen dessen Einschätzung hatte der "Niedergang des rehabilitativen Ideals" (Garland) aber nicht zu einer Entvölkerung der Gefängnisse, sondern zu deren Renaisance geführt.

Kritik

In der Folge der Veröffentlichung entspann sich eine zum Teil polemische Auseinandersetzung um die Gültigkeit von Martinsons Interpretation, die bis in die Gegenwart reicht. Kritisiert wurde zum einen, dass das Material der Studie durchaus im Einzelfall erfolgversprechende Ansätze aufweise, die aber dem von vornherein unrealistischen Anspruch nicht entsprechen konnten, eine universell einsetzbare, standardisiert anzuwendende Interventionstechnik mit weitgehend vorhersagbaren Ergebnissen zu finden. Außerdem habe sich die Rehabilitation als Strafziel nie wirklich durchsetzen können, was sich unter anderem in einer zu geringen Mittelausstattung widerspiegele. Hier dürfte die ablehnende Einstellung der Vollzugsstäbe gegenüber solchen Maßnahmen einen nicht unbeträchtlichen Einfluss gehabt haben. Es wird auch kritisiert, die Anwendung von Rehabilitationsmaßnahmen sei zu wenig individualisiert worden, was vor allem die Bandbreite der im Einzelfall zur Verfügung stehenden Methoden betrifft. Die negative Wirkung der Institutionalisierung könnte die positiven Effekte paralysiert haben. Schließlich werde zum Beispiel die Senkung der Frequenz oder Schwere der Straftaten nach der Intervention bei der Beurteilung oft nicht berücksichtigt.

Martinson selbst hat später den rehabilitativen Maßnahmen durchaus Erfolgschancen eingeräumt: „startling results are found again and again in our study, for treatment programs as individual psychotherapy, group counceling, intensive supervision and … individual .. aid, advice, counceling.“ Dies ist jedoch kaum zur Kenntnis genommen worden.

Persönliche Aspekte

Martinson hatte durchaus einen persönlichen Bezug zu seinem Thema. Politisches Engagement als Kämpfer für Menschenrechte (civil rights 'Freedom Rider') hatte zu einem 40-tägigen Auffenthalt im Hochsicherheitstrakt des Mississippi's Parchman State Penetrary geführt. Seine Persönlichkeit – er galt als manisch-depressiv und beendete sein Leben 1980 durch einen Fenstersprung – mag eine nicht unwesentliche Rolle bei seiner wechselnden Einschätzung des rehabilitativen Potentials gespielt haben. Jedoch traf diese individuelle Konstellation auf ein vorbereitetes Feld. Die persönliche Perspektive Martinsons und die Rezeptionsbereitschaft der interessierten Öffentlichkeit vereinigten sich zu einer paradigmatischen Weltsicht mit andauernder Wirkung.

Kriminologische Relevanz

Kriminologisch interessant ist hier vor allem die Verflechtung von Politik und Wissenschaft. Welche aus der wissenschaftlichen Arbeit abgeleiteten Anschauungen sich zu einer Art Gemeinwissen verdichten, ist immer auch abhängig von der jeweils vorhandenen Rezeptionsbereitschaft. Die jeweilige Wahrheit konstituiert sich entsprechend als Amalgam aus rationalen und irrationalen Momenten. Abseits von Objektivitätsbeteuerungen bestehen immer Wechselwirkungen zwischen dem, was politisch wünschbar ist und dem, was als wissenschaftliche Wahrheit gilt. Dies kann vor dem Hintergrund gesehen werden, dass in der westlichen Kultur die Wissenschaft die Religion als allgemeinverbindlichen Referenzrahmen abgelöst hat. Das hat insbesondere auch Auswirkungen auf den Gegenstand der Kriminologie, der so immer wieder neu konstituiert wird - als diskursive Formation im Foucaultschen Sinne. Dies zeigt sich deutlich in den jeweils vorherrschenden Besetzungen solcher Konzepte wie Krankheit und Kriminalität sowie ihrer Stellung im gesellschaftlichen Koordinatensystem.

Gegenwärtige Entwicklung

Weit entfernt von der anfänglichen Euphorie, hat die Ernüchterung in Bezug auf die Rehabilitation die Erwartungen deutlich gedämpft - oder auch anhand neuer Leitbilder transformiert. Ohne heilen zu wollen, verspricht sich die therapeutische Kultur moderate Ergebnisse von eher pragmatisch ausgerichteten Maßnahmen, verstanden als Kriminaltherapie, die vor allem auf Lebenshilfe, Entwicklung von Fähigkeiten und (Selbst-)Kontrolle abzielt: "Rehabilitation has become risk management". Verschiedene Metananalysen (vgl. Pfäfflin S. 359 ff. m.w.N.) weisen bei adäquaten Programmen in Bezug auf die Reduzierung der Rückfallhäufigkeit Effektstärken von r=0.1 bis r=0.3 aus, was statistisch als signifikant gilt. Gegenwärtig verbreitet sind kognitiv-behaviorale Module, Rückfallpräventionsprogramme (RPP) sowie das in Kanada entwickelte und z.B. in Haina angewandte Reasoning and Rehabilitation-Program (R&R). Allerdings spielen auch psychodynamische übertragungsfokusierte Settings eine Rolle, etwa bei sog. Borderline-Störungen. Leider hat der Schulenstreit dazu geführt, dass das Rad immer wieder neu erfunden werden musste und die Evaluation von Therapiemaßnahmen mit der babylonischen Sprachverwirrung der um das jeweilige Signifikat ringenden Signifikanten zu kämpfen hat (alter Wein in neuen Schläuchen). Gerade die von Martinson und Kollegen durchgeführte Studie zeigte, dass das therapeutische Engagement eine wesentliche Rolle bei den erzielten Ergebnissen spielte. Entsprechend mag der Enthusiasmus bei "neuen" Entwicklungen ein nicht zu unterschätzender Aspekt hinsichtlich der Beurteilung rehabilitativer Maßnahmen sein.

Zu berücksichtigen ist, dass Einzelfälle von mißglückten Interventionen wesentlich nachhaltiger auf das öffentliche Bewusstsein wirken, als erfolgreichere Entwicklungen. Skepsis gegenüber den therapeutischen Möglichkeiten zeigt sich in Deutschland insbesondere in den gesetzgeberischen Aktivitäten zur Ausweitung der Möglichkeiten zur Anordnung der Sicherungsverwahrung.

Diese neue Rehabilitation fordert indessen auch eine andere Art von Kritik heraus. Die Art der Implementierung von Kontrolle in das Objekt der Therapie verweist auf das gesellschaftliche Umfeld: "Rehabilitation in the age of the ‘ new penology ’ produces a terrifying species — one always at risk of snapping and offending and, not surprisingly, one we can easily project our worst fears onto."

Literatur

  • S. Brodsky (2007) Correctional Psychology and the American Association of Correctional Psychology, in: Criminal Justice and Behavior, Vol. 34, No. 6, June 2007, S. 862-869.
  • D. Lacombe (2007) Comsumed with Sex: The Treatment of Sex Offenders in Risk Society, in: Brit. J. Criminol., Vol. 48, January 2008, S. 55-74.
  • Douglas R. Lipton, R. Martinson und J. Woks, (1975) The Effectiveness of Correctional Treatment: A Survey of Treatment valuation Studies, Praeger Press, New York.
  • R. Martinson und R. (Spring 1974). "What Works? - Questions and Answers About Prison Reform," The Public Interest, pp. 22-54.
  • F. Pfäfflin (2006) Spezielle Therapieformen, in: Kröber et al., Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 3: Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie, Steinkopff 2006 S. 349-368.
  • J. S. Wormith et al. (2007) The Rehabilitation and Reintegration of Offenders, in: Criminal Justice and Behavior, Vol. 34, No. 7, July 2007, S. 879-892.

Weblinks