Arbeit statt Strafe

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Arbeit statt Strafe meint die Vermeidung einer Geldstrafe oder Ersatzfreiheitsstrafe durch Abarbeiten. Diese Möglichkeit bietet das deutsche Strafrecht seit 1986.

Etymologie

Vor dem gesetzlichen Hintergrund entstanden seitdem, je nach Bundesland, verschiedene Projekte, freier Träger zur Betreuung der Klienten oder Probanden, wie sie in der Bewährungshilfe genannt werden. Eines dieser Projekte in Berlin heißt Arbeit statt Strafe (kurz: ASS), alternativ wird von gemeinnütziger Arbeit statt Strafe oder sog. Freier Arbeit gesprochen. Weitere Projekte existieren in anderen Bundesländern, wie z.B. Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern.

Geschichte und Entwicklung

Bevor von der Entwicklung hin zum Abarbeiten von Geld- oder Ersatzfreiheitsstrafen die Rede ist, zunächst ein Blick auf den Begriff Arbeit generell:

Arbeit hat im Laufe der geschichtlichen Entwicklung einen Bedeutungswandel erfahren, von der originären Arbeit früher, z.B. Mittelalter, auf dem Feld oder im Handwerk zum Bestreiten des Lebensunterhaltes Einzelner oder Familien hin zu einer philosophischen Ebene. Nicht zu reden von Sklavenarbeit, die als Fron zu verstehen war und keinerlei Rechte für die Sklaven bedeutete. Nach neueren Theorien ist Arbeit nicht nur zum Bestreiten des Lebensunterhaltes wichtig, sondern wird vielmehr zum Selbstzweck bzw. zur Selbstverwirklichung. Leistung und Gegenleistung sollen im Gleichgewicht stehen. Typischerweise werden vorhandene Bedürfnisse durch einen Ertrag in Form von Lohn gedeckt. Jede „zielgerichtete, planmäßige und bewusste menschliche Tätigkeit, die unter Einsatz physischer, psychischer und mentaler Fähigkeiten und Fertigkeiten erfolgt“ (Lankenau 1986, in: Kawamura-Reindl; Gemeinnützige Arbeit statt Strafe, S. 37) ist heute gleichgesetzt mit „Arbeit“. Die Funktionen von sozialer Teilhabe und Kontakten in der Arbeitswelt (Integration), Existenzsicherung durch Erarbeiten eines finanziellen Ertrages bis hin zur Sicherung einer Tagesstruktur sind vielfältig und diverser Natur. Arbeit wird nicht nur, wie in der Volkswirtschaft, als ein Produktionsfaktor gesehen, sondern enthält in der heutigen modernen Gesellschaft immer auch eine soziale Komponente.

Der zweite Begriff in der Wortschöpfung Arbeit statt Strafe, Strafe selbst, wurde oft erörtert, wie exemplarisch auch in s. StrafeKrimpedia. Kurz: Strafe lässt sich ursprünglich ableiten aus dem Schuld- und Sühnegedanken, der Recht durch vorangegangenes Unrecht wiedergutmachen sollte. Eingriffe erfolgten in: Freiheit, Vermögen, Ehre oder Körperstrafen bis hin zur Todesstrafe (letztere heute vorrangig in den USA). Auf den Vergeltungsgedanken der sog. absoluten Strafrechtstheorien nach Kant/Hegel, der täterorientierte Ahndung vorsieht, folgte im Sinne der relativen Straftheorien nach Feuerbach und List der Präventionsgedanke. Von der Generalprävention, allgemeiner Abschreckung, hin zur Spezialprävention. Diese bezieht sich auf die Person des Täters mit dem Ziel: Abhalten von weiteren Taten qua individueller Abschreckung. Seit den 80er Jahren ging es vielmehr um die Wiedereingliederung, die Resozialisierung des Individuums in die Gesellschaft. Inzwischen verfolgt das Strafen wieder andere Zwecke. Moderne Strafrechtstheorien nach Christie oder Sack vertreten hinsichtlich des Begriffes Verbrechen eine gänzlich differenzierte Sichtweise (vgl. Labeling-Ansatz bei Christie 2005, S. 124; Sack 1979, S. 114-116): Das Verbrechen gibt es nicht oder eben nur, wenn eine Handlung als solche definiert wird. Folglich ist die Frage des Strafens auch anders zu sehen als bei den klassischen Theorien. Nach neueren Strafrechtskontrolltheorien wird ein gesellschaftlicher Nutzen erzielt durch die zunehmende Ausrichtung auf Prävention. Hier schieben sich vermeintlich gesellschaftliche vor individuelle Interessen oder gar Rechte. Statt originär reaktiv geht es um sog. „proaktives Strafrecht“ (verdachtsunabhängig, im Vorfeld wirkend; vgl. Singelnstein und Stolle 2012 oder Gutsche 2008.

Projekt Berlin: Arbeit statt Strafe (ASS) bzw. Gemeinnützige Arbeit statt Strafe

Ist Arbeit ein Ersatz für Strafe oder ist Arbeit eine Strafe?

An dem Schwerpunkt-Beispiel Berlin soll erläutert werden, was Arbeit statt Strafe ist: Der rechtliche Rahmen im Strafrecht (das entweder Freiheits- oder Geldstrafe als Sanktionsmöglichkeiten vorsieht), zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen sog. gemeinnützige oder freie Arbeit abzuleisten, wurde schon früher, in den 50er Jahren angelegt (s. Cornel 2002, S. 822). Selten erfolgte die Nutzung in der Praxis, erst seit 1986 geriet die Möglichkeit des Strafens bzw. Umwandlung einer Strafe von Ersatzfreiheitsstrafe in Geldstrafe wieder in den Fokus. Dieses Datum wird zumindest in der deutschen Literatur vertreten. Konträr dazu berichtet Mirko Laudon von der Einführung gemeinnütziger Arbeit seit 1975, s. Mirko Laudon in: Legal Tribune online v. 26.08.2013.

Deutsche Publikationen, wie Kawamura-Reindl, oder U. Gerken (in ZRP, 20. Jahrg., S. 386-390) beziehen sich auf die Änderung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) auf das Jahr 1986. Konkret wurde § 293 EGStGB in das reformierte Strafrecht übernommen.

Rechtlicher Rahmen

  • Gemeinnützige oder freie Arbeit zur Tilgung einer uneinbringlichen Geldstrafe nach § 293 EGStGB
  • bei Verfahrenseinstellung gem. § 153 a StPO
  • als Bewährungsauflage gem. § 56b StGB und bei Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe nach der :Hälfte der Verbüßung gem. § 57 StGB
  • Konkrete Regelungen für den Anwendungsbereich und Ausführung der freien Arbeit lt. Tilgungsverordnung Berlin (TVO, zuletzt geändert per VO v. 2004)

sowie im Jugendstrafrecht insbesondere gem. §§10 und 15 JGG und bei Diversion gem. §§ 45, 47 JGG. Im Jugendbereich heißen die vom Gericht verhängten Arbeitsstunden nicht gemeinnützige oder freie Arbeit. Sie werden als Freizeitarbeiten bezeichnet und i.d.R. in deutlich geringerem Umfang angeordnet, ca. 20-40 Std. Die Überwachung obliegt der Jugendgerichtshilfe. Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht werden die Arbeiten im Sinne des JGG als erzieherisches Mittel verstanden.

Basierend auf den genannten Rechtsgrundlagen findet der Einsatz gemeinnütziger/freier Arbeit in Berlin statt mit Unterstützung von

den Sozialen Diensten der Justiz, - Gerichts- und Bewährungshilfe -, u.a. mit sog. Frauenprojekt, das beschleunigt vermittelt

dem Einsatz zweier freier Träger (Freie Hilfe und sbH – Projektname sbH „Arbeit statt Strafe).

Ablauf

Die Zuweisung erfolgt meist über die staatsanwaltliche Beauftragung der sozialen Dienste oder eines der beiden Träger. Auf das Beispiel der Sozialen Dienste bezogen, erhält der Gerichtshelfer die Zuweisung und lädt schnellstmöglich den Klienten zum Beratungsgespräch ein. Nach Abklärung der in der Geldstrafe verhängten Tagessätze, die sich nach den Einkommensverhältnisse der Einzelnen richten, und den individuellen sozialen und ggf. beruflichen Kompetenzen, erfolgt die Vermittung in eine Einsatzstelle. Nicht jeder Geldstrafer kann in jede Einrichtung vermittelt werden, ebenso „Ersatzfreiheitsstrafer“. Je nach verübtem Delikt befindet sich der Bearbeiter in einem Abwägungsprozess, wer für welche Einrichtung geeignet ist. Bei den sozialen Diensten findet u.a. ein Abgleich der Einsatzstellen mit den Delikten statt. Einige „Arbeitgeber“, wie z.B. Kitas oder Seniorenheime haben Ausschlusskriterien für bestimmte Klientel (Gewalt-, Sexualdelikte, etc.). In Berlin gleicht ein Tagessatz (Ts) jeweils 6 Std. freier Arbeit. Je nach Bundesland bemißt sich die Ts-Höhe unterschiedlich. Der Klient erhält nach Erstellung seines persönlichen „Profilings“ seine Vermittlungsunterlagen (u.a. Zeit/Ort der Stelle, Stundenzettel über die Ableistung). Bei Besonderheiten, wie Unregelmäßigkeiten oder Konflikten mit der Stelle, wird schnellstmöglich der persönliche Berater, z.B. der Gerichthilfe oder sbH, informiert. Ggf. muss neu vermittelt werden oder Antrag auf Ratenzahlung ergehen. Bei Beendigung der Arbeitsleistung fertigt der Berater einen Abschlussbericht an die Staatsanwaltschaft. Die Arbeiten sind im Rahmen von Fristen durch die Vollstreckungsbehörde zügig zu erledigen. Bei Probanden mit Bewährungsauflagen verbleibt die Zuständigkeit beim Bewährungshelfer.

Exkurs: Baden-Würtemberg

In Baden-Würtemberg trägt ein ähnliches Projekt wie ASS den Namen „Schwitzen statt sitzen“, betreut von dem Netzwerk Straffälligenhilfe ([vgl. Erklärung des Justizministers Stickelberger v. 22.05.2013 unter http://www.dbh-online.de).]Neben der Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen wird bei solchen Projekten auf die Einsparungen bei Inhaftierungen verwiesen, hier: 150.000 Tage. Die Berechnungen der Kosten eines Hafttages divergieren, die Rede ist z.B. von 120 € (s. Mirko Laudon, in: Legal Tribune online v. 26.08.2013).

Fazit

Arbeit statt Strafe, das entweder als Projektname selbst oder als generell neue Handlungsalternative im Strafrecht gesehen werden kann, wird noch immer kontrovers diskutiert. Befürworter betonen die Vorteile sozialer Integration im Sinne des Nutzens einer Arbeit und Abgeltung von Unrecht für die Gesellschaft, aber auch durch einen geregelten Tagesablauf für den Einzelnen und den Verzicht auf den Vollzug der Ersatzfreiheitstrafe. Gegner dieses Modells widersprechen dem und Beharren auf der ursprünglichen Absicht der Vollstreckung der Ersatzfreiheitstrafe.

Letztlich bringt es Ulrich Gerkens, der eine kritische Sicht der Ersetzung der Ersatzfreiheitstrafe durch freie Arbeit vertritt, auf den Punkt:

„Fundamental ist immer noch die Erkenntnis, dass eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist.“ (in: ZRP, S. 390)

Literaturverzeichnis

  • Böhm, Alexander (1998): Gemeinnützige Arbeit als Strafe: Zu einer Gesetzgebungsinitiative des Bundesrates. In: Zeitschrift für Rechtspolitik, ZRP, 31. Jahrg., Heft 9, S. 360-365.
  • Christie, Nils (2005): Das Verbrechen gibt es nicht. In: Christie, N.: Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft? München, s. 11-26.
  • Gerken, Ulrich (2000): Ersetzung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit. In: ZRP, 20. Jahrg. Heft 11, S. 386-390.
  • Kawamura-Reindl, Gabriele/Reindl, Richard (2010): Gemeinnützige Arbeit statt Strafe. Freiburg im Breisgau. Lambertus.
  • Klier, Rudolf/Brehmer/Zinke (2002): Jugendhilfe im Jugendstrafverfahren - Jugendgerichtshilfe - Handbuch für die Praxis Sozialer Arbeit. Regensburg/Berlin: Walhalla.
  • Laudon, Mirko (2013): Ersatzfreiheitsstrafen vermeiden - Lieber im Park schwitzen, statt in Haft sitzen. In: Legal Tribune Online v. 26.08.2013.
  • Petrow, Nina (2011): Strafe ohne Schloss und Riegel: begleitete Arbeitsleistungen im Jugendstrafrecht. Marburg. Tectum-Verlag.
  • Sack, Fritz (1979): Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Sack/König (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt/M., S. 431-475.
  • Singelnstein, Tobias/Stolle, P. (2012): Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 3. Aufl.: Wiesbaden, S. 79-86.
  • Soziale Dienste der Justiz, Berlin: Handbuch VRs, Juni 2013
  • Soziale Dienste der Justiz, Berlin: Liste anerkannter Beschäftigungsgeber für freie und gemeinnützige Arbeit, Stand: 2011

Weblinks