Kriminologie im Nationalsozialismus

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Kriminologie im Nationalsozialismus war zum großen Teil eine um Nähe zur Politik bemühte Kriminalbiologie. Roland Freisler würdigte die Kriminologie 1942 als "unentbehrliche und gleichwertige Grundlage erfolgreicher Strafrechtspflege". Kriminologische Kritik an Gesetzesvorhaben gab es im Rahmen der Mitarbeit von Edmund Mezger und Franz Exner am Gemeinschaftsfremdengesetz. Die Großverbrechen des NS-Regimes einschließlich des nationalsozialistischen Terrorismus wurden von der Kriminologie nicht analysiert, sondern legitimiert. Aus der Wissenschaft von der Kriminalität wurde im Nationalsozialismus in mancher Hinsicht eine kriminelle Wissenschaft.

Kriminalpolitischer Kontext

Von 1934-1945 fällte der Volksgerichtshof rund 5.200 Todesurteile.

Sondergerichte (seit März 1933 gegen politische Gegner, seit 1938/39 auch gegen schwere und mittlere Kriminalität) wurden zu Instrumenten eines regelrechten Justizmassakers. Wahrscheinlich sprachen allein die 34 Sondergerichte mit Standort auf westdeutschem Gebiet mindestens 11.000 Todesurteile aus.

Unklare Zahl von Todesurteilen durch die ab Februar 1945 eingerichteten Standgerichte.

Allein von deutschen Militärgerichten wurden wahrscheinlich zwischen 25.000 und 30.000 Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung, Fahnenflucht oder Kriegsverrat gegen Wehrmachtsangehörige verhängt; mehr als 19.600 davon wurden nachweislich vollstreckt.

Die Angeklagten vor einem dieser Gerichte waren von elementaren Grundrechten des Strafverfahrens abgeschnitten: Richterablehnung, Beweisantragsrecht und Wahl des Verteidigers waren eingeschränkt oder aufgehoben, mündliche Verhandlung über den Haftbefehl, gerichtliche Voruntersuchung, Eröffnungsbeschluss sowie Berufungsinstanzen abgeschafft. Fristen konnten minimiert werden, um „kurzen Prozess“ zu machen.

Historiker gehen von weit über 30.000 Todesurteilen deutscher Gerichte aus.

Aus den Gefängnissen und Zuchthäusern wurden zusätzlich 15.000 bis 20.000 Justizhäftlinge "zur Vernichtung durch Arbeit" in die Konzentrationslager überstellt.

Forschung und Lehre

Personalpolitik zwischen Vertreibung und Selbstgleichschaltung

Emigration

Gustav Aschaffenburg, Curt Bondy, Max Grünhut, Hermann Mannheim und Hans von Hentig.

Arten der Anpassung

Nach Langewiesche (1997) lassen sich vier Anpassungstypen unterscheiden.

Eigensinnige Selbstbehauptung

Gustav Aschaffenburg wirkte während der 1930er Jahre noch als Mitherausgeber der Monatsschrift, bevor er ins Exil ging.

Illusionäre Selbstgleichschaltung

Der bekannteste nicht-emigrierte deutsche Kriminologe der NS-Zeite war Franz Exner, der schon wegen seiner Arbeiten aus den 1920er Jahren auch international hohes Ansehen genoss und der mit seinem Lehrbuch "Kriminalbiologie" im Jahre 1939 eine Art Zwischenbilanz seines Schaffens zog - die nicht ohne erhebliche Konzessionen an die rassenideologischen Vorgaben der Zeit zu haben war, aber in der dritten Auflage unter dem Titel "Kriminologie" (1949) noch bis weit in die Jahre der Bundesrepublik hinein wirkte.

Nachholende Selbstgleichschaltung

Adolf Lenz konstatierte 1937, dass die Kriminalbiologie "zur autoritären Staatsführung ihr Scherflein beizutragen" habe (Streng 1993: 143)

Identifizierende Selbstgleichschaltung

Mezger publizierte 1931 ein Lehrbuch des Strafrechts, 1934 ein Buch namens "Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage". In diesem Buch erklärte er (1934: v): "Im neuen Strafrecht werden zwei Ausgangspunkte wesentlich sein ...: Der Gedanke der Verantwortung des Einzelnen vor seinem Volk und der Gedanke der rassenmäßigen Aufartung des Volkes als eines Ganzen." Die "Forderung nach rassenhygienischen Maßnahmen zur Ausrottung krimineller Stämme" sei "unabweislich" (21 f.).

Mezger brachte die sogenannte Analogienovelle von 1935 (Gesetz zur Änderung des :Strafgesetzbuches vom 28.05.1935) mit auf den Weg, die das „Analogieverbot“ aufhob und „das gesunde Volksempfinden“ maßgeblich für eine Bestrafung werden ließ (§ 2 RStGB).

Theodor Viernstein erklärte als neugewählter Vorsitzender der Kriminalbiologischen Gesellschaft 1937: "In diesem gewaltigen Umbau des Denkens und Handelns zu neune Grundlagen der Gemeinschaftsbeziehngen erhält zwangsläufig die Kriminalbiologie eine ihre gerichtshelferische Ausgangsrolle übersteigende Bedeutung, weil sie eine wissenschaftlich begründete Behandlung gerade jener abgrenzbaren Bevölkerungsschicht an die Hand gibt, die zum Teil nicht allein sozial abträglich, sondern zugleich auch erb- und rassenwertlich schädlich ist und insoweit eienr planmäßigen Ausschaltung zugeführt werden muß" (Streng 1993: 143).


Der Gerichtsmediziner und Rassehygieniker Ferdinand von Neureiter (1893-1946), der von 1937 – 1939 die kriminalbiologische Forschungsstelle leitete und in dieser Funktion im Dienst des Reichsgesundheitsministeriums stand und Vorgänger von Robert Ritter war.

Abkehr von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik

Die Abkehr von der Psychoanalyse wurde unter anderem damit begründet, dass sie "von jüdischer Seite begründet und vertreten" worden sei. Ihr Verstehens- und Erziehungs-Ansatz galt zudem als ungeeignet, da das Strafrecht kriminalpolitisch "ein Kampfrecht zum Schutze und zur Entfaltung des Volkes" darstelle: "Erziehungsmaßnahmen vermögen allein dessen besondere Aufgabe nicht zu erfüllen" (Mezger 1942: 74, 78; zit.n. Streng 1993: 142).

Kriminalbiologische Schwerpunktbildung

Vererbungs- und Sippenforschung Robert Ritter (1937) und seine Mitarbeiterin, die Psychologin Eva Justin, sahen die Gaunereigenschaft als vererblich an und forderten die Unfruchtbarmachung „artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen“ (ähnlich: Ludwig Kuttner).

Heinrich W. Kranz untersuchte 1941 das „Asozialenproblem“. Friedrich Stumpfl äußerte sich in seiner Studie über „Erbanlage und Verbrechen“ (1936) über Zwillings- und Sippenforschung.

Zwillingsforschung Mit der Zwillingsforschung hatte Johannes Lange (1891-1938) 1929 erstmalig Erbeinfluss auf kriminelles Verhalten untersucht. Eineiige kriminelle Zwillingspaare hatten ihm zufolge eine höhere Konkordanz aufzuweisen als zweieiige kriminelle Zwillingspaare, so dass er Erbanlage als Verbrechensursache schlussfolgerte. Er sah „Verbrechen als Schicksal“. Zu ähnlichen Ergebnisse kamen Heinrich Kranz („Lebensschicksale krimineller Zwillinge“ - 1936) und Friedrich Strumpfl („die Ursprünge des Verbrechens“ – 1936).

Konstitutionsbiologie Die Lehre des deutschen Psychiaters Ernst Kretschmer (1888 – 1964) über die Zusammenhänge zwischen Körperbau und Charakter, wurde von der Kriminologie für die Konstruktion des Anlageverbrechers aufgegriffen.

Psychopathie Die Lehre Kurt Schneiders (1887- 1967 ), der psychopatische Persönlichkeiten kategorisierte und nicht nur das individuelle Leiden des Abweichlers, sondern auch das Leiden der Gesellschaft unter dem Abweichler in den Vordergrund stellte, wurde von den Kriminologen mit der Formel „Gewohnheitsverbrecher sind Psychopaten“ übernommen. Stumpfl sah die Psychopathen unter den Rückfallverbrechern überrepräsentiert; Exner vermutete eine hohe Zahl derselben unter den Schwerverbrechern; Mezger sah die psychopathischen als besonders gefährliche Verbrecher an. Exner und Stumpfl sahen zudem die Psychopathie als Erbkrankheit an. Stumpfl forderte rassenhygienische Maßnahmen. Diese Einschätzung führte letztendlich zu Forderungen von „Gegenmaßnahmen“ wie Eheverbot, Sterilisation und Sicherungsverwahrung (vgl. Dölling, 1989; Streng 1993). Die Abwendung vom Tatstrafrecht und die Hinwendung zum Täterstrafrecht (eines der Merkmale der NS-Kriminologie) hatte schon zu Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden (vgl. Lombroso und Franz v. Liszt). Diese Traditionslinien schlugen sich auch in den Tätertypologie der NS-Zeit. Bezeichnungen wie Gewohnheits-, Zustands- oder Gelegenheitsverbrecher, Mehrfach- oder Hangtäter etc. wurden in der Kriminologie wie in der Kriminalpolitik und in Gesetzen benutzt. Sie bezogen sich zudem auf die nationalsozialistische Ideologie des Gemeinschaftsschutzes und die entsprechenden Ausgrenzungs- und Ausmerzungsvorhaben. Auch das Strafgesetzbuch arbeitete mit tätertypisierenden Begriffen („gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“; "Mörder" etc.).

Tätertypologie und Kriminalpolitik

  • Das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933 sah die Sicherheitsverwahrung und Entmannung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher vor. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.07.1933 ermöglichte die Sterilisation bzw. Unfruchtbarmachung von Erb- und schwer Alkoholkranken.
  • Im Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18.10.1935 war ein Eheverbot zum Schutz der Volksgemeinschaft und zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ enthalten. Mit der Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 04.11.1941 ging eine Verschärfung gegen "gefährliche Täter" einher. Demnach drohte gefährlichen Gewohnheits- und Sittlichkeitsverbrechern die Todesstrafe, wenn Sühne oder Gesellschaftsschutz dies erforderten. Die am 04.10.1939 verabschiedete Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher ließ bei entsprechender geistiger Reife eine Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf Jugendliche ab 16 zu. § 20 des Reichsjugendgerichtsgesetzes vom 06.11.1943 verschärfte das Jugendstrafrecht weiter. Danach konnte auch auf Minderjährige ab 14 Erwachsenenstrafrecht angewandt werden, und zwar unabhängig von ihrer geistigen Reife unter Hervorhebung des Gesellschaftsschutzes, was Exner seinerzeit begrüßte (vgl. Dölling, 1989).

Neben dem Gemeinschaftsfremdengesetz, das als förmliches Gesetz nie zustande kam, existierten unzählige Erlasse, Protokolle, Verfügungen oder Vollzugsvorschriften, die von "hartem Vorgehen gegen Wohnungslose" über "Anweisungen zu verschärfenden Strafvorschriften von Bettlern oder Prostituierten" zu "Vernichtung Asozialer als Aufgabe der Justiz" reichten und inhaltlich den Gemeinschaftsfremden typologisierten. Gegen die Tätertypenlehre hatte sich bereits 1943 der Psychiater Hans Walter Gruhle (1880-1959) insbesondere wegen ihrer Vagheit, Unbestimmtheit und der daraus resultierenden Vernachlässigung von Tatbeständen zugunsten eines "völkischen Täterstrafrechts" ausgesprochen (vgl. Streng, 1993, S. 158). Denn die Konzentration auf Tätertypen zog strafprozessuale Folgen nach sich. Nicht die Tat, sondern der Täter stand im Mittelpunkt, wodurch sich letztendlich ein Feindstrafrecht etablierte. Der Täter wurde zum Gesellschaftsfeind, dieses Feindbild wurde schließlich auf ganze Bevölkerungsgruppen übertragen. So beschäftigte sich Exner während seines Aufenthalts in den USA mit „Negerkriminalität“. Er schrieb „den Negern“ aufgrund ihrer Rasse ein hohes Maß an Kriminalität zu und folgerte aus dem Arischsein der Norddeutschen ein geringes Aufkommen von Kriminalität. Weiterhin bestand nach Exner die jüdische Straffälligkeit im Begriff des „Gewinnsuchtverbrechertums“ (vgl. Dölling, 1989).

Die Gesetzesentwürfe des Gemeinschaftsfremdengesetzes in der Zeit von 1941 - 1944 stellten den Eskalationshöhepunkt des kriminalbiologischen Diskurses im damaligen Strafrecht dar, wobei insbesondere der letzte Enwurf das Zusammenwirken von Kriminolgie und Kriminalpolitik aufzeigte. Insgesamt existierten 3 Entwürfe zum geplanten aber nie durchgesetzten Gemeinschaftsfremdengesetz, dessen wahrhaftige Bedeutung im Begriff des Gemeinschaftsfremden an sich lag. Ein erster Entwurf scheiterte 1941 am Widerstand des Reichsjustizministers Otto Georg Thierak (1889-1946), der einen Kompetenzverlust der Justiz gegenüber polizeilichen Maßnahmen entgegenwirken wollte. Der zweite Entwurf scheiterte 2 Jahre später an Joseph Goebbels (1897-1945), der die geplante Klassifizierung in u.a. "Schmarotzer, Versager, Taugenichtse" ablehnte, da diese im Volksmund gebraucht und der Typologisierung in den geplanten gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprachen und damit irreführten. Ein letzter Entwurf erschien 1944, er sah eine Einteilung der Gemeinschaftsfremden u.a. in "Versager, Arbeitsscheue und Liederliche" vor. Die Unfruchtbarmachung Gemeinschaftsfremder hätte mit diesem letzten Entwurf umsetzbar werden sollen. Dieser letzte Gesetzesentwurf bezog sich konkret auf Erblehre und Kriminalbiologie. Exner und Mezger waren nicht nur inhaltlich maßgeblich beteiligt gewesen, sie sollten, so das Reichsjustizministerium, zudem kriminalbiologische Schulungskurse abhalten (vgl. Werle, 1989). Schließlich scheiterte das Gesetzesvorhaben aufgrund der Kapitulation Deutschlands.

  • Der Tendenz zur Verpolizeilichung des Strafrechts standen Exner und Mezger jedoch nicht unkritisch gegenüber. So forderte Mezger einen „justizmäßig klaren Gesetzesaufbau“ und Exner „scharfe und reinliche Gesetzesbegriffe“ (vgl. Werle, 1989). Dennoch bleibt die Rolle Mezgers umstritten. In verschiedenen Auflagen seines Werkes "Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage" zwischen 1934 bis 1944 schrieb er der Kriminalpolitik die Aufgabe der "rassenmäßigen Aufartung des Volkes" zu, "der entartete Schädling solle ausgemerzt werden".

Praxisorientierung

  • Das Anlagedenken trat in den Vordergrund und wurde mit ökonomischen und rassistischen Elementen verknüpft. Man suchte nach Vererbung (Zwillinge), nach psychischen Merkmalen (Psychopathie) und verknüpfte sie mit Verbrechertypen wie z.B. dem Gewohnheitsverbrecher: "Gewohnheitsverbrecher - so wurde angenommen - sind in der Regel Psychopathen. Nach Stumpfl handelte es sich bei den von ihm untersuchten Rückfallverbrechern fast ausnahmslos um Psychopathen. Das dürfte nach seiner Auffassung 'wohl in Deutschland von der überwiegenden Merhzahl aller Schwerkriminellen gelten (...) Mezger führte aus: 'Denn der psychopathische Verbrecher, den seine krankhafte Veranlagung immer wieder zum Verbrechen treibt, ist in der Regel ein ganz besonders gefährlicher Verbrecher'" (Dölling 1989: 200).
  • Lehre von den Unverbesserlichen. Die Unterscheidung zwischen Gelegenheitstätern und Gewohnheitsverbrechern führte dazu, dass Gewohnheitsverbrecher als Sondergruppe aufgefasst wurden, "die nur noch wenige Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen" aufwies. "Dies begründete dann die Gefahr einer besonders intensiven Sanktionierung dieser Sondergruppe." Schon 1928 hatte Mezger (MschrKrim 19: 385, 393) erklärt: "Es gibt Verbrecher, die vermöge ihrer erbbiologisch bedingten Anlage anders sind und zeitlebens anders bleiben als andere Menschen. Sie sind nicht geisteskrank ..., aber sie sind dauernd unfähig, am normalen sozialen Zusammenleben der Menschen gleichberechtigt teilzunehmen. Insofern sind sie 'unverbesserlich' und bedürfen der 'Ausscheidung aus der menschlichen Gemeinschaft'"(Dölling 1989: 203).
  • Minderwertigkeit. Fickert (Rassenhygienische Verbrechensbekämpfung 1938, 3, 82) erklärte, "einen wissenschaftlichen Beitrag zum Problem einer rassenhygienischen Schädlingsbekämpfung zu lesiten" und postulierte: "Bei diesen Schädlingen wird die psychopathische Abartigkeit tatsähclich zu einer 'psychpathischen Minderwertigkeit'; diesen Ballastexistenzen ehat sich das ganze Interesse der Erb- und Rassenhygiene zuzuwenden."
  • Schon 1934 hatte der Strafrechtler Siegert die Tötung als Sicherungsmaßnahme befürwortet: "Schließlich ist für die Zukunft noch zu prüfen, ob der nationalsozialistische Staat auch zur letzten Sicherung gegen einen entarteten Volksgenossen, zur Tötung schreiten soll. Die Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens gewinnt heute eine ganz andere Bedeutung als früher, da der Einzelne nicht mehr als Einzelwesen, sondern in seiner Bedeutung als Glied der Gemeinschaft gewertet wird. ...Das kommende Strafgesetzbuch müßte also die Möglichkeit schaffen, bei unheilbaren, gefährlich geisteskranken Rechtsbrechern, die ohne jeden, auch ethischen Wert für die Allgemeinheit sind, auf Tötung zu erkennen, sofern sie ein schweres Verbrechen begehen" (zit.n. Dölling 1989: 207 f.).
  • Volkszugehörigkeit und Kriminalität. Die Bewohner Nordwestdeutschlands "haben nun in der Tat ihr besonderes körperliches und geistiges Gepräge. Es ist die nordische und die nordisch-fälische Rasse, die hier überwiegend zu finden ist. In ihrer körperlichen Erscheinung sind es die schlanken und die schweren blonden Deutschen" (Exner erklärte so die niedrigere Kriminalitätsbelastung in dieser Gegend).
  • Vernichtung und Ausrottung. Johann von Leers, Die Verbrechernatur der Juden (1944: 8): ".. ist auch die menschliche Gesellschaft ... berechtigt ..., das erbkriminelle Volk auszutilgen, ja es entsteht sogar die Pflicht der Rechtsverfolgung hinter den Juden durch alle Länder hindurch, um sie zu vernichten und auszurotten ...".

Nicht-Thematisierungen

Anknüpfungspunkte innerhalb der Kriminologie

Die Kriminologie hatte sich in Deutschland unter dem Einfluss von Franz v. Liszt und der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) als Hilfswissenschaft des Strafrechts gerade erst im akademischen Überschneidungsraum von Strafrecht, Strafvollzug, Psychiatrie sowie Rechts- und Sexualmedizin etabliert, als der Erste Weltkrieg ihre internationalen Verbindungen kappte. Bevor die Zeit der NS-Herrschaft begann, gab es aber schon eine Reihe von Anknüpfungspunkten:

  • Die "moderne Schule" hatte der Auffassung zum Durchbruch verholfen, dass das Strafrecht eine soziale und politische Funktion zu erfüllen habe - die Sicherung der Lebensbedingungen des Einzelnen und der Gesellschaft. Jede Zeit müsse selbst wissen, was sie als Lebensbedingungen definiere. Franz v. Liszt (Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: Strafr. Aufsätze und Vorträge, Bad. 1, Berlin: J. Guttentag 1905: 126 ff.) hatte erklärt: "Jene Handlungen, welche für dieses Volk zu dieser Zeit als Störungen seiner Lebensbedingungen erscheinen, sind unter Strafe zu stellen ... der Zweckgedanke allein zieht die Grenzlinie."
  • Die "moderne Schule" hatte keine Skrupel, wenn es um "unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher" ging. Sie verlangte vom Staat, die Gesellschaft gegen den Anpassungsunfähigen zu schützen, "indem man ihn aus der Gesellschaft ausscheidet" (v. Liszt, Mitteilungen der IKV, Bd. 19, 1912: 377 ff.). Die Einschließung auf unbestimmte Zeit sollte in einer Art Strafknechtschaft bestehen "mit strengstem Arbeitszwang" und "Ausnutzung der Arbeitskraft". Als Disziplinarstrafe sollte Einzelhaft möglich sein: "verbunden mit Dunkelarrest und strengstem Fasten" (v. Liszt 1905: 170).
  • Für Gewohnheitsverbrecher hatte v. Liszt vorgeschlagen: "Arbeitshaus mit militärischer Strenge ohne Federlesens und so billig wie möglich, wenn auch die Kerle zugrundegehen. Prügelstrafe unerlässlich ... Der Gewohnheitsverbrecher (der Begriff ist nicht ganz unser technischer: Ich meine den prinzipiellen Gegner der Rechtsordnung) muß unschädlich gemacht werden, und zwar auf seine Kosten, nicht auf die unseren. Ihm Nahrung, Luft, Bewegung usw. nach rationellen Grundsätzen zumessen, ist Mißbrauch der Steuerzahler" (aus einem Brief an Dochow 1880, zit. bei Radbruch, Elegantiae Iuris Criminalis, 2. Aufl. 1950: 229).
  • v. Liszt wünschte, man hätte den Mut, "unsere Strafgesetzbücher durch den einzigen Paragraphen zu ersetzen: 'Jeder gemeingefhrliche Mensch ist im Interesse der Gesamtheit so lange als nötig unschädlich zu machen" (zit. n. Naucke, Die Kriminalpolitik des Marburger Programms 1882, ZStW 1982: 540).
  • In den 1920er Jahren hatte sich die Kriminalbiologie entwickelt: in Bayern sammelte seit 1924 der Kriminalbiologische Dienst in den Strafanstalten die physischen Merkmale von Gefangenen; 1927 veröffentlichte Adolf Lenz aus Graz seinen "Grundriss der Kriminalbiologie" und gründete die Kriminalbiologische Gesellschaft. 1929 hatte Johannes Lange seine Zwillingsuntersuchungen veröffentlicht ("Verbrechen als Schicksal. Studien an kriminellen Zwillingen"; ein Exner-Schüler hatte 1930 die "erbbiologische Kartei" im Dresdener Justizministerium im Hinblick auf erbliche Belastungen bei Vermögensverbrechern ausgewertet.
  • Schon 1926 gab es gewaltsame Störungen von Veranstaltungen jüdischer Professoren; vielerorts war die Studentenschaft in den letzten Jahren der Weimarer Republik bereits militant nationalsozialistisch eingestellt.

Beitrag der Kriminologie zur Kriminalität

Sieben Thesen

(1) Im NS-Staat verlor die deutsche Kriminologie die Verbindung mit der Entwicklung der Wissenschaft. Viele der Einseitigkeiten, die sich seither - auch in der kritischen Variante - zeigten, sind gerade diesem bis heute noch nicht überwundenen Provinzialismus geschuldet.

(2) Eine wissenschaftliche Kriminologie hat dem Staat und seiner Kriminalpolitik nicht zu gehorchen. Sie hat sie nicht zum Ausgangspunkt ihrer Forschungen zu machen, sondern zu deren Gegenstand. Sie hat sie auch nicht zu beraten, sondern zu analysieren. Ihr Untersuchungsobjekt ist die selektive staatliche Definition von Kriminalität, die staatliche Begehung von Kriminalität und die selektive, d.h. zum Teil durch Dramatisierung, zum Teil durch Vernachlässigung gekennzeichnete staatliche Prävention und Repression von Kriminalität. Staatliche Statistiken sind ebenso zu behandeln. Staatliche Rechtsauffassungen sind von der Rechtslage zu unterscheiden. Themen der Kriminologie wären dann vor allem: konforme Kriminalität, Gehorsamstaten, der Prozess der Kriminalisierung, das Verhältnis von Maßnahmenstaat und Normenstaat. Vorbilder können sein: Nils Christie, Louk Hulsman, Herbert Jäger, Stanley Milgram, Wayne Morrison, Philip Zimbardo.

(3) Die Kriminologie verschloss die Augen vor der großen Kriminalität in Staat und Gesellschaft: vor den politischen Morden während der Weimarer Republik und vor der politischen Justiz, vor den Morden in den KZs und den Vernichtungslagern, vor der Folterung durch die Gestapo, durch SA und SS, vor den Kriegsverbrechen und den im Schatten des Krieges begangenen Verbrechen. Sie sah die außerjustizielle (polizeiliche) Verschleppung, Folterung, Exekution vielleicht auch gerade deshalb nicht als ihr Thema an, weil man sich als Kriminologe auf die Strafgesetzgebung und die Strafjustiz sowie den regulären Strafvollzug zu konzentrieren pflegte.

(4) Schwerpunkte des Versagens waren:

  • Sie ignorierte den NS-Terrorismus
  • Sie versagte nicht wegen des Positivismus, sondern wegen ihrer Politisierung
  • Sie wurde selbst zum Instrument der Makro-Kriminalität
  • Sie versagte bei der Analyse der Gesetzgebung/Normgenese wie auch bei der Beschreibung und Analyse von "Kriminalität" und "Sanktionen" im Bereich der Justiz und im Bereich der Polizei (KZ; Gestapo; Militär- und Strafurteile; Todesurteile).
  • Ohne die Kriminologie wäre der Definitions- und Eliminations-Prozess nicht so reibungslos gelaufen. Insofern hat sie historisch wohl einen negativen Saldo: mehr geschadet als genutzt.

(5) Die kriminologische Aufklärung (Beccaria, v. Liszt) zeigte im NS-Staat die Ambivalenz der Moderne. Die NS-Kriminologie war nichts "ganz anderes", sondern nur die Radikalisierung einer vorhandenen Vorstellung von Kriminalität, Kriminellen und den Aufgaben der Kriminalpolitik. Ausgerechnet die positiv konnotierten Modernisierungen des Strafrechts (Beccaria, v. Liszt) schufen Anknüpfungspunkte für die Etikettierung und Eliminierung von Unverbesserlichen.

(6) Die Kriminologie bedarf einer realistischen Konzeption des Staates als Untersuchungsobjekt. Dafür eignet sich die Figur des Doppelstaates (Ernst Fraenkel).

(7) Aufgrund ihrer Politik- und Praxisnähe sowie aufgrund ihrer historischen Verstrickungen muss die Kriminologie eine „moralische Phantasie“ ausbilden, also das Gefühl für die Wahrnehmung des „Undenkbaren“ schulen, um Folgen abschätzen und den von Günther Anders formulierten universellen hippokratischen Eid ablegen zu können: keine Arbeiten annehmen und durchführen, ohne diese zuvor darauf geprüft zu haben, ob sie direkte oder indirekte Vernichtungsarbeiten sind; die Arbeiten, an denen wir gerade teilnehmen, aufzugeben, wenn diese sich als solche direkten oder indirekten Vernichtungsarbeiten erweisen sollten (Anders, Die atomare Bedrohung, 137)

Literatur

  • Ayaß, Wolfgang "Gemeinschaftsfremde". Quellen zur Verfolgung von "Asozialen" 1933 - 1945. Koblenz: Bundesarchiv (Materialien aus dem Bundesarchiv, 5) - 1998
  • Baumann, Imanuel Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980, Göttingen 2006
  • Dölling, Dieter Kriminologie im "Dritten Reich", in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im "Dritten Reich", Frankfurt a.M. 1989, S. 194-225.
  • Freisler, Roland (1942) Kriminologie – unentbehrliche und gleichwertige Grundlage erfolgreicher Strafrechtspflege. In: Deutsches Strafrecht 7/8 (1942) 97–107.
  • Kaiser, Günther Kontinuität und Diskontinuität in den Diskursen über Kriminalität und strafrechtliche Sozialkontrolle im Lichte wissenschaftshistorischer Betrachtung in Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 89 (2006), S. 314-327.
  • Kunz, Karl-Ludwig Kriminologie - eine Grundlegung Bern, 2004
  • Langewiesche, Dieter (1997) Die Universität Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus: Formen der Selbstgleichschaltung und Selbstbehauptung. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 23.618-646.
  • Rafter, Nicole (2008) Criminology's Darkest Hour: Biocriminology in Nazi Germany Australian & New Zealand Journal of Criminology August 2008 41: 287-306.
  • Schöch, Heinz Die gesellschaftliche Organisation der deutschsprachigen Kriminologie, Ausblick und Rückblick in Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, Berlin 1986, S.355-372
  • Schütz, Reinhard Kriminologie im Dritten Reich. Erscheinungsformen des Faschismus in der Wissenschaft vom Verbrechen, 1972
  • Simon, Jürgen Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920 - 1945, Münster: Waxmann (Internationale Hochschulschriften, 372) - 2001
  • Streng, Franz Der Beitrag der Kriminologie zur Entstehung und Rechtfertigung staatlichen Unrechts im "Dritten Reich", in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 76 (1993), S. 141-168.
  • Telp, Jan Ausmerzung und Verrat. Zur Diskussion um Strafzwecke und Verbrechensbegriffe im Dritten Reich, Frankfurt am Main: Lang (Rechtshistorische Reihe, 192) - 1999
  • Thulfaut, Gerit Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger - Eine wissenschaftsgeschichtliche und biographische Untersuchung, Baden-Baden, 2000
  • Werle, Gerhard Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich Berlin 1989, S. insbs. 636-658
  • Wetzell, Richard F. Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880-1945, Chapel Hill und London 2000, insbs. S. 179-231.

Weblinks