Gefängnissubkultur

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Begriffliche Abgrenzung des Kulturbegriffes

Die Mitglieder einer Subkultur sind einerseits konform bezüglich der Inhalte der dominanten Kultur, andererseits definieren sie darüber hinaus Norm- und Wertstrukturen, welche sich wesentlich von denen, die in der Gesamtgesellschaft gelten, unterscheiden. Man differenziert die freiwillige- (z.B. Jugendbanden) von der unfreiwilligen (z.B. Gefängnisinsassen) Subkultur. Innerhalb eines Gefängnisses existieren die Insassen- und die Personalsubkultur, die als Gegenkulturen zueinander verstanden werden. Inwiefern sie sich gegenseitig beeinflussen, ist nicht abschließend erforscht. Gefängnisinsassen, die aufgrund der äußeren Umstände der „totalen Institution“ (Goffman prägte diesen Begriff für Anstalten wie z.B. das Gefängnis) zur Bildung einer eigenen Kultur veranlasst werden, zeichnen sich durch besondere Solidaritätsnormen, Werte und eine eigene Knastsprache aus, die eine Beständigkeit der Subgruppe sichern sollen.

Prozess der Prisonisierung

Die Prisonisierung („prisonization“) nach D. Clemmer setzt sich aus zwei zentralen Aspekten zusammen:

  1. Anpassung und Gewöhnung des Insassen an das Gefängnisleben, aber auch Abfindung mit den Bedingungen der totalen Institution und Erlernen des technischen und informellen Wissens über die Organisation des Strafvollzugs.
  2. Prozess des Erlernens, des Anpassens und der Übernahme der Insassenkultur (Lebensformen, Sitten, Bräuche etc.).

Der Prozess der Sozialisation in die Gefängniskultur bewirkt eine Verstärkung der kriminellen Neigung der Insassen, so dass die Prisonisierung als resozialisierungsfeindlich gilt. Insassen werden gegen die konventionellen Normen weitestgehend immun. Je weiter die Prisonisierung fortschreitet, desto stärker ist die Übernahme der Insassensubkultur und desto höher wird die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit. Mit Strafantritt verlieren Gefangene ihre bisherige gesellschaftliche- und soziale Rolle. Symbolisch zeigt sich dies durch die Existenz von Zugangs- und Degradierungszeremonien zu einer totalen Institution. Gefangene werden durch die Prozeduren der Entpersönlichung zu einer anonymen Figur. Es wird ein U-förmiger Verlauf der kulturellen Entwicklung der Gefangenen angenommen: In der Eingangs- und Schlussphase der Haft sind die Einstellungen der Inhaftierten den bürgerlichen Normen am nächsten, in der mittleren Phase der Haft sind die Gefangenen am stärksten in die Subkultur integriert.

Theorien zur Gefängnissubkultur

Die beiden nachfolgend erläuterten Theorien (Deprivations- und kulturelle Übertragungstheorie) erklären die Bedingungen und Mechanismen der Übernahme und Entstehung subkultureller Einstellungen, Normen und Werte eines Gefangenen. Forscher stellten bei der Überprüfung der Erklärungskraft beider Theorien fest, dass die Verbindung beider Modelle überzeugender ist, so dass das Integrationsmodell unter 3.3 den zeitgemäßen Stand aufzeigt.

Deprivationstheorie

1964 wurde durch Sykes die theoretische Konzeption der Deprivationstheorie entwickelt. In dieser wird davon ausgegangen, dass subkulturelle Einstellungen von Inhaftierten erst durch die Hafterfahrung, also als Reaktion auf vollzugsinterne Mängel, entstehen. Die Inhaftierung wurde erstmals durch die Deprivationstheorie als ein einschneidendes Ereignis im Leben betrachtet. Die Ausbildung einer Insassenkultur oder Partizipation an dieser kann funktional, als Mittel zur Problemlösung und Reaktion auf anstaltsbedingte Deprivationsquellen, erklärt werden. Zu den sog. „pains of imprisonment“ können der Verlust an Freiheit und Beschränkung der Autonomie, der Entzug heterosexueller Beziehungen und der Entzug materieller und immaterieller Güter sowie der Mangel an Sicherheit vor kriminellen Mithäftlingen gezählt werden. Der Gefangene erlebt aufgrund der geringen Bedürfnisbefriedigung Frustrationen und starke Beeinträchtigungen des Selbstbewusstseins. Durch Interaktion und Solidarisierung mit anderen Gefangenen versuchen Insassen ihre Leiden, die durch die Deprivation entstehen, zu lindern. Sie gehen in Opposition zu ihren Unterdrückern (Stab) und entwickeln subkulturelle Einstellungen, Normen und Werte.

Theorie der kulturellen Übertragung

Irwin& Cressey entwickelten 1964 die Theorie der kulturellen Übertragung. Nach dieser bringt jeder Inhaftierte seine bereits vor Hafteintritt vorhandenen kriminellen Einstellungen in das Gefängnis mit ein. Vollzugsexterne Faktoren tragen zur Ausbildung einer Subkultur in der totalen Institution bei. Institutionelle und außerinstitutionelle Einstellungen desselben Personenkreises sind demnach deckungsgleich.

Neuere Entwicklungen

Nach dem Integrationsmodell setzen sich subkulturelle Einstellungen aus vorinstitutionellen und anstaltsbedingten Faktoren zusammen, wobei die Zeit nach der Haft nicht berücksichtigt wird. Daher wurde ein alternativer Ansatz zur Erklärung von Gefängnissubkulturen entwickelt, welcher auf die Theorie des Wertewandels zurückgreift. Probleme, die nach der Entlassung auftreten, führen zu einer Veränderung von Werten. Bei jeder erneuten Inhaftierung ehemaliger Gefangener werden veränderte Werte in den Strafvollzug eingebracht, so dass es zu Subkulturbildungen kommt.

Insassenkultur

Trotz Insassenfluktuation treten wiederkehrende Merkmale auf, die von den Insassen kollektiv ausgehen. Diese Wertvorstellungen, Verhaltensvorschriften, Bräuche und Ansichten prägen die Subkultur eines Gefangenen. Viele Gefängnisse weisen ähnliche Insassenkulturen auf.

Insassenkultur I: Werte, Normen, Einstellungen

Charakteristisch für das Wert- und Normensystem der Insassen sind Auffassungen, die den offiziellen Gefängnisregeln entgegenlaufen und sich in zwei Grundregeln ausdrücken: Zum einen dem Verbot, mit dem Stab zu kooperieren und deren Normen und Werte zu akzeptieren. Zum anderen dem Gebot des solidarischen Zusammenhalts der Häftlinge untereinander. Werte wie Reichtum, ökonomische Sicherheit und Erfolg gelten auch unter den Insassen. Härte, Männlichkeit, Loyalität, Aufrichtigkeit, Selbstbeherrschung, Mut, Zähigkeit, Verlässlichkeit, Individualität, rationales Handeln, Uneigennützigkeit und Hilfsbereitschaft sind ebenfalls anerkannte Werte. In der Gesellschaft gewürdigte Werte wie Strebsamkeit und Lernwilligkeit, aber auch die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum Anderer, fehlen in der Insassenkultur fast vollständig oder nehmen einen untergeordneten Rang ein. Bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Insassenkultur greifen Gefangene zu unterschiedlich harten Sanktionen wie Spott, Unterdrückung, Isolierung oder Gewalt. Die Häftlingsgemeinschaft wirkt von außen sowohl solidarischer, als auch harmonischer und konfliktfreier als von innen. Der Kriminelle arbeitet im Gefängnis um Geld zu verdienen, Privilegien zu erlangen oder um an begehrte Dinge (z.B. Tabak) oder Kontakte zu kommen, damit er am Tausch- bzw. Drogenhandel unter den Häftlingen teilnehmen kann. Er wird damit unabhängiger und gewinnt letztlich an Macht, sich der totalen Kontrolle zu entziehen. Insassen fühlen sich durch die Gesellschaft teils ungerecht behandelt und ihr nicht zugehörig. Charakteristisch für die Gefangenensubkultur ist eine aggressive, feindliche Einstellung gegenüber dem Staat, der Polizei, dem Anstaltspersonal und der Gefängnispraxis (Abläufe, Regeln). Das Resozialisierungsziel empfinden Insassen als reinen Hohn.

Insassenkultur II: Sozialstruktur der Insassen

Gruppen und Einzelgänger im Strafvollzug

Eine Gruppe entsteht, wenn sich mehrere Häftlinge freiwillig aufgrund gemeinsamer Interessen und Erfahrungen zusammenschließen und sich innerhalb der Gruppe Solidarität (Austausch von Geheimnissen, Teilung von Luxusgütern) und ein Wir-Gefühl entwickelt. Voraussetzung dafür ist die Möglichkeit der Interaktion. Gruppenkontakte verbinden den Einzelnen mit der Gefangenenkultur. In Gruppen bilden sich bereits nach kurzer Zeit spezielle Rollen- und Sozialstrukturen heraus. Nach einer amerikanischen Studie zur Verteilung von Gruppenmitgliedern und Einzelgängern wurden Insassen in vier Kategorien eingeteilt (vgl. Harbordt, Steffen, 1972, S. 80f): Ca. 20% führen enge Freundschaften mit drei oder vier Häftlingen, bei etwa 40% besteht eine lose Beziehung zu acht bis neun Häftlingen. Zu den Einzelgängern zählen sich ca. 40% (5% völlige Einzelgänger, 35% teilweise vereinzelte Insassen).

Rollenstruktur

Für den nordamerikanischen Vollzug wurde durch Schrag eine Unterteilung der Insassen in vier Typen nach unterschiedlichen Verhaltensweisen und nach ihren Normenkonfliktlösungen vorgenommen. Gewisse Rollen mögen in ihrer Quintessenz bereits vor Haftantritt der Person eigen gewesen sein, denn sie spiegeln bestimmte Lebensbewältigungstechniken wieder. Der antisoziale Typus bzw. der „right guy“ hält sich strikt an den Insassencode, ist loyal, solidarisch und würdevoll. Er ist meist ein erfahrener Krimineller, der eine Vorbildfunktion unter den Insassen einnimmt und gegen den Stab opponiert, ohne aggressiv zu werden. Aus den „right guy“ rekrutieren sich die informellen Führer. Der prosoziale Typus bzw. der „square John“ folgt den Werten und Normen des Stabs. Trotzdem ist er loyal gegenüber seinen Mitinsassen und hält sich an die Gruppennormen. Der asoziale Typus bzw. der „outlaw“ und ggf. der „gorilla“ (Schläger) schenkt weder dem Insassencode noch der Anstaltsordnung Beachtung. Der pseudosoziale Typus bzw. der „politician“ ist opportunistisch und angepasst. Er wechselt je nach Situation die Normen zwischen Gefängnisinsassen und Stab.

Sykes konnte weitere Insassenrollen in einem „maximum-security prison“ ausfindig machen. Seinen Forschungen zufolge gibt es Denunzianten wie „rats“, „finks“ und „stool pigeons“, die dem Stab Informationen zum Nachteil eines Mithäftlings geben. Der „ballbuster“ ist feindselig gegenüber dem Stab und wird von den Mitgefangenen nur gering geschätzt, da er zur Verschärfung der Kontrollen beiträgt.. „Wolves“, „punks“, oder „fags“ (verschiedene homosexuelle Rollen) sowie der „businessman“ erniedrigen die Mithäftlinge, indem sie durch Gewalt sexuelle- oder ökonomische Bedürfnisse befriedigen.

Kritische Betrachtung der Rollenstruktur

Die Gefangenentypen sind selten in reiner Form vorzufinden, so dass zu Unrecht der Eindruck von Klarheit entsteht. Da die wissenschaftliche Untersuchung der Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen der Gefangenensubkultur im deutschen Strafvollzug lange Zeit unterblieb und es nur wenig deutsche Forschungsergebnisse hierzu gibt, werden die amerikanischen Bezeichnungen der Insassentypen durch viele Autoren ohne empirischen Nachweis auf die deutschen Gefängnisinsassen übertragen (vgl. Harbordt, S. 117ff). Es ergibt sich daraus die Problematik der fehlenden interkulturellen Vergleichbarkeit. Zudem existieren überwiegend ältere Studien, welche die heutige Gefängnissituation nicht adäquat darstellen können, da sich die Gesellschaft verändert hat. Laubenthal weist darauf hin, dass starke Ausprägungen der Gefängnissubkultur in der BRD hauptsächlich für die Spätaussiedler/ Russlanddeutsche berichtet werden („Strafvollzug“, 2008, S. 113ff).

Kriminologische Relevanz

Die Subkulturforschung im Gefängnis wird durchgeführt, um die Resozialisierungschancen von Gefängnisinsassen einzuschätzen. Zudem soll geprüft werden, ob die Angebote angenommen oder durch andere Hafteinflüsse neutralisiert werden.

Literaturempfehlung

  • Harbordt, Steffen: Die Subkultur des Gefängnisses: eine soziologische Studie zur Resozialisierung, Stuttgart: Enke, 1967.
  • Hürlimann, Michael [Hochschulschrift]: Führer und Einflußfaktoren in der Subkultur des Strafvollzugs, Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges., 1993.
  • Trotha, Trutz von: Strafvollzug und Rückfälligkeit: eine Studie zur soziologischen Theorie und Empirie des Rückfalls von Strafgefangenen, Heidelberg: Müller, Juristischer Verlag, 1983.