Edgework

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der Begriff des „Edgework“ wurde durch den US-amerikanischen Soziologen und Fallschirmspringer Stephen Lyng geprägt. Gemeint ist damit die Suche nach und das Erleben von individuellen Grenzerfahrungen. Edgework-Aktivitäten sind stets mit einem Risiko behaftet und können an unterschiedlichsten Grenzen erlebt werden: Der zwischen Leben und Tod, zwischen Legalität und Illegalität, Konformität und Tabu oder zwischen materiellem Gewinn und Verlust.

Das dabei bewusst gesuchte Risiko kann darin bestehen, sich einer schon vorhandenen Gefahrensituation auszusetzen (z.B. im Rahmen von Rettungsdiensten) oder eine Gefährdung für sich selbst, für eigene Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Freiheit oder Vermögen) zu schaffen.

In dem 2005 von Lyng herausgegebenen Sammelband „Edgework – The Sociology of Risk-Taking“ werden einige Edgework-Schauplätze und -erfahrungen beschrieben und analysiert: Extremsportarten, Drogenkonsum und terroristische Aktivitäten zählen eben so dazu wie freiwillige Rettungsdienstleistungen in den Rocky Mountains. Als aktiver Fallschirmspringer kann Lyng selbst teilnehmend beobachten, eigene Erfahrungen und Kontakte für seine Arbeit nutzen.

Charakteristisch für das Edgework-Erlebnis ist der mit der Grenzerfahrung („Negotiating Borders“) verbundene motivierende Thrill, der die Selbstwahrnehmung bis zur Euphorie steigert. Um diesen Adrenalinrausch zu erleben, werden freiwillig Risiken in Kauf genommen, die dem Außenstehenden irrational erscheinen und nicht durch messbare Vorteile relativiert werden. Vielmehr sind die Erfahrungsberichte von Edgworkern von Situativität und Emotionalität geprägt.


Theorien und Funktionen

In seiner „Soziologie des Abenteuers“ (Jock Young) bezieht sich Lyng u.a. auf Erving Goffman, der sich in seinem Essay „Where the Action is“ (1967) mit dem Phänomen wachsender Bereitschaft zu risikogeneigtem Verhalten („Action“) in westlichen Zivilisationen der Nachkriegszeit befasst.

Die Soziologie des Edgeworking bedient sich unterschiedlicher theoretischer Grundlagen. So finden sich Bezüge zum Konzept der Postmoderne, die die Suche nach Grenzerfahrungen als Reaktion auf eine zunehmende Rationalisierung, Ökonomisierung und Technisierung interpretierbar macht. Der Aspekt der gesteigerten Selbstwahrnehmung durch Egdework-Erlebnisse lässt sich mit George Herbert Meads Ansatz des Symbolischem Interaktionismus („Mind, Self and Society“, 1934) analysieren. Howard S. Becker lieferte mit seiner Studie über Marihuanakonsumenten eine Beschreibung des Weges vom Outsider zum Insider einer devianten Aktivität und dokumentiert damit einen Lebensstil des Edgeworking.

Auf Karl Marx nimmt Lyng Bezug, indem er dessen Beobachtung der Entfremdung des Individuums von Produktionsmitteln und- prozessen als Motiv für die kompensatorische Lust an Grenzerfahrungen ausmacht. Jack Katz hat in seinen „Seductions of Crime“ kriminalisierte Devianz unter emotionalen Aspekten („Foreground“, „Seduction“) beschrieben.

Michel Foucault thematisierte den Tabubruch in moralischer Hinsicht, Jeff Ferrell die anarchischen Aspekte der Graffiti-Kultur. O´Malley und Mugford (1994) erklären Edgework-Erlebnisse unter Bezugnahme auf Campbells (1983, 1987) Studie über den Romantizismus mit dem Bedürfnis des Menschen den Dualismus zwischen Körper und Geist/Ratio zu überwinden, der bereits im Zuge der Aufklärung emotionale Komponenten hinter rationale zurücktreten ließ.´

So wohnt dem Egdgeworking einerseits ein eskapistisches Element inne, indem es temporäre Fluchten aus fremdbestimmter Routine und Rationalität des Alltags („Flipside of Rationality“) ermöglicht und andererseits lässt sich Edgework als integraler Bestandteil einer Gesellschaft begreifen, in der die ehemals kollektivierten Risiken an das Individuum zurück delegiert werden (Abkehr vom Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat, Neoliberalismus, Post-Keynesianismus) dem Egdeworker –kontrafaktisch- das Gefühl von Kontrolle zu suggerieren.

Mit den Cultural Studies hat das Konzept des Edgework den zu Grunde gelegten, erweiterten Kulturbegriff gemein. Auf eine Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur verzichtet auch die Cultural Criminology, die ebenfalls die emotionalen Aspekte kriminalisierten und kriminalisierendem Verhaltens fokussiert.

Kasuistik

Ungeschützte Sexualkontakte und risikobehaftete Sexualtechniken wie Sado-Masochismus oder Asphyxiation werden vom Begriff Edgework erfasst. Eben so das Betreiben von Risikosportarten wie Wildwasser-Rafting, Fassadenklettern und Fallschirmspringen. Auch im Eingehen von Investitionsrisiken und in ehrenamtlich oder als Profession betriebenen Not- und Rettungsdienstleistungen manifestiert sich Edgework. Kriminalisierte Handlungen (z.B. Ladendiebstahl - auch in der Form des Flashrob - , aber auch Drogenkonsum oder Terrorismus) weisen ebenso wie risikobehaftete Forschungs- und Recherchemethoden (Kriegsberichterstattung) die Merkmale des Edgeworking auf.

Methoden

Die Forschungsarbeiten zum Thema Edgework sind nicht auf eine Methode festgelegt. Zur Anwendung kommen vorwiegend qualitative Methoden der Sozialforschung, wobei der Teilnehmenden Beobachtung insofern eine Schlüsselrolle zufällt, als das eigene Edgeworkerlebnis des Forschers teils als eine Voraussetzung zum Verstehen dieser Lebenswelt beurteilt wird. Hier setzt auch die Kritik am Konstrukt Edgework an, die in neuem Gewand die Argumente des Streits um die Notwendigkeit und Möglichkeit der Sozialforschung zur Objektivität wiederholt.


Kriminologische Relevanz

Unter dem Einfluss des Cultural Turn interessiert sich die Kriminologie vermehrt für eine Zusammenschau von Kriminalisierung, kriminalisiertem Verhalten und Kultur. In der Tradition der klassischen Forschung des CCCS zu Jugendkultur und Moralischer Panik entstand auch die Cultural Criminology. Unter ihrem Schlüsselbegriff „Transgression“ thematisert sie zunehmende Kriminalisierungstendenzen und Kriminalität als alltagskulturelles Phänomen.

Das Edgework-Konzept befördert die Hinwendung zur Situativität kriminalisierter Handlungen und die Abwendung von Rational Choice Theorien. Im Gegensatz dazu rücken Prozesshaftigkeit und emotionale Aspekte krimineller Handlungen in den Fokus der Analyse. Im Sinne von Katz werden Vordergrund und Emotionalität („Seduction of Crime“) des Geschehens in Blick genommen.


Literatur

  • Stephen Lyng (1990): Edgework: A Social Psychological Analysis of Voluntary Risk Taking. American Journal of Sociology 95(4): 851-886.
  • Stephen Lyng “Holistic Health and Biomedical Medicine: A Countersystem Analysis, 1990
  • Stephen Lyng, David D. Franks “Sociology and the Real World”, 2002
  • Stephen Lyng (Hrsgb.) “The Sociology of Risk-Taking”, 2005, Routledge, New York.
  • Jack Katz “Seductions of Crime”
  • Erving Goffman “Where the Action is”, 3 Essays
  • Jeff Ferrell “Adventures in Urban Anarchy”
  • Howard Becker „On Becoming a Marijuanauser: A Study in Symbolic Interactionism“, 1953, 1963


Links

Cultural Criminology: http://www.culturalcriminology.org/