Alternativen zur Strafjustiz

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Alternativen zur Strafjustiz werden dort praktiziert, wo Entitäten aus dem hegemonialen Staats-, Gesellschafts- und Rechtsverständis herausfallen, z.B. bei ausländischen Familien-Clans in Deutschland.

In dem Beitrag „Ich weiß, wo deine Schwester wohnt“ vom 05.04.2014 in der FAT heißt es: "Die deutschen Strafen sind ihnen zu mild, die Polizeiarbeit erledigen sie selbst, das Urteil fällt ein sogenannter Friedensrichter: Wie Familien-Clans in Deutschland das Rechtssystem untergraben. Von HELENE BUBROWSKI und ALEXANDER HANEKE"

Hier erstmal die Urversion, die auf die Reduktion aufs Wesentlich wartet:

„Gerechtigkeit kann nur von Gott kommen“, sagt Saied nach der Urteilsverkündung. „Blut muss durch Blut vergolten werden.“ Die Strafen, die deutsche Gerichte aussprechen, sind aus seiner Sicht viel zu milde. „Da darf sich keiner wundern, wenn Leute Selbstjustiz üben.“ Saied, Anfang zwanzig, steht draußen vor dem Frankfurter Landgericht. Drinnen ist gerade der Prozess gegen einen jungen Mann zu Ende gegangen, der bei einer Auseinandersetzung einen anderen Jungen mit einem Messerstich getötet hatte.

Sieben Jahre Haft nach Jugendstrafrecht hat er dafür bekommen. Ein Hohn in den Augen der Angehörigen und der Freunde des Opfers. Saied hat den ganzen Prozess verfolgt, meist saßen mehr als vierzig Freunde des Getöteten in den Zuschauerreihen des Verhandlungssaals. „Mein Bruder ist tot, und der kommt nach fünf Jahren wieder 'raus“, ruft der Bruder, der als Nebenkläger an der Verhandlung teilnimmt, während der Richter das Urteil begründet.

Saied kommt aus Afghanistan. Er trägt neue Turnschuhe und enge Jeans, dazu eine dunkelblaue Steppjacke. Von Extremisten will er nichts wissen. Gerade die Salafisten, sagt er, würden den Islam für ihren Hass missbrauchen. Die hätten nichts von der islamischen Idee verstanden. Gleichwohl: Für ihn kann es in diesem Land keine Gerechtigkeit geben.

„Wir regeln das unter uns“ Viele Muslime hierzulande wünschen sich, dass islamische Friedensrichter über Recht und Unrecht entscheiden – auf Grundlage der Scharia. Es gibt Schätzungen, wonach neunzig Prozent der Straftaten im muslimischen Milieu den deutschen Strafverfolgungsbehörden verborgen bleiben. Besonders häufig soll dies in Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen vorkommen. Die Rede ist von islamischer Paralleljustiz – ein System, das das Strafmonopol des deutschen Staates unterläuft.

„Es gibt immer mehr Muslime, die sich in eine Parallelwelt zurückziehen und den Koran als ihr Gesetz akzeptieren“, sagte Seyran Ates, Anwältin aus Berlin, auf dem Richter- und Staatsanwaltstag in Weimar. Juristen, Islamwissenschaftler und Migrationsbeauftragte diskutierten dort über das Thema „Scharia: Parallele Gesellschaft, eigene Justiz?“

Erfahrungen am eigenen Leib Ates hat am eigenen Leib erlebt, was passieren kann, wenn man sich der Macht von Clans widersetzt, die ihre eigene Rechtskultur über die des deutschen Staates setzen: Ates, selbst türkisch-kurdischer Herkunft, hat gewalttätige Angriffe und Bedrohungen durch Prozessgegner erlebt. Während ihrer Arbeit für ein Kreuzberger Zentrum, in dem türkische und kurdische Migrantinnen Schutz vor der häuslichen Gewalt finden könnten, wurde sie von dem Mann einer Klientin lebensgefährlich verletzt. Ates will nun kein Strafrecht mehr machen, nur noch familienrechtliche Fälle.

Doch auch da beobachtet sie, dass sich ein Teil der Einwanderer in Deutschland aus dem deutschen Rechtsstaat zurückzieht. „Der Mann meiner Mandantin erschien bei mir in der Kanzlei und sagte, dass er den Streit um das Sorgerecht für die Kinder auf keinen Fall vor einem deutschen Gericht austragen werde.“ Er sei bereit gewesen, eine vernünftige Regelung zu finden, berichtet Ates weiter, nur ein deutscher Richter solle sich 'raushalten. Er habe darauf gedrungen, den Sorgerechtsstreit an einen Imam heranzutragen. Zum Gerichtstermin erschien er nicht.

„Wir regeln das unter uns“ Dieser Fall ist Ausdruck der Haltung: „Wir regeln das unter uns.“ Der Journalist Joachim Wagner, Autor des Buches „Richter ohne Gesetz“, nennt weitere Beispiele: Der Clan-Chef erscheint vor einem deutschen Gericht und teilt dem verblüfften Richter mit, dass die Sache, die dieser gerade verhandelt, eigentlich in seine Zuständigkeit fällt. Außerdem: Ein Friedensrichter hat einen Haftbefehl ausgestellt, weil der Verdächtige auf der Flucht war.

Dieser Haftbefehl verpflichtet alle Mitglieder des Clans – das sind Schätzungen nach bis zu 10.000 Personen–, und befreundete Clans dazu, den Mann zu suchen. An der Costa Brava wurde er gesehen, in Berlin wurde das Foto identifiziert, er wurde nach Deutschland gebracht und vor den Friedensrichter gestellt. Die deutsche Polizei, so meint Wagner, habe nie etwas von diesem Fall mitbekommen. „Die Strafverfolgung durch die Friedensrichter ist teilweise schneller und effektiver als unsere eigene“, sagt Wagner.

28 Festnahmen nach Angriff auf Zeugen Genaue Zahlen über die Friedensrichter und Informationen über deren Aktivitäten sind schwer zu bekommen. Wer sich ihrer Gerichtsbarkeit unterstellt, redet in aller Regel nicht freiwillig mit den deutschen Behörden. Die islamischen Verbände halten sich aus dieser Diskussion bislang noch weitgehend heraus. Und für die deutschen Strafverfolger ist es schwierig, hinter die Abschottung zu schauen. „Mit verdeckten Ermittlern können wir nicht arbeiten. Denn deutsche Beamte mit Migrationshintergrund sind immer noch in der Minderheit. Und diejenigen, die es gibt, wollen auch nicht auf ihre Herkunft reduziert und nur in diesem Milieu eingesetzt werden“, sagt Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. „Auch das Abhören ist schwierig, weil die Clan-Mitglieder häufig einen türkischen oder arabischen Dialekt sprechen, für den es so gut wie keine Übersetzer gibt.“.

Welche Herausforderung das mangelnde Interesse dieser Gruppen an der deutschen Gerichtsbarkeit ist, hat der Fall von Saieds Freund vor dem Landgericht gezeigt. Dort hatten vor einigen Wochen die Bekannten des Opfers einem Zeugen nachgestellt, der zugunsten des Angeklagten ausgesagt hatte. Die Männer verfolgten den Zeugen in die U-Bahn und griffen ihn an. Zwei Polizisten konnten ihn schließlich unter Einsatz von Pfefferspray schützen. Später erkannten die Polizisten einige der Angreifer vor dem Gerichtssaal wieder; es gab 28 Festnahmen.

Nervosität am Frankfurter Landgericht Im Januar hatte im Landgericht Frankfurt ein Mann sogar zwei andere Männer aus Rache getötet. Die beiden Opfer hatten sich für den Tod des Bruders des Täters verantworten müssen und waren freigesprochen worden, da das Gericht Notwehr nicht ausschließen konnte

Seitdem ist man am Frankfurter Landgericht nervös. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft. In dem Verfahren wegen des Todes von Saieds Freund stand ein Großaufgebot der Polizei bereit. Ein Polizist vor dem Gerichtssaal erzählt, diese Eskalation sei von der Justiz kaum zu lösen. „Den Jungs geht generell der Respekt vor dem Staat völlig verloren.“ Es sei doch so, dass diese Jugendlichen Autoritäten nur innerhalb ihrer Gruppen anerkennen würden. „Da geht uns eine ganze Generation verloren.“

„Eine Wand aus Angst und Schweigen“ Auch im Gericht ist es zu tumultartigen Zuständen gekommen. Zwischenrufe störten die Verhandlungen. Dass die Situation in Frankfurt so eskalierte, ist bemerkenswert. Denn die Strafprozessordnung gibt den Richtern für solche Fälle einige Instrumente, um die Lage in den Griff zu bekommen. Ein Richter kann störende Personen sofort des Saales verweisen und die Zuhörer ermahnen, Beifalls- oder Missfallenskundgebungen zu unterlassen. Wenn der Richter für den Störer allerdings keine Respektsperson ist, laufen solche Rügen ins Leere.

Außerdem ist der Richter darauf angewiesen, dass die verordneten Maßnahmen durch Justizbeamte auch vollzogen werden. Wirksamer sind da schon die Verhängung von Ordnungsgeld von maximal 1000 Euro sowie eine Ordnungshaft von bis zu einer Woche. Und ein guter Verteidiger wird seinem Mandanten immer raten, sich selbst ruhig zu verhalten und auf seine Freunde und Angehörigen beschwichtigend einzuwirken.

„Wir haben die Macht“ Größeren Schaden können die gut organisierten Parallelstrukturen hingegen während des Ermittlungsverfahrens anrichten. Dann kann es im schlimmsten Fall dazu kommen, dass eine Anklage nicht erhoben werden kann, weil die Zeugen plötzlich schweigen oder die Opfer ihre Anzeige zurücknehmen. „Wenn Friedensrichter in einen Fall involviert sind, kann es dazu führen, dass Zeugen Erinnerungslücken entwickeln“, sagt der Berliner Strafverteidiger Dirk Lammer. „Es tut schon richtig weh, wenn wir sehen, dass monatelange Ermittlungsarbeit den Bach runtergeht, weil Zeugen nicht aussagen wollen“, sagt der Polizeigewerkschafter Rainer Wendt. „Wir sehen im Gericht die Clan-Mitglieder, die feixen und grinsen und dann rausgehen und sagen: ,Wir haben hier die Macht.‘“

In bestimmten Milieus sei es für die Polizei inzwischen sehr schwierig geworden, Zeugen zu finden. „Wir treffen bei unseren Ermittlungen häufig auf eine Wand aus Angst und Schweigen.“ Nach Einschätzung Wendts haben solche Vorfälle im Zusammenhang mit Familien-Clans deutlich zugenommen. Die Bedrohungen sind dabei meistens indirekt. „Es heißt nicht: ,Wenn du etwas sagst, bringe ich dich um‘, denn es ist bekannt, dass das strafbar ist. Es heißt: ,Ich weiß, wo du wohnst‘ oder ,Ich weiß, wo deine Schwester wohnt.‘“


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