Allgemeine Theorie der Kriminalität als kulturelle Praxis (ATKAP)

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Die Allgemeine Theorie der Kriminalität als kulturelle Praxis (ATKAP), deren Konturen von Bernd Dollinger, Matthias Rudolph, Henning Schmidt-Semisch und Monika Urban skizziert wurden, beruft sich allgemein auf den Poststrukturalismus und insbesondere auf Ernesto Laclau (und Chantal Mouffe).

Dieser Beitrag enthält eine Zusammenfassung, die Konturen und Kritiken.

Zusammenfassung

Die ATKAP hat ihren ersten Bezugspunkt in einem semiotischen Verständnis von Kriminalität: Sie wird als kulturelle Bedeutung konzipiert. Unterscheidungen zwischen Kriminalität und Kriminalisierung werden damit hinfällig, da Kriminalität nur als Sinnzuweisung existiert. Als zweiter Referenzpunkt wird die Relation von Struktur und Kontingenz beschrieben. Die ATKAP geht konsequent differenztheoretisch vor, indem Kriminalität als Prozessierung der Unterscheidung von „Kriminalität“ und „Nicht-Kriminalität“ verstanden wird. Die Vermittlung dieser Differenz wird unter Bezug auf die Diskurstheorie von Laclau bzw. Laclau und Mouffe als hegemoniale, politische Bedeutungszuschreibung interpretiert. Kriminalität fungiert als „leerer Signifikant“, der durch unterschiedliche Bedeutungen gefüllt wird. In ihn werden konfligierende Interessen eingespeist, so dass seine Bedeutung zwar nicht nichts ist, aber auch nicht fixiert werden kann. Sie ist zugleich unter- und überdeterminiert. Kriminalität repräsentiert folglich Kämpfe um Bedeutungen, die nicht stillgestellt werden können.

Konturen

Es mangelt nicht an Versuchen, eine allgemeine Theorie der Kriminalität zu formulieren. Die Autoren gehen dennoch davon aus, mit der folgenden Theorieskizze einen Entwurf vorlegen zu können, der frühere Positionen konstruktiv weiterführt.

Ihre diskurstheoretisch angelegte Skizze einer Allgemeinen Theorie der Kriminalität als kulturelle Praxis (ATKAP) stellt auf die Fragen ab, was unter Kriminalität zu verstehen ist, wie Kriminalität zustande kommt und wie aus Subjekten „Täter“ werden:

Indem wir uns auf die Hegemonietheorie von Laclau bzw. Laclau und Mouffe beziehen, gehen wir davon aus, mögliche Antworten auf diese Fragestellungen formulieren zu können. Eine entsprechende Theorieanlage muss eine gewisse historische und kulturelle Unabhängigkeit gegenüber ihrem Gegenstand entwickeln, um sich möglichst allgemein auf das jeweils historisch konkrete Konzept „Kriminalität“ beziehen zu können. Im Folgenden sei dies zunächst anhand von zwei exponierten, international breit diskutierten Theorievarianten skizziert:

a) Den international bekanntesten Entwurf einer Allgemeinen Kriminalitätstheorie legten Gottfredson und Hirschi (1990) vor. Sie kritisieren positivistische Traditionen der Kriminologie und unternehmen im Gegenzug den Versuch, eine von kulturellen und politischen Zuschreibungen unabhängige und in diesem Sinne „Allgemeine“ Theorie der Kriminalität vorzulegen.

Kriminalität verstehen sie als Verhalten, das auftritt, wenn geeignete objektive Gelegenheiten vorhanden sind, das aber vor allem auf Persönlichkeiten verweist, die über eine nur geringe Selbstkontrolle verfügen. Diese Konzentration auf defizitäre Selbstkontrolle als Kernelement jeder kriminellen Handlung mag einige Formen als „kriminell“ identifizierter Sachverhalte mehr oder weniger plausibel beschreiben. Ihr Anliegen, eine allgemeine Kriminalitätstheorie zu formulieren, können Gottfredson und Hirschi mit diesem Ansatz jedoch nicht erfolgreich einlösen, da „Selbstkontrolle“ ihrerseits ein positivistisches Konzept ist, das spezifischen kulturellen, historisch etablierten Sichtweisen folgt und TäterInnen als nur kurzfristig planungsfähige Hedonisten diskreditiert.

Wir teilen daher die Einschätzung von Kunz (2011, 154), dass man eine solche „atemberaubende Vereinfachung“ einer komplexen Realität eher in der „bebilderten Journaille als in einem international viel beachteten wissenschaftlichen Werk“ erwarten würde.

Nicht teilen können wir jedoch Kunz‘ Hinweis, entsprechende Probleme einer Über-Simplifizierung beträfen allgemeine Kriminalitätstheorien prinzipiell, da sie nach „gemeinsamen Merkmalen“ von Kriminalität suchten, nur wenige Erklärungsvariablen beachteten und „einfache und konstante Abhängigkeitsbeziehungen annehmen“ (ebd.) müssten.

Zwar muss eine allgemeine Kriminalitätstheorie tatsächlich gemeinsame Merkmale von Kriminalität er- schließen und sie sollte wenige, plausible Faktoren berücksichtigen, aber sie muss nicht zwangsläufig von Konstanz oder klaren Abhängigkeiten ausgehen.

So ist es u.E. ausgeschlossen, die heterogenen, strafrechtlich inkriminierten Tatbestände auf einen gemeinsamen Nenner der Kriminalitätsbegehung zu beziehen, denn was sollte in dieser Hinsicht z.B. komplexe Wirtschaftskriminalität mit situativ bedingter Gewalt, was sollten Delikte im Straßenverkehr mit der Verunglimpfung des Bundespräsidenten oder dem Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie gemeinsam haben?

Die Idee, derartig Unterschiedliches mit der unzureichenden Selbstkontrolle einzelner TäterInnen oder überhaupt mit einer spezifischen, distinkten Motivations- oder Lebenslage von Delinquenten erklären zu können, ist nicht realistisch.1 Die Tatbestände des (historisch jeweils aktuellen) Strafrechts haben nichts gemeinsam – außer der Tatsache, dass sie verboten sind. An dieser Stelle muss eine allgemeine Kriminalitätstheorie ansetzen: Kriminalität ist eine Bedeutung, die Handlungen und den für sie verantwortlich gemachten Personen zugeschrieben wird; Kriminalität ist Kriminalisierung.

Dieser Sachverhalt fordert ein semiotisches Kriminalitätsverständnis ein, das Kriminalität als Sinnzuweisung identifiziert, wobei diese Sinnzuweisung zugleich beinhaltet, dass eine Differenz gesetzt wird, indem zwischen „Kriminalität“ und „Nicht-Kriminalität“ unterschieden wird.

Als zweiten Bezugspunkt wählen wir die „cultural criminology“, da sie diese Differenzsetzung betont, indem sie Kriminalität als Feld kultureller Auseinandersetzungen in den Blick nimmt. Kriminalität verweise auf einen andauernden Kampf um Bedeutungen (vgl. Ferrell 2007).

Die entsprechenden Konflikte sind, wie Hayward und Young (2012, 124f) ausführen, nicht als Auseinandersetzungen um eine positiv oder vordiskursiv gegebene Form von Kriminalität zu verstehen, sondern Kriminalität wird in diesen Konflikten als Praxis konstituiert.

Kriminalität wird damit konsequent als Kriminalisierung im Sinne einer umkämpften Bedeutungszuschreibung und einer permanenten Verhandlung um die Gültigkeit von Etiketten der Kriminalität sowie ihrer jeweils unterschiedlichen Nutzung durch eigensinnige Akteure bestimmt. Auf diese Weise wird aus der Tradition des „labeling approach“ die Qualität der Zuschreibung und aus der Tradition der Cultural Studies ein Begriff von Kultur übernommen, der sie als kreativen Umgang mit gesellschaftlichen Sinnangeboten konzipiert. Diese Sinnangebote werden zwar unterschiedlich verwendet, sie sind aber zugleich in gesellschaftliche Struktur- und Herrschaftsbedingungen eingelassen.

Indem dies anerkannt wird, ist die Position der Cultural Criminology wesentlich näher an unserem Anliegen als der Theorieversuch von Gottfredson und Hirschi. Zugleich aber lässt sich aus der Cultural Criminology ein Theorieproblem destillieren, das auch in verschiedenen Varianten einer Kritischen Kriminologie von zentraler Relevanz ist (vgl. Dollinger 2010), und zwar das Problem der Vermittlung von Struktur und Kontingenz: Im Falle der Cultural Criminology stehen Hinweise auf kreative und eigensin- nige kulturelle Praxen neben Hinweisen auf die gesellschaftlichen Strukturbedingun- gen einer „late modernity“ (Ferrell u.a. 2008, 56ff). Vergleichbar „klassischer“ sozialwissenschaftlicher Theorie wird dadurch eine Dichotomisierung von sozialer Struktur und kreativer Subjektivität kommuniziert; es werden bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse als gegeben gesetzt, die die Subjekte durch subversive bzw. transgressive Akte zu kontrastieren suchen (vgl. Young 2003). Im Rahmen anderer Kriminalitäts- theorien wurde mit vergleichbarer Argumentationsform versucht, Etikettierungsthesen und marxistische Gesellschaftstheorien zu vermitteln (im Überblick vgl. Boogaart/Seus 1991; Lamnek 2008, 15ff; Pfohl 1994) und es wurde frühzeitig auf Probleme entsprechender Argumentationen hingewiesen (etwa Schumann 1974).

Wir nehmen die breiten Debatten um entsprechende Versuche auf, indem wir auf das Kernproblem des „ontological gerrymandering“ (Woolgar/Pawluch 1985) hinweisen. Gemeint ist das Jonglieren mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Programmen und Positionen. Im Falle von Labeling und Gesellschaftsstruktur bedeutet dies: Die Annahme einer gegeben Struktur kontrastiert mit der im Etikettierungsansatz enthaltenen Pointe von Kontingenz als Grundlage der Rede von Kriminalität (vgl. Peters 2012, 228).2 Wird demgegenüber Kontin- genz für die Rede von Kriminalität anerkannt, so ist dies gleichfalls auch für die Thematisierung von Gesellschaft zu respektieren, denn es gibt keine Einigkeit darüber, was Gesellschaft ist oder in welcher Gesellschaft wir leben – auch nicht in der Soziologie als Referenzwissen- schaft. Die Unterstellung einer spezifischen, positiven bzw. prädiskursiven Form der Gesellschaft wird dem faktischen Dissens nicht gerecht (vgl. hierzu Moebius/Reckwitz 2008; Stäheli 2000). Vielmehr koexistieren sehr unterschiedliche Gesellschaftsbilder, und Kriminalitätsdiskurse sind Orte, an denen über ihre Legitimität verhandelt wird. Zwar wird über die Legitimität von Gesellschaft nicht nur in Kriminalitätsdiskursen verhandelt, aber in ihnen finden diese Verhandlungen einen prononcierten, mit Verhaltensimperativen und negativen Sanktionen bis hin zu dauerhaften Ausschließungen assoziierten Platz: Hier wird bestimmt, wer mit gutem Gewissen aus dem Kreis der Legitimen ausgegrenzt werden soll, wer Resozialisie- rungschancen erhält und wer mit Nachsicht behandelt werden soll (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998). Die vielfältigen und widersprüchlichen Positionen, von denen aus eine Faktizität von Gesellschaft konstatiert wird, werden (auch) in Kriminalitätsdiskursen auf einen Nenner gebracht.

Aber dieser Nenner muss fiktiv bzw. unterbestimmt bleiben, da die Differenzierung von „Kriminalität“ versus „Nicht-Kriminalität“ nicht stabilisiert werden kann (s. Punkt 2.1). Allerdings kann und sollte gerade die Unmöglichkeit, eine eindeutige und alternativlose Rede von Gesellschaft zu stabilisieren, zum kriminologischen Erkenntnisgegenstand werden, indem Projektionen und Bilder gesellschaftlicher Ordnung rekonstruiert werden, die in Kriminalitätsdiskursen zum Tragen kommen. Von hier aus kann auf diskursive Positionen rückgeschlossen werden, die spezifische Forderungen – z.B. hart mit Kriminalität umzugehen oder eine rationale Kriminalpolitik zu verfolgen – als (vermeintlich) plausibel und alternativ- los vertreten und sich ihrerseits durch entsprechende diskursive Artikulationen konstituieren (vgl. hierzu Laclau 2005, 72ff). Kriminalitätsdiskurse beinhalten in diesem Sinne hegemoniale Vorstellungen, gewissermaßen Imperative gesellschaftlicher Ordnungsbildung. Aber Hegemonie entspringt nicht der Fabrik, und sie ist auch nicht kausal auf andere gesellschaftliche Strukturbedingungen zurückzufüh- ren, die Form und Inhalt einer hegemonialen Konstellation garantieren könnten. Sie verweist weniger auf eine gegebene Faktizität von Gesellschaft als auf diskursive Vergewisserungsver- suche, in denen über die Verfasstheit von Gesellschaft gerungen wird (z.B. Bogner 2012; Schimank/Volkmann 2000).

3 Es liegt deshalb nahe, die so beschriebene Kontingenz konsequent auszubuchstabieren und sie zur Grundlage einer Kriminalitätstheorie zu machen. Dies jedoch als eine Grundlage, die sich entzieht, die gewissermaßen einer „Ent-Gründung“ entspricht und die damit objektivistische Positionsbestimmungen vermeidet: Es handelt sich um eine Gründung, die „nicht länger auf einen Grund zurückverweist, der als Ableitungsprinzip fungieren würde“ (Laclau 2007a, 120).

Es geht um eine Basis bzw. einen Ursprung, der nicht als Basis oder Ursprung fungieren kann und der dennoch als Referenzpunkt erhalten bleibt (vgl. Derrida 1983, 107f). Kriminalität, so könnte man dies im Rekurs auf Derrida beschreiben, wird „im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung“ (ebd., 108) beschrieben, da die unterstellte Differenz von Kriminalität und Nicht-Kriminalität nicht auf einer wie auch immer zu verstehenden Natur der Sache beruht, sondern auf Konventionen und Redeweisen Bezug nimmt, die auch anders möglich wären und die in sich nicht eindeutig sind. Die meisten Kriminali- tätstheorien argumentieren anders: Sie konstruieren einen Grund, indem sie sich entweder (ätiologisch) auf Kriminalitätsbegehung beziehen oder (kritisch) auf Kriminalisierung; dabei 3 „Für den Begriff der Gesellschaft bedeutet die diskursive Verfasstheit des Sozialen vor allem, dass es keinen Sinn gibt, von der Gesellschaft in objektiver Weise zu sprechen (...) Es existieren andauernde und andauernd scheiternde Prozesse der Vergesellschaftung und verschiedenste, fragile, einander häufig gegenseitig beeinflus- sende gesellschaftliche Formierungen. Doch die Gesellschaft gibt es ebenso wenig wie den Diskurs“ (Nonhoff 2007a, 9f).

Negieren sie allerdings die Kontingenz des jeweils eingenommenen Ausgangspunktes. Wir gehen demgegenüber davon aus, dass mit Kriminalität eine Differenz gesetzt wird, und folgern hieraus zwei weiterführende Aspekte:

  1. Erstens ist zwischen einem allgemeinen und einem integrativen Theorieanspruch zu un- terscheiden. Es ist u.E. unmöglich, eine integrative Theorie zu formulieren, da nicht ein- mal Einigkeit darüber besteht, was Kriminalität ist. Angesichts dieses Dissenses können höchstens – wie wir dies nachfolgend partiell unternehmen – einige ähnliche Elemente von Theorien zusammengebracht werden;4 eine nachhaltige Integration verschiedener Theorien erscheint jedoch ausgeschlossen. Allgemeingültig ist jedoch, dass Kriminalität Kriminalisierung ist, denn ohne diese Bedeutungszuweisung und die durch sie angespro- chene Differenzsetzung von „Kriminalität“ und „Nicht-Kriminalität“ könnte nicht von Kriminalität gesprochen werden; sie würde nicht existieren. Auf diese Differenz zu rekur- rieren, kann folglich allgemeinen Anspruch erheben; hier liegt der Ausgangspunkt für eine Allgemeine Kriminalitätstheorie.
  2. Zweitens müssen Setzungen sehr vorsichtig vorgenommen werden. Gänzlich ohne sie kann man zwar nicht auskommen, und auch wir nehmen Setzungen vor, indem wir von Differenzen und ihrer diskursiven Vermittlung ausgehen. Diese Setzungen sind u.E. plausibel zu rechtfertigen, da sie reflexiv auf die eigene Theorie zurückverweisen, indem diese sich als Differenz gegenüber anderen Positionen und Teil eines Diskurses zu Kriminalitätstheorien versteht.

Starke Setzungen hingegen – im Sinne von: „Die Gesellschaft ist...“ oder: „Man wird kriminell, weil...“ – sind demgegenüber in deutlich höherem Maße erklärungsbedürftig. Sie erkennen Kontingenz nur partiell an und verkennen die Nicht-Gründbarkeit ihrer zentralen Theorieelemente.

Kriminalität als kulturelle Praxis


Im Folgenden unternehmen wir eine Konkretisierung des bisher Gesagten, indem wir drei unserer Einschätzung nach zentrale Fragen für eine Allgemeine Kriminalitätstheorie bearbeiten.

Was ist Kriminalität? (2.1) Wie wird Kriminalität hergestellt? (2.2) Wie sind Subjekte in die Hervorbringung von Kriminalität involviert? (2.3)

Zwar wird mit diesen drei Fragen nur ein Teilbereich relevanter Themen angesprochen, und auch die jeweiligen Antworten können hier nur angerissen werden. Gleichwohl soll eine Theorieskizze gezeichnet werden, die eine spezifische Verortung hinsichtlich dieser kriminologisch zentralen Fragen leistet. 
Die nachfolgenden Ausführungen nehmen v.a. Bezug auf interaktionistische und diskurstheoretische Positio- nen; speziell in Bezug auf kriminologische Theorietraditionen werden Labeling-Ansätze im Rahmen einer post- strukturalistischen Hegemonietheorie weitergeführt.
 Entsprechend gehen wir auch nicht von einer Unterscheidung von Makro- und Mikro-Ebenen aus (z.B. Hess/Scheerer 1997), da mit dieser Unterscheidung zwar verbundene, aber (relativ) eigenständige und objektiv sortierbare Gesellschaftslagen vermutet werden. Wir versuchen im Gegenzug, unsere Argumente analog zu La- tour (2007) „flach“ zu halten und von unmittelbar Gegebenem auszugehen. Das bedeutet für uns, Diskurse zu thematisieren, in denen Differenzen prozessiert werden.

Kriminalität als „leerer Signifikant“

Kriminalität als Differenzbehauptung zu verstehen, bedeutet einerseits, dass sie nicht positiv bestimmt werden kann; andererseits ergibt sich, dass im Rahmen von Kriminalitätsdiskursen tentativ festgelegt wird, was Kriminalität ist und welche Handlungen (oder Unterlassungen) als „nicht-kriminell“, „konform“ etc. zu gelten haben (vgl. Garland 1993, 268). Indem Krimi- nalitätsdiskurse gleichermaßen auf Devianz und Konformität abstellen, ist die Grenze des „Nicht-Kriminellen“ keine Grenzlinie zum Kriminalitätsdiskurs und ihm damit äußerlich, sondern eines seiner Elemente. Foucault (1998) hatte in diesem Sinne folgerichtig konstatiert, dass die Art und Weise, wie mit Kriminalität umgegangen und wie sie thematisiert wird, als charakteristisch für soziale Prozesse insgesamt betrachtet werden kann. Er legte jedoch kein theoretisches Instrumentarium vor, mit dem die Art und Weise aufgeschlossen werden kann, wie sich entsprechende Diskurse organisieren und es möglich wird, dass aus dem von ihm festgestellten Gewimmel an Diskursen einzelne eine dominierende, hegemoniale Bedeutung gewinnen. Im Rekurs auf Laclau (2007a) bzw. Laclau und Mouffe (2006) lassen sich diese Prozesse he- gemonietheoretisch konzipieren.6 Mit ihnen ist davon auszugehen, dass die Grenzbestimmung von Kriminalität und Nicht-Kriminalität Teil von Kriminalitätsdiskursen ist, so dass diese Diskurse bestimmen, was sie vermeintlich als gegeben voraussetzen, nämlich eine spezifische Qualität von Kriminalität im Vergleich zu Nicht-Kriminalität. Es wird unterstellt, es sei mög- lich zu beschreiben, wo die entsprechende Grenzlinie verläuft, obwohl diese permanent dis- kursiv neu orientiert wird. Die Pointe hierbei ist nicht, was bereits den Arbeiten zum Labeling Approach zu entnehmen ist, nämlich dass Kriminalität zugeschrieben und jeweils neu verhan- delt wird. Entscheidend ist das Scheitern der Bestimmung von Kriminalität. In diskurstheore- tischer Perspektive müsste eine eindeutige Bestimmung von Kriminalität voraussetzen, dass Kriminalitätsdiskurse gleichsam stillgestellt werden können, damit jedes Element in ihnen „seinen“ zweifelsfreien Ort findet. Es müsste hierzu eine eindeutige Grenze von Kriminalität und Nicht-Kriminalität geben, die diskursiv lediglich repräsentiert wird; in den Worten von Laclau und Mouffe (2006, 161ff) müsste es einen repräsentierbaren „Antagonismus“ geben. Allerdings hatten wir oben bereits festgestellt, dass die Trennung von Kriminalität und Nicht- Kriminalität diskursiv konstituiert wird; ihre Grenze verläuft im Inneren der Kriminalitätsdis- kurse. Diese Diskurse enden demnach nicht dort, wo sie behaupten (nämlich an der Grenze der Bearbeitung von Kriminalität), sondern sie definieren, um Kriminalität zu konstituieren, ein „Anderes“, außerhalb ihrer Grenzen Liegendes („Nicht-Kriminalität“, „Konformität“, „Normalität“ usw.). Wenn dieses Andere jedoch im Inneren von Kriminalitätsdiskursen situ- iert ist, kann es nicht Außen liegen und den Kriminalitätsdiskurs fixieren. Deshalb sprechen Laclau und Mouffe (2006, 165) von einem Antagonismus als „Zeuge der Unmöglichkeit“, Diskurse zu schließen und zu fixieren. Es gibt keine „wirkliche“ äußere Grenzlinie, in diesem Fall von Kriminalitätsdiskursen. Sie sind darauf angewiesen, Unterscheidungen zu treffen, in denen Vorstellungen vom „normalen“, „richtigen“ bzw. „konformen“ Leben zum Tragen kommen, ohne dass diese Vorstellungen objektiv und zweifelsfrei feststünden. Hierauf verweist Laclaus (2007b, 28) Rede von einer „Spur des Nicht-Repräsentierbaren im Repräsen- tierbaren“, denn der Antagonismus bleibt ebenso unmöglich wie anwesend.

Da in Kriminalitätsdiskursen nicht nur über Kriminalität, sondern auch über die Differenz zu Nicht- Kriminalität und deren Wesen verhandelt wird, muss der Versuch, Kriminalität zu repräsentieren, scheitern. Angesichts heterogener Lebens- und Handlungsentwürfe und der zahlreichen Möglichkeiten, sie zu klassifizieren, ist es lediglich möglich, partikulare Vorstellungen von „falschem“ und „richtigem“ Verhalten anzugeben, die sich als Differenz von Kriminalität und Nicht-Kriminalität im Sinne einer universalistischen Grenzbestimmung ausgeben. Wenn eindeutige und alternativlose Bestimmungen von Kriminalität und Nicht-Kriminalität nicht möglich sind, ist nichts anderes als eine partikulare, sich zum Universalismus aufschwingende Differenzbestimmung möglich. Durch sie wird Allgemeingültigkeit simuliert, während alter- native Positionen unterdrückt werden (vgl. grundlegend Wullweber 2012, 45).

Laclau (2005, 70) nutzt dies zur Bestimmung von Hegemonie: „one difference, without ceasing to be a par- ticular difference, assumes the representation of an incommensurable totality. In that way, its body is split between the particularity which it still is and the more universal signification of which it is the bearer. This operation of taking up, by a particularity, of an incommensurable universal signification is what I have called hegemony.”

Kriminalität ist, wie wir oben beschrieben hatten, lediglich eine Differenzsetzung. Wir können nun hinzufügen, dass diese Grenzsetzung in dem Sinne unmöglich ist, dass sie nicht (ein-deutig) begründet werden kann, da ein tatsächliches „Außen“, ein Antagonismus von Kriminalitätsdiskursen, nicht existiert und deren Schließung – und damit eine Fixierung der Bedeu- tung von Kriminalität – nicht gelingen kann. Alternative Identifikationsmöglichkeiten bleiben jederzeit denkbar und bedrohen hegemonialisierte Kriminalitätsdiskurse. Da der unmögliche Grund jedoch präsent bleibt und diskursiv verhandelt wird – weshalb wir oben von seiner Anwesenheit als „Spur“ gesprochen hatten (vgl. auch Dollinger 2010, 206ff) –, kann auf ihn Bezug genommen werden, um dauerhafte Hegemonie anzustreben. Es können gewissermaßen Einigungen realisiert werden, denen zufolge bestimmte Haltungen oder Taten nicht akzepta- bel sind und sanktionsbehaftet sein sollten, indem man sich von ihnen distanziert. Betrachten wir dies an einem Beispiel: Man muss sich nicht im Einzelnen darauf verständigen, in welcher Gesellschaft man leben möchte, wenn man sich darauf einigt, dass die willentliche Tötung anderer Menschen nicht toleriert werden darf. Gegenüber einer derartigen, negativen Bestim- mung können sich unterschiedliche Positionen, pointiert ausgedrückt, schnell einig werden. Diese Positionen sind dem Tötungsverbot gegenüber äquivalent; sie stützen es und sind folg- lich in dieser Hinsicht gleichwertig, wie unterschiedlich sie auch ansonsten sein mögen. Allerdings handelt es sich um eine dürftige Bestimmung, da sie „nur“ eine Abgrenzung vornimmt, keine positive Bestimmung einer Gemeinsamkeit.

Gegenüber der Vielzahl möglicher Unterscheidungen des sozialen Lebens leistet eine derartige Logik der Äquivalenz lediglich „eine übergreifende, notwendig simplifizierende Identifizierung“ (Reckwitz 2008, 77; hierzu Laclau/Mouffe 2006, 167ff).

Kriminalität ist in diesem Sinne sparsam definiert, aber dies ist eine zentrale Eigenschaft, da sie es erlaubt, Bestimmungen vorzunehmen, die scheinbar trivial und doch so voraussetzungsvoll sind, dass sie unmöglich sind: Sie sind einerseits trivial, da die Logik der Äquiva- lenz kaum Aussagen trifft; „wir“ können „uns“ bspw. relativ einfach darauf einigen, die willentliche Tötung anderer Menschen als kriminell zu definieren.

Andererseits ist diese Bestimmung aber zu voraussetzungsvoll, da unmittelbar deutlich wird, dass „wir“ „uns“ nur schein- bar auf ein „Wir“ geeinigt haben, indem „wir“ Tötung verboten haben. Dies wird anhand der Fälle einsichtig, bei denen die Eindeutigkeit des Tötungsverbots oder entsprechender Sanktionen in Frage steht, etwa im Falle von Notwehr, Kriegseinsätzen, Abtreibung, Tötung im Zu- stand einer psychischen Ausnahmesituation usw. Handelt es sich jeweils um Kriminalität? Oder im Kriegsfall um einen Verdienst, für den man einen Orden erhalten sollte? Oder bei Abtreibung um die legitime Entscheidung einer Frau, die aus persönlichen Gründen kein Kind möchte? Oder bei psychischen Sondersituationen um Fälle für die Psychiatrie und nicht für das Strafrecht? Was zunächst eindeutig erschien, erweist sich nun als gänzlich unklar, da „unsere“ Einigung nur oberflächlich war, und es nicht einmal eine Tiefenebene gibt, auf der „wir“ „uns“ verständigen könnten. Das „Wir“ wurde nur simuliert, indem „wir“ im Strafrecht darüber bestimmten, wer „wir“ sind. Dennoch bleiben „wir“ bei der Rede von Kriminalität stets präsent.

Diese Spezifik gilt nicht nur für das Beispiel der Tötung, sondern insgesamt für Kriminalität: Sie sagt zugleich vieles und (beinahe) nichts aus. Möglich sind nur partikulare Bestimmungen von Kriminalität, die politisch verhandelt und strafrechtlich verankert, in diesem Sinne hege- monialisiert werden. In den Worten von Laclau und Mouffe handelt es sich bei Kriminalität um einen „leeren Signifikanten“, denn er ist gleichzeitig bedeutungstragend und bedeutungs- leer, also unter- und überdeterminiert. Kriminalität fungiert als Konsensfiktion, während mit dem Hinweis, etwas sei „kriminell“, keine Aussage über den Sachverhalt möglich ist (außer, dass er verboten ist, was nur eine Differenz, aber keine Positivität anspricht). So führt z.B. erst die Definition, der Konsum von Kokain, der Diebstahl eines Autos oder das Töten eines anderen Menschen seien „kriminell“, dazu, ihnen – als Kriminalität – eine scheinbare Gemeinsamkeit zuzusprechen, während sie ansonsten nichts gemeinsam haben. In diesem Sinne ist der Signifikant Kriminalität unterdeterminiert, d.h. nicht eindeutig bestimmt. Er ist jedoch auch überdeterminiert, da er zahlreiche partikulare Bedeutungsgehalte transportiert, die ihn gleichsam mit zu viel Sinn ausstatten (vgl. Garland 1993, 280f): Es existieren heterogene Interessens- und Professionsgruppen, die von Kriminalität in ihrem Sinne sprechen, und auch in Alltag und Massenmedien ist häufig und auf sehr verschiedene Art und Weise von Kriminalität die Rede.

Laclau und Mouffe (2006, 181) bezeichnen eine Überdeterminierung deshalb als Bildung eines Verdichtungspunktes, der „zum Brennpunkt einer Vielzahl totalisierender Effekte“ wird. Der durch Überdeterminierung gebildete leere Signifikant wird durch diese Verdichtung stabilisiert, Prozesse der Unterdetermination höhlen diese Stabilität jedoch aus. Hegemonien bleiben brüchig. Ob (und in welcher) Form Abtreibung verboten, der Konsum von Kokain nicht doch tolerierbar, Diebstahl nicht eher eine Ordnungswidrigkeit als Kriminalität darstellt – all diese und weitere Fragen bleiben strittig. Kriminalität muss jeweils als sinntra- gender Signifikant justiert werden, indem Konsensbildungen vorangetrieben und heterogene Positionen äquivalent gemacht werden.

Man kann diese Praxis der Äquivalenzbildung „Kriminalpolitik“ nennen. Sie hat damit zu ringen, dass Konflikte hinsichtlich des Umgangs mit Kriminalität nicht fixiert werden können. Im Rahmen von Kriminalpolitik wird darüber entschieden, wie Kriminalität definiert wird, welche Ressourcen bereitstehen und welche Umgangs- und Verfahrensweisen mit „Kriminellen“ institutionalisiert werden. Der implizite Referenzpunkt dieser Konflikte und Debatten bleiben „wir“ als fiktive Größe, die im Strafrecht adressiert wird, ohne sich faktisch konstitu- ieren zu können. Der entsprechende Konflikt ist „der eigentliche Modus der Politik“ (Nonhoff 2007a, 11f). Nicht nur die Definition von Kriminalität, sondern auch die – formelle oder in-formelle – Anwendung entsprechender Labels ist politisch, da mit den Etiketten Vorschriften verknüpft sind, wer „wir“ sind – und wer nicht, oder gerade noch, zu „uns“ gehört.

Die „Herstellung“ von Kriminalität

Da Kriminalität als hegemoniale kulturelle Praxis instabil ist, müssen ihr permanent Bedeu- tungen eingeschrieben werden. Dies erklärt die hohe Relevanz von symbolischer Politik, Me- taphern und Überzeugungsarbeit, durch die sich Kriminalpolitik und insgesamt die Rede von Kriminalität auszeichnen (vgl. Garland 1993; Watts u.a. 2008, 107ff). Wir können an dieser Stelle nicht die Debatte um ein „symbolisches Strafrecht“ rekonstruieren (z.B. Hassemer 1989; Röhl 2009; Sack 2011), weisen allerdings auf die prinzipielle symbolische Verfasstheit kriminalpolitischer Diskurse hin. Sie verbindet sich mit einem hohen „Rechtfertigungsbedarf kollektiv verbindlicher Entscheidungen“ (Hiebaum 2012, 254). Kriminalpolitik muss in be- sonderer Weise öffentlich plausibel gemacht werden, da sie strittig ist, da mit dem Strafrecht nachhaltig in das Leben von Menschen eingegriffen werden kann und da angesichts des (weitgehenden) staatlichen Gewaltmonopols im Kontext des Strafrechts stets (auch) über die Legitimität politischer Instanzen und Personen verhandelt wird (vgl. im Einzelnen Lange 2008).

Betrachten wird die Füllung bzw. Re-Justierung des leeren Signifikanten „Kriminalität“ an einem Beispiel, der jüngst politisch kontrovers geführten Debatte um den – bereits begrifflich hochgradig symbolisch aufgeladenen – „Warnschussarrest“ (vgl. auch Dollinger 2012).8 Aus kriminologischer Sicht wurde der Ausbau des Arrests weitgehend konsensuell als „Irrweg“ (Kreuzer 2012, 2) beschrieben.

Hohe Rückfallquoten des Arrests und das Problem, dass die Ausgestaltung der in einer totalen Institution zu verbringenden Arrestzeit kaum plausibel als „erzieherisch“ bezeichnet werden kann, erschweren es erheblich, den Arrest mit dem Erzie- hungsbedanken bzw. der Vermeidung von Rückfällen (gem. § 2 Abs. 1 JGG) in Einklang zu bringen. Strafverschärfungen, wie sie der Warnschussarrest mit sich bringt, gelten als nicht produktiv zur Resozialisierung Jugendlicher (vgl. Heinz 2008). Aber im Rahmen politischer Debatten ist Wissenschaft nur eine Partei neben anderen. Wenn politische Akteure auf wis- senschaftliche Befunde Bezug nehmen, erfolgt dies auf der Grundlage politischer, nicht wis- senschaftlicher Interessen.


Parlamentarische Debatten sind ein exponierter Ort für die Begründung und Darstellung entsprechender Reformen; die Debatten sind dabei nicht in der Funktion zu sehen, politische Gegner durch Argumente zu überzeugen, sondern richten sich vorrangig an eine breitere Öffentlichkeit (vgl. Wagner 2006). Sie suchen, im Falle der Kriminalpolitik, Deutungen von Kriminalität und bestimmte Umgangsformen mit ihr verbindlich zu machen, um in spezifischen Öffentlichkeiten Zustimmung zu mobilisieren.

Dies ist, wie beschrieben, durch die Etablierung von Äquivalenzen möglich, indem Positionen durch diskur- sive Ausschließungen temporär vereinheitlicht werden. Ein kriminalpolitischer Alleingang, der sich von etablierten kriminalpolitischen Traditionen absetzt oder der keine Rücksicht auf die Mobilisierung öffentlicher Zustimmung nimmt, könnte dies nicht leisten. Im Fall des Warnschussarrests war das Resultat ein prekärer Balanceakt, der sowohl eine Strafverschär- fung begründen wie auch einen Appell an rationales Handeln und den Erziehungsgedanken umfassen sollte. Eine nicht nur unterschwellige Botschaft der Befürworter des Warnschussar- rests verwies auf eine Bedrohung, auf die durch „hartes Durchgreifen“ v.a. gegen „Intensivtä- ter“ reagiert werden sollte. Die sich dergestalt artikulierenden politischen Akteure traten als Beschützer einer in der Debatte performativ angerufenen Allgemeinheit auf. Aber wer für ein unnachgiebiges Bestrafen von Jugendkriminalität votiert, steht in der Gefahr, sich nicht nur im kriminologischen Fachdiskurs, sondern auch in wesentlichen Teilen der Öffentlichkeit zu diskreditieren, zumal diese Öffentlichkeit in Deutschland zumindest nicht insgesamt sehr pu- nitiv gestimmt ist (vgl. Reuband 2011) und zuvor eine politische Wahlkampagne zur Ver- schärfung des Jugendstrafrechts gescheitert war (vgl. Funke 2008). Zudem kritisierten selbst der Rechtsausschuss des Bundestages, der Ausschuss für Frauen und Jugend sowie der Finanzausschuss die Reform (vgl. BR-Drucksache 2012). Das Risiko, durch Forderungen nach einer Strafverschärfung selbst negativ tangiert zu werden, war demnach nicht gering, aber es ließ sich begrenzen, indem die Strafverschärfung nicht nur als Strafverschärfung kommuniziert wurde, sondern als konsequente Weiterentwicklung des bereits etablierten Erziehungs- begriffs. Der Titel des Gesetzes lautete entsprechend: „Gesetz zur Erweiterung der jugendge- richtlichen Handlungsmöglichkeiten“. Es wurde darauf insistiert, mit ihm nicht einen Para- digmenwechsel zu unternehmen, sondern im Jugendstrafrecht eine „Lücke“ (BR- Plenarprotokoll 2012, 330) zu füllen. So seien die Reformen, wie ihre Unterstützer mitteilten, zwar hart, aber konsequent, und sie fielen noch moderat aus, da rigidere Maßnahmen möglich gewesen wären (so in BT-Plenarprotokoll 2012, 20943).

Da der Erziehungsbegriff des Jugendstrafrechts eine weitgehend unbestimmte „Chiffre darstellt“ (Cornel 2011, 455), sind derartige diskursive Manöver ohne weiteres möglich. „Erziehung“ appelliert an einen verantwortungsvollen, wertorientierten Umgang mit jungen Men- schen, die – scheinbar – nicht nur weggeschlossen werden sollen; wer sich um die „Erzie- hung“ junger Menschen sorgt, stellt sich als Akteur dar, der sowohl die Gesellschaft wie auch die jungen Menschen selbst im Blick hat. Und indem er entsprechend positioniert ist, kann er sehr unterschiedliche Maßnahmen begründen; er kann „Erziehung“ als Gegenwirkung und Disziplinierung wie auch als besorgte Zuwendung auslegen. Befürworter des Warnschussar- rests konnten deshalb nicht zu Unrecht betonen, es ginge ihnen nicht um einen „Widerspruch zum Primat des Erziehungsgedankens“ (BR-Plenarprotokoll 2012, 331). Es komme vielmehr auf „der Klaviatur, auf der der Jugendrichter spielen kann, (...) eine Taste hinzu“ (BT- Plenarprotokoll 2012, 20943). Durch diese besonderen Symbolisierungen wird zwar nicht geklärt, was Erziehung im Kontext von Jugendkriminalität tatsächlich ist, aber es wird signalisiert, dass der Sprecher Delinquenz als Erziehungsproblem thematisiert.

Er verortet sich da- mit in der – nachhaltig durch harte Maßnahmen geprägten (vgl. Peukert 1986; Weyel 2008) – Tradition des deutschen Erziehungs-Jugendstrafrechts. Aktuell, so wird kommuniziert, bedürften jugendliche Delinquente zu ihrer Erziehung nicht nur oder nicht vorrangig wohlwol- lender Zuwendung, sondern harter Konfrontation durch erweiterte Optionen der Arrestierung. Ordnung soll gesetzt und durchgesetzt werden, wo bisher scheinbar zu nachsichtig agiert worden sei. Die projektierte soziale Ordnung ist damit eine der konfrontativen Ausgrenzung, die zwar hart ist, aber auch Chancen einräumt, solange sich ein Delinquent disziplinieren und abschrecken lässt. Er wird zum unter Umständen re-integrationsfähigen Gegner der Gesell- schaft, in der ihm die (scheinbar) konformen Erwachsenen in ihrer Bereitschaft gegenüberste- hen, mit Warnschüssen auf ihn zu reagieren. Dies sollte insbesondere für „Intensivtäter“ gel- ten, mit denen, so heißt es, „wir uns befassen“ (BT-Plenarprotokoll 2012, 20943; Hervorhe- bung d.A.) müssen. Da ein „Intensivtäter“ „uns“ bedroht, scheinen „wir“ ihm gemeinsam ent- gegentreten zu müssen. Indem der Sprechende dies formuliert, projiziert er eine im Kampf gegen Jugendkriminalität vereinheitlichte Gemeinschaft. In ihr sollen diejenigen umfasst wer- den, die sowohl an der Erziehung junger Menschen interessiert sind, wie auch diejenigen, denen an einem harten Durchgreifen gegen Jugendkriminalität gelegen ist. Gegenüber einem „Intensivtäter“ werden die jeweils unterschiedlichen diskursiven Positionen äquivalent; kaum jemand könnte gegen die Erziehung junger Delinquenter sein, zumal wenn sie nicht aus- schließlich als Repression, sondern als Möglichkeit beschrieben wird, ihnen gegenüber je nach Einzelfall unterschiedlichste Töne anzuschlagen. Im Gegenzug erhält die sich artikulie- rende diskursive Position die Legitimität zugesprochen, die Ordnung des „Wir“ zu repräsentieren. In der Ausgrenzung des „Intensivtäters“ scheint man sich einig sein, wobei das Bei- spiel zugleich verdeutlicht, wie prekär diese Inszenierung ist: Sowohl die Fachausschüsse wie auch weite Teile der Kriminologie und die Opposition widersprachen der Einführung eines Warnschussarrests. Es ist nicht besonders schwierig, Statistiken zu nutzen und anderweitige Erziehungsbegriffe in Stellung zu bringen, um die Sinnhaftigkeit des Warnschussarrests zu hinterfragen. Das „Wir“ ist in diesem Fall besonders instabil.

Wie Subjekte „Täter“ werden

Das eben skizzierte Beispiel zeigt die Fragilität hegemonialisierter Kriminalitätsdiskurse. Die Unmöglichkeit, sie dauerhaft zu fixieren, bedroht sie jedoch nicht grundlegend, sondern sie sichert ihnen im Gegenteil ihr Überleben: Sie können sich auf unterschiedliche Weise neu justieren und verschieben. Das „Wir“ ist gerade in seinen Grenzziehungen gegenüber „Krimi- nellen“ wandlungsfähig, wie Durkheim (1895/1984) mit Recht konstatiert hatte. Wir können seiner Analyse hinzufügen, dass die Bestrafung eines Delinquenten nicht nur „auf die ehren- werten Leute“ (Durkheim 1893/1999, 159) wirkt, sondern diese Leute als Gemeinschaft ange- rufen und konstituiert werden, indem Delinquente bestraft und überhaupt von Kriminalität gesprochen wird. Dabei ist der Signifikant „Kriminalität“ dehnbar und flexibel genug, um variable Darstellungen gesellschaftlicher Kohäsion zuzulassen.

Wie werden hegemoniale Projekte trotz ihrer Instabilität reproduziert? Entgegen dem o.g. Fokus auf Äquivalenzbildungen verweist die „klassische“ sozialwissenschaftliche Antwort auf Institutionen und Organisationen. Wir gehen diesem Punkt hier nicht näher nach, sondern stellen nur fest, dass auch sie nicht in der Lage sind, eindeutige Regeln zu formulieren, durch die Kriminalität fest-gestellt, d.h. entgegen ihrem polysemen Gehalt eindeutig bestimmt wer- den könnte. Die Prekarität dieser Bestimmungsversuche zeigt sich in den zahlreichen Differenzierungen, die in Kriminalitätsdiskursen zum Tragen kommen, um den Signifikanten „Kriminalität“ zu fixieren und institutionell nutzbar zu machen: So werden Bagatelldelikte von schwerer Kriminalität, Erst- von Rückfalltätern, der Besitz illegalisierter Substanzen zum Eigenkonsum vom Drogenhandel geschieden, kriminelles Handeln aus Absicht wird von Fahrlässigkeit unterschieden usw. Eine breite Fülle entsprechender Differenzierungen vermit- telt institutionell und organisational verwendbare Feinjustierungen der Kriminalitätssemantik. Für Zwecke der professionellen Kriminalitätsarbeit ist dies höchst erfolgreich, aber als Signifikant wird „Kriminalität“ dadurch nicht fixiert, denn in der Anwendung von Labels der Kri- minalität werden stets neue, emergente Realitäten und Regulierungen geschaffen: In den Stu- fen einer formellen Kriminalisierung wird mit vorausgehenden Sinnzuweisungen gebrochen, und auf jeder Stufe kommen je nach organisationalem Umfeld, persönlichen Einstellungen, Besonderheiten einzelner Fälle und weiteren Unwägbarkeiten kontingente Logiken zum Tra- gen, durch die Kriminalität hergestellt wird. Ob in der Organisationsform Gericht oder Poli- zei: Es kommen jeweils Regeln der Kriminalisierung zum Tragen, die in hohem Maße situationsabhängig sind. Keine Regel kann „vorab alle Einzelheiten ihrer kontextspezifischen An- wendung reglementieren“; die Regelanwendung erfolgt „in situ“ (Kneer 2008, 16). Zwar las- sen sich in bestimmtem Maße Regelmäßigkeiten der Anwendung spezifischer Regeln und Entscheidungsroutinen identifizieren, etwa bezüglich der Unterschiede in der Rechtsanwen- dung in einzelnen Bundesländern (z.B. Heinz 2012, 552ff). Aber quer zu ihnen liegen Differenzen zwischen einzelnen Organisationen, Personen, Rollen, Zeitpunkten usw. In diesem Sinne illustrieren Institutionen die Dauerhaftigkeit der Rede von Kriminalität, aber sie bele- gen nicht einen inhaltlich positiv bestimmten Kern von Kriminalität, der jeweils in der Rechtsanwendung performativ und situations- und fallabhängig adressiert wird.

Es soll genügen, dies knapp festzuhalten, um auf einen anderen Fokus der Fortschreibung hegemonialer Kriminalitätsdiskurse hinzuweisen. Wir sprechen damit die in der Kriminologie in hohem Maße umstrittene Frage an, wie Subjekte „Täter“ werden. Auf der Basis unseres diskurstheoretischen Herangehens können wir festhalten: Wenn der Signifikant „Kriminalität“ keine eindeutige inhaltliche Aussage zu treffen vermag, muss dies auch für die Aussage gel- ten, ein Subjekt sei ein „Krimineller“ oder „Täter“. Der polyseme Gehalt von Kriminalität und die Unmöglichkeit ihrer hegemonialen Schließung erstrecken sich notwendigerweise auch auf kriminalisierte Subjekte. Ein Täter ist stets auch kein Täter. Auch wenn er näher bestimmt wird – z.B. als Rückfalltäter, Bagatelltäter, Gewalttäter usw. –, wird nicht klar, wer er (oder sie) „ist“. Die Kategorien bleiben mehrdeutig. Dies kann nicht anders sein, denn ein „krimi- nelles Subjekt“ ist Teil eines Kriminalitätsdiskurses, der ihm eine spezifische Position zuweist (wie wir oben festgestellt hatten: jede Kriminalität ist Kriminalisierung, d.h. eine diskursive Platzzuweisung). Eine Subjektposition hat dabei „an dem offenen Charakter eines jeden Dis- kurses teil; infolgedessen können die vielfältigen Positionen nicht gänzlich in einem geschlos- senen System von Differenzen fixiert werden“ (Laclau/Mouffe 2006, 153). Durchaus möglich sind allerdings subjektive Erfahrungen, die Subjekte im Rahmen von und in der Auseinander- setzung mit Kriminalität machen (vgl. Dollinger 2010, 173ff; Katz 1988; Lyng 2004). Dabei macht die Rede von einem Subjekt nur Sinn, wenn anerkannt wird, dass es als solches inner- halb eines Systems von Bedeutungszuweisungen situiert ist; ein Subjekt kann nur „im Prozess seiner permanenten kulturellen Produktion“ (Reckwitz 2008, 10) gedacht werden. Da diese Produktion kein Zentrum und keinen eindeutigen Ursprung besitzt, ist sie ein vielschichtiges Unterfangen, das nicht zu eindeutigen Subjektordnungen führt. Im Gegenteil gibt es stets – außer möglicherweise in Extremfällen – Möglichkeiten für Widerstand und Subversion. Ob- wohl Subjekte innerhalb kultureller Ordnungen konstituiert werden und Zwang zur Durchset- zung hegemonialer Ordnungen deshalb prima facie unnötig erscheinen könnte, ist seine Anwendung naheliegend, da Subjekte zwar kulturell konstituiert, aber nicht per se uniformiert und diszipliniert sind.

Wir kommen damit zu der Frage nach einer Motivation zu kriminellen Handlungen. Es ist anzuerkennen, dass zwar jedem Subjekt Ordnungen vorgegeben sind, aber Subjekte eine ei- gensinnige „symbolische Strukturierung der Welt“ (Reckwitz 2006, 139) leisten, d.h. eigen- ständige Bedeutungszuweisungen und Positionsbestimmungen. Hierzu gehört es, so Reckwitz (ebd.), „normale und anormale Erscheinungen, insbesondere angemessenes und unangemes- senes Verhalten anderer und der eigenen Person, entlang entsprechender Schemata“ zu unterscheiden. Oben haben wir gesehen, dass Kriminalitätsdiskurse nicht in der Lage sein können, Konformität herzustellen; Kriminalität wird massenhaft verzeichnet, und erst in der Anwendung entsprechender Kodierungen wird festgelegt, welches Verhalten entschuldbar, tolerier- bar, sanktionswürdig usw. ist. Die Annahme, durch die Differenzierung von „Kriminalität“ und „Nicht-Kriminalität“ würde eine für Subjekte verbindliche und handlungsleitende Nor- mierung geleistet, übersieht die Polysemie und Kontextabhängigkeit der betreffenden Signifi- kanten. Es gilt sogar eher das Gegenteil: Die Differenzierung von Nicht-/Kriminalität stellt eine kulturelle Kodierung bereit, die von Subjekten für die Selbst-Positionierung genutzt werden kann.

Hess und Scheerer (1997, 118) hatten deshalb mit Recht festgehalten, dass „Indivi- duen durchaus eine eigene Motivation entwickeln können, vorsätzlich Strafgesetze zu übertre- ten“ (s.a. Hess/Scheerer 2011). Es ist jedoch zu beachten, dass diese Motivation sich nur auf Handlungen beziehen kann, die bewusst als kriminell wahrgenommen werden (in diesem Fall von den sich selbst als „Tätern“ erfahrenden Subjekten). Wenn eine Person eine Handlung zeigt, die – aus wessen Sicht auch immer – kriminell sein könnte, ohne dass sie irgendwer als „kriminell“ identifiziert, so macht es keinen Sinn, von „Kriminalität“ zu sprechen. Aber natürlich können Subjekte ihren Handlungen diese Qualität zuschreiben, indem sie eine entspre- chende symbolische Strukturierung leisten. Allerdings hat diese subjektive Zuschreibung nicht unbedingt etwas mit der Qualität zu tun, die z.B. Staatsanwälte oder Richter der in Frage stehenden Handlung zuweisen. Einigkeit zwischen den Beteiligten ist möglich, aber für den Fortgang eines Kriminalisierungsprozesses unerheblich, da in seinem Rahmen in jedem Fall Neujustierungen von Bedeutungen vorgenommen werden und eine „Wahrheit“ des Subjekts fest-geschrieben werden soll. Zuschreibungen von Motiven, Kategorisierungen von Deliktarten usw. bekommen Subjekte im Rahmen einer formellen Kriminalisierung mitgeliefert, un- abhängig davon, was sie sich selbst denken mögen. Diese Zuschreibungen beanspruchen auch dann Gültigkeit, wenn sich ein Subjekt nicht oder auf eine andere Weise als „kriminell“ definiert. Wenn ein Subjekt einer eigenen Handlung die Qualität attestiert, „kriminell“ zu sein, hat dies mit dem strafrechtlichen Denken und Handeln nicht per se etwas gemeinsam. So kann ein Subjekt diese Qualitätszuschreibung z.B. nutzen, um durch einen transgressiven Akt zu de- monstrieren, dass es eigensinnig und souverän mit dem Risiko einer formellen Kriminalisie- rung umgeht. Ein Richter würde eine entsprechende Handlung jedoch voraussichtlich nicht als Akt von Eigenständigkeit, sondern z.B. als mutwillige und sanktionsbedürftige Regelverletzung interpretieren. Kriminalität verweist damit auf die dauerhafte Auseinandersetzung um die Bedeutung, Umdeutung und Bedeutungsfixierung von Grenzsetzungen und -überschreitungen (vgl. Ferrell u.a. 2008). Dabei macht die Transgression der durch „Krimi- nalität“/„Nicht-Kriminalität“ gezogenen Differenzlinie erneut bewusst, dass Kriminalitätsdeu- tungen nicht fixiert werden können. Selbst die bloße Rede von Kriminalität hält die Begehung von kriminellen Handlungen als Möglichkeit einer Transgression bewusst und kann zu ihnen motivieren, so dass entsprechende hegemoniale Projekte „desavouiert und auf diese Weise die Partikularität des angeblich Universellen offenbart“ (Moebius 2009, 159f) werden.

Indem Subjekte – v.a. massenmedial vermittelte – Kriminalitätsdeutungen in ihrem Sinne verwenden, unterlaufen sie die programmatische Intention, durch Kriminalpolitik Kriminalität zu verhindern. Gleichzeitig aber – und dies verweist auf die Konstitution von Subjektivität als Mittel zur Reproduktion von Kriminalitätsdiskursen – beglaubigen sie durch ihre Transgressi- on die (scheinbare) Faktizität von Kriminalität: Indem Subjekte anerkennen, dass Kriminalität eine auch für sie selbst relevante Kodierung symbolischer Sinnzuweisung ist, besitzt Krimi- nalpolitik in den Subjekten selbst einen zentralen, möglicherweise ihren wichtigsten Ankerpunkt: Wenn Subjekte sich als „Kriminelle“ definieren und erleben, warum sollte es dann Sinn machen, die Kategorie „Kriminalität“ zu destruieren? Schließlich leisten Subjekte selbst deren Dekonstruktion, indem sie die Kategorie für sich in Anspruch nehmen, sie umwandeln und in transgressiven Akten nutzen (sie damit destruieren), sie zugleich aber auch konstruie- ren, da sie sie als handlungsleitende Orientierung implementieren. So wissen bspw. Konsu- menten illegalisierter Substanzen meist, dass der Konsum verboten ist. Durch den Konsum machen sie eigene, in der Regel interpersonell eingebettete Erfahrungen mit den betreffenden Substanzen. Indem sie sich von den einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen distanzie- ren, stützen sie jedoch – z.B. indem sie von einem besonderen Reiz des Verbotenen ausgehen, den Konsum verheimlichen, sich selbst als Drogenkonsument identifizieren usw. – die Inkriminierung. Subversionen geben hegemonialen Projekten dadurch die Möglichkeit, sich neu zu justieren, da die Bedeutung von „Kriminalität“ stets verschoben und neu orientiert wird. Dies geschieht in kriminalpolitischen Debatten, in der institutionellen Rechtsanwendung wie auch durch transgressive Akte. Subversion und Hegemonie widersprechen sich folglich nicht, son- dern bedingen sich wechselseitig.

Fazit

Mit der Skizze einer allgemeinen Theorie der Kriminalität als kulturelle Praxis suchen wir einen Zugang zur Frage nach dem Wesen von Kriminalität, der konsequent analytisch vorgeht: Wir diskutieren Kriminalität als Setzung und Prozessierung einer Differenz. Kriminalität ist folglich nicht positiv gegeben und sie kann nicht eindeutig bestimmt werden.

Vielmehr bleibt die Bedeutung von „Kriminalität“ stets polysem, da die Differenz zu „Nicht- Kriminalität“ keinen eindeutigen Bezugspunkt aufweist. Die Aussage, eine Handlung sei „kriminell“, erklärt in der Konsequenz nichts und sie leistet keine alternativlose Bestimmung einer Realität. Stattdessen macht sie nur „Sinn“ in Bezug auf diskursive Positionen, von denen aus von Kriminalität gesprochen wird und die sich durch die Rede von Kriminalität als allgemein gültige Sicht „der“ Gesellschaft und ihrer legitimen Ordnung zu behaupten suchen. In diesem Sinne ist Kriminalität nicht nur eine kulturelle, sondern spezifischer eine politische Praxis: Mit ihr verbindet sich der Versuch, diskursive Positionen zu hegemonialisieren, indem „Kriminelle“ – mindestens potentiell und häufig auch faktisch – ausgegrenzt werden, während im Gegenzug gleichzeitig eine sich als „konform“ gebende Position befestigt und universalisiert werden soll. Was leistet diese Bestimmung einer Nicht-Bestimmbarkeit? Sie zeigt, wie trivial und zugleich voraussetzungsvoll es ist, von „Kriminalität“ zu sprechen. Es handelt sich um eine Trivialität, da Kriminalität (fast) nichts bedeutet, und damit ist die Rede von Kriminalität zu voraussetzungsvoll, denn sie unterstellt einen unmöglichen Konsens bezüglich der Frage, wie soziale Ordnung konstituiert werden soll. Angesichts der handfesten Folgen von Kriminalisierungen und der ranghohen Interessen, die sich mit ihr verbinden, dürfte eine Analyse dieser Zusammenhänge nicht unwichtig sein.

Fritz Sack

Einige Anmerkungen zu Dollinger et.al. „Konturen einer allgemeinen Theorie…

Auf der Basis einer zweimaligen Lektüre des Textes möchte ich die folgenden Über-legungen festhalten und zur Diskussion stellen.

1. Ich sehe in dem Versuch zu einer allgemeinen Theorie die semiotisch-linguistische Transformation von Thesen und Überlegungen aus den Entwürfen und Ansätzen der kritischen Kriminologie. Zwar nimmt der Text mehrfach und affirmativ auf die aus dem symbolischen Interaktionismus generierten Konzepte des Labeling Bezug, insinuiert deren Fortentwicklung (bzw. Hegelsche „Aufhebung“ ?), ohne indessen den genauen „Mehrwert“ des vorgeschlagenen Theorieentwurfs genauer zu fixieren. Etwas pointiert formuliert, kommt mir der Versuch ein wenig wie das Füllen „alten Weins in neuen Schläuchen“ vor. Ist es, nochmals anders formuliert, mehr als die „Neuerfindung des Rades“? Dennoch: ich habe den Text gerne und ermutigend gelesen.

2. Konkreter: Was bietet die These der „Kriminalität“ als „leerer Signifikant“ über die allseits unbestrittnen Befund der historischen, gesellschaftlichen und rechtsanthropologischen „Relativität“ der Kriminalität hinaus, was fügt er der Beckerschen et.al. These der (politischen) Definitionsabhängigkeit der Kriminalität hinzu, was sagt es mehr als die These der Ent-Ontologisierung und Ent-Essenzialisierung der Kriminalität? Hierzu enthält der Text wenig Greifbares.

3. Sodann: die Reduktion des Gegenstands der Kriminologie auf die „Kriminalisierung“ bzw. die theoretische Eliminierung der „Kriminalität“ ist so neu auch nicht. Darauf zielte übrigens schon eine prinzipielle Kritik der Ethnomethodologie gegen Beckers berühmte „Vierfelder-Tafel“, die die Kategorie der „unentdeckten“ bzw. „undefinerten“ Kriminalität vorsah: Hiergegen hat M. Pollner in einem wenig beachteten Artikel M. Pollner bereits im Jahre 1974 hingewiesen.

4. Auf die Ethnomethodologie ist auch in Bezug auf ein weiteres Missverständnis des Textes bezüglich der angenommenen Aporie von Struktur und Kontingenz hinzuweisen. Was die Vermittlung von „Etikettierungthesen und marxistische Gesellschaftstheorien“ (S. 3) angeht, habe ich noch einmal in Taylor et.al. „New Criminology“ aus dem Jahre 1973 herumgeblättert, insbesondere in deren Auseinandersetzung mit phänomenologischen etc.- Ansätzen (Schütz ff.), und bin dort auf seitenlange Diskussionen der Ethnomethodologie gestoßen, die u.a. zu dieser Bemerkung Anlass gegeben hat: „Indeed, Sacks in particular has convinced the authors that there is no necessary incompatibility between the work in The New Criminology and the work and discovery of micro-structural phenomena by ethnomethodologists. (S. 294). Auch bietet wohl die deutsche Kriminologie – trotz “frühzeitiger anderer Stimmen” – in den Arbeiten von Steinert und Cremer-Schäfer Belege und Beispiele für die Vereinbarkeit beider Traditionen bzw. Ansätze.

5. Was die argumentative Plausibilisierung des vorgeschlagenen Theorieentwurfs mittels des gewählten Beispiels des Warnschussarrests angeht (S. 9 ff.), hätte ich mir ein wesentlich „härteres“ kriminalpolitisches „Skandalon“ überzeugender zur Demonstration der theoretischen Leistungsfähigkeit gewünscht, etwa des wahlkampfaktuellen Themas der „Pädophilie“. Vielleicht lässt sich das ja bei der kommenden Redaktionssitzung nachholen.

6. Dies bringt mich zu meinem letzten Punkt: der Theorieentwurf nimmt nur ganz verschämt und mehr implizit als explizit eine Theoriedimension auf, die ich für die Kriminologie schlicht für unerlässlich halte: die der Herrschaft und die des Staates. Die „staatliche Benennungsmacht“ (Bourdieu), deren Effizienz durch das Gewaltmonopol garantiert ist, findet keinen Eingang in das Theoriekonstrukt, ebenso wenig wie das Strafrecht selbst – gegen namhafte Strafrechtssoziologen wie N. Luhmann u.v.a. mehr, auch gegen manchen Kriminologen wie etwa W. Chambliss u.v.a.. Dort würde man auch fündiger werden bei der Suche nach den Verwaltern und Besorgern des „leeren Signifikanten“ Kriminalität.

Henner Hess

Mit Eurer Theorie kann ich mich nicht so sehr anfreunden. Sie vertritt natürlich einen völlig richtigen Ansatz, indem sie die Zuschreibung der Eigenschaft Kriminalität als ein in Diskursen hergestelltes Phänomen sieht, als "leeren Signifikant", hinter dem insoweit keine ontologische Realität steht. "...ohne diese Bedeutungszuweisung und die durch sie angesprochene Differenzsetzung von 'Kriminalität' und 'Nicht-Kriminalität' könnte nicht von Kriminalität gesprochen werden..." (S. 5) Das gilt allerdings für vieles andere auch, etwa für Kunst, Sport usw. usf. Kunst, Sport, Kriminalität usw. bekommen alle erst Sinn, wenn man sie in der Differenz zu Nicht-Kunst, Nicht-Sport, Nicht-Kriminalität usw. sieht.

Ihr behandelt dann zwei Aspekte: die soziale Konstruktion der Kategorie und die soziale Konstruktion der als kriminell definierten Einzelhandlung. In beiden Fällen genügt aber meiner Meinung nach nicht nur die Zuschreibungsperspektive; sie ist ja immer eng mit Besonderheiten des Signifié verbunden, die auch erklärt werden müssen (soziale Konflikte, persönliche Motive usw.) - erklärt man die nicht, kommt man ja eigentlich nicht zu einer sinnvollen Erklärung der Zuschreibung. Außerdem fehlen eine ganze Reihe von anderen Phänomenen, die durchaus in einer allgemeinen Theorie zur Sprache kommen müssten.

Das Thema, das Ihr behandelt, haben Sebastian und ich ja auch behandelt. Wir stimmen eigentlich mit Euren Ansatz ziemlich überein, gehen aber meiner Meinung nach etwas weiter. Für Eure grundsätzlichen Fragen vgl. mal KrimJ S. 83-96, 102-106, 122-124. Dort sind Eure Fragen ausführlicher behandelt als in der Kurzfassung, die im Sonderheft der Kölner Zeitschrift erschienen ist.

Eure Kritik daran, von "der Gesellschaft" zu reden, teile ich voll. Wir haben ja deshalb versucht, mindestens mal vier verschiedene Bedeutungen von Kriminalität und vier verschiedene Zuschreibungsformen und Zuschreiber zu unterscheiden (S. 89f.).

Der Bezug auf Laclau ist meiner Meinung nach unnötig. Das soziale Konstruktionen in der Differenz zu Nicht-Identischem gesehen werden müssen und ja auch immer gesehen werden, ist ja wohl eine Platitüde. Ich muss zugeben, dass ich den Laclau nicht gelesen habe und ihn nur durch Euch und aus Wikipedia kenne. Insofern sollte ich eigentlich dazu nix sagen. Aber es scheint mir sein Werk aus Platitüden und vor allem aus Wortwolken zu bestehen (vgl. zu Ähnlichem Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn). Ich mag ihn nicht lesen, denn (wie der Weinhändler auf dem Markt in Montalivet auf ein Schild geschrieben hat) "das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken". Sobald Ihr konkret werdet (z. B. S. 9-11), verschwindet ja auch bei Euch der Laclau. Und zu Deinem sonstigen klaren, rationalen Stil und Denken passt der doch eigentlich sowieso nicht.


Heißt Zuschreibung, dass man dem Handelnden keine Kompetenz zubilligt, keine Aktivität, keine Verantwortung. Dann träfe das natürlich auch auf positive Leistungen zu, die dann keine Leistung wären, sondern eben nur Zuschreibungen: Promotion, Schaffung eines Kunstwerks...

Sebastian Scheerer

Eine der von Fritz Sack mit sympathisierender Skepsis formulierten Nachfragen an die Autoren der ATKAP teile ich auf jeden Fall: die Mutmaßung, dass sich bei dem originellen Sprachspiel des poststrukturalistischen Ansatzes um alten Wein in neuen Schläuchen handelt.

Das gilt m.E. sogar für jeden der drei Hauptaspekte des Beitrags:

1. Was ist Kriminalität? Für die ATKAP ist Kriminalität gleich Kriminalisierung. Die Kriminalisierung wiederum ist ein politisch-diskursiver Prozess: "Im Rahmen von Kriminalpolitik wird darüber entschieden, wie Kriminalität definiert wird, welche Ressourcen bereitstehen und welche Umgangs- und Verfahrensweisen mit 'Kriminellen' institutionalisiert werden." Politisch ist aber nicht nur die (legislative) Definition von Kriminalität, sondern auch die – formelle oder informelle – Anwendung entsprechender Etikettierungen, also die Subsumtion des Einzelfalls unter den Tatbestand, denn auch hier ist nichts fixiert und automatisiert, alles ist Verhandlungssache und vielleicht auch eine Frage von Struktur, Macht und Herrschaft. Dass die Definition von Kriminalität nicht ein für allemal fest steht, sondern einem lebhaften und konflikthaften Wandlungsprozess unterliegt, kann wohl seit Generationen als gesichert gelt. Die vom Labeling Approach bereits vorexerzierte Reduktion des kriminologischen Arbeitsfeldes auf die Definitionsseite wird hier ebenfalls in neuer semantischer Kostümierung auf eindrucksvolle Weise wiederholt. Kriminologen, die nicht nur an der Definitionsseite interessiert sind, sondern auch daran, etwas über die Bedingungen und Antriebe zu erfahren, die Menschen trotz allem, was auch aus deren Sicht dagegen sprechen mag, dazu bringen können, Banken auszurauben oder einen Genozid zu begehen, werden darin allerdings eine Fortsetzung des selbstverschuldeten Relevanzverlustes vermuten, den sie auch schon an der Einäugigkeit der Definitionstheorie der jungkriminologischen Großeltern-Generation kritisierten. Das hat offenbar nicht viel bewirkt. Denn wer sich für die Ursachen von Genoziden und die Möglichkeiten ihrer Verhinderung interessiert, schaut (auch deshalb) schon lange nicht mehr erwartungsfroh auf die Kriminologie. Insofern steht die ATKAP auf poststrukturalistische Weise dann letztlich doch für eine ganz konventionelle Fortsetzung kriminologischen Sinnverlusts as usual.

Fritz Sack bezweifelt auch, dass die ATKAP im Hinblick auf die Vermittlung von Struktur und Handlung, bzw. von marxistischer Gesellschaftstheorie und phänomenologischer Analyse über den Stand der kritischen Kriminologie gegen Ende des 20. Jahrhunderts hinaus kommt oder auch nur hinaus weisen könnte. Zum wiederholten Male zitiert er seine Lieblingsstelle aus der "New Criminology", in der deren Autoren sich beruhigt darüber zeigten, dass "Sacks" ihnen die Sorge vor der Inkompatibilität von Marxismus und Ethnomethodologie habe nehmen können. Darüber wüßte man gerne mehr, über den "Sacks" und seine Argumentation, und darüber, wie sich denn die Lösung aus heutiger Sicht darstellt, und wo man Werke, in denen die Vermittlung überzeugend geleistet wurde, einsehen oder gar käuflich erwerben könnte.

2. Wie kommt Kriminalität zustande? Dass diese Frage von der ATKAP überhaupt gestellt wird, scheint nach der unter (1) erfolgten Reduktion des Kriminalitätsbegriffs zunächstt erstaunlich. Gemeint ist aber nicht, wie es zu sexueller Gewalt, zu organisiertem Menschenhandel oder Genoziden kommt, sondern wie bestimmte Begriffe in den Kriminalitätsdiskurs eingebracht werden, wie im öffentlichen Reden über das, was nicht geht, "Kriminalität" in gewissem Sinne "hergestellt" wird, wie es also dazu kommt, dass im Kriminalitätsdiskurs über "Intensivtäter" gesprochen und in konflikthaften Porzessen dann eine Institution wie der sog. Warnschussarrest eingeführt wird. Es geht also auch hier nicht etwa um die Bedingungen, wie reale Menschen andere reale Menschen schädigen, verletzen, quälen oder töten, sondern um legitimitätsheischende Diskurse und Diskussionen im parlamentarischen und im publizistischen Bereich. (Gähn.)

3. Wie aus Subjekten Täter werden. Die ATKAP teilt den (uralten) funktionalistischen Gedanken, dass die Grenze zu den Ausgeschlossenen die In-Group der "ehrenwerten Leute" überhaupt erst konstituiert (um ihn sodann zu einem Gutteil als eigene Weiterentwicklung für sich zu reklamieren). Sie leitet dann von der Nicht-Fixierbarkeit des Begriffsinhalts von "Kriminalität" - dieser Signifikant wird ja wiederholt als dehnbar und flexibel genug dargestellt, um variable Darstellungen gesellschaftlicher Kohäsion zuzulassen, so dass selbst Institutionen und Organisationen "nicht in der Lage sind, eindeutige Regeln zu formulieren, durch die Kriminalität festgestellt, d.h. entgegen ihrem polysemen Gehalt eindeutig bestimmt werden könnte" - die Unmöglichkeit einer eindeutigen Aussage der Art ab, ein Subjekt sei ein „Krimineller“ oder „Täter“: "Der polyseme Gehalt von Kriminalität und die Unmöglichkeit ihrer hegemonialen Schließung erstrecken sich notwendigerweise auch auf kriminalisierte Subjekte. Ein Täter ist stets auch kein Täter. Auch wenn er näher bestimmt wird – z.B. als Rückfalltäter, Bagatelltäter, Gewalttäter usw. –, wird nicht klar, wer er (oder sie) 'ist'." Wenn nun ein Individuum in seiner eigensinnigen symbolischen Strukturierung der Welt auf die Idee kommt, die eigene Handlung - z.B. einen Banküberfall - als kriminell zu deuten, dann hat das nach der ATKAP als "subjektive Zuschreibung nicht unbedingt etwas mit der Qualität zu tun, die z.B. Staatsanwälte oder Richter der in Frage stehenden Handlung zuweisen. Einigkeit zwischen den Beteiligten ist möglich, aber für den Fortgang eines Kriminalisierungsprozesses unerheblich, da in seinem Rahmen in jedem Fall Neujustierungen von Bedeutungen vorgenommen werden und eine 'Wahrheit' des Subjekts fest-geschrieben werden soll. Zuschreibungen von Motiven, Kategorisierungen von Deliktarten usw. bekommen Subjekte im Rahmen einer formellen Kriminalisierung mitgeliefert, unabhängig davon, was sie sich selbst denken mögen. Diese Zuschreibungen beanspruchen auch dann Gültigkeit, wenn sich ein Subjekt nicht oder auf eine andere Weise als 'kriminell' definiert." - Gegen diese Aussage wird sich wohl kein Widerspruch regen. Manchmal sind Fremddefinitionen folgenreicher als Selbstdefinitionen. Das hat dann schnell mit realen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu tun, gelegentlich auch mit den Produktionsverhältnissen. Damit haben sich Generationen von Sozialwissenschaftlern, auch Kriminologen, befasst. Die ATKAP hingegen (noch) nicht. Sie bietet eine atemberaubende Sprachartistik - dahinter aber ist: nichts.

Literatur

  • Bedorf, T./Röttgers, K. (Hg.), 2010: Das Politische und die Politik. Berlin.

  • Bogner, A., 2012: Gesellschaftsdiagnosen. Weinheim.

  • Butler, J./Laclau, E./Zizek, S. (Hg.), 2000: Contingency, hegemony, universality. London.
  • Cornel, H., 2011: Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht: Historische Entwicklungen. In: B. Dollinger/H. Schmidt-Semisch (Hg.): Handbuch Jugendkriminalität. Wiesbaden, S. 455-473.
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Cremer-Schäfer, H./Steinert, H., 1998: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. Münster.

  • Critchley, S.J./Marchart, O. (Hg.), 2004: Laclau. A critical reader. London/New York.
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*Dollinger, B., 2010: Jugendkriminalität als Kulturkonflikt. Wiesbaden.
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Dollinger, B., 2012: Das Risiko politischer Steuerung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 62. Jg., S. 28-34.

  • Durkheim, E., 1893/1999: Über soziale Arbeitsteilung. 3. Aufl. Frankfurt a.M.
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Weblinks

  • Laermann, Klaus (1986) Lacancan und Derridada Trivialitäten autoritativ Geltung verschaffen; Absturz von Marx zu Murks zeigt, daß offenbar keine Theorie gegen den Unsinn gefeit ist, den ihre Adepten regelmäßig dann aus ihr machen, wenn sie zur Mode wird. Kaum zu entscheiden ist, wie weit dafür die in solchen Fällen immer einsetzende Rezeption aus zweiter (bis letzter) Hand verantwortlich ist. Fraglich scheint auch, ob durch sie zur Kenntlichkeit entstellt wird, was an einer Theorie jeweils schon problematisch war, bevor sie Mode wurde. Die Sekundärrezeption, die für jede Wissenschaftsmode kennzeichnend ist, ergibt sich aus den Schwierigkeiten, die zentralen Arbeiten einer Theorie zur Kenntnis zu nehmen. Oft fehlt dazu die Zeit, meist auch eine gründliche Ausbildung in Philosophie. ..Auch in der Wissenschaft treten die Moden auf als „die ewige Wiederkehr des Neuen“ (Walter Benjamin). Sie leben von dem Überraschungseffekt, den die ostentative Beherrschung einer neuen Sprachform bei denen auslöst, die ihr zunächst einigermaßen verständnislos gegenüberstehen. Immer spekulieren sie mit dem Bluff, der keine Rückfragen gestattet. Begünstigt werden sie dabei durch die geringe Fähigkeit vieler Intellektueller, sich dem Sog eines verblüffenden Sprachspiels zumindest so lange zu widersetzen, bis sie mit ihm eine gewisse Anschauung verbinden. - Regelmäßig kommt beim Wechsel der Moden auch ein Schuß Opportunismus ins Spiel. Das Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden, ist offenbar gerade im Wissenschaftsbetrieb so groß, daß es vielen nicht so wichtig ist, wofür sie sich entscheiden. Noch weniger scheinen sie sich darum zu sorgen, wie oft und wie leicht sie ihre Entscheidungen zugunsten anderer Auffassungen revidieren. Formen und Inhalte spielen eine ersichtlich geringere Rolle als der Zwang zu marginaler Differenzierung. Stilfragen sind für sie offenbar nicht von entscheidender Bedeutung. Gerade darum soll die Frankolatrie hier vor allem stilkritisch untersucht werden. .. Deren hervorstechendstes Merkmal ist ein gesteigertes Bedürfnis nach Abweichung von den Diskursen der Alltagssprache und der Wissenschaftssprache. Das führt dann zu allerlei Verquastheiten, die durch das Theoriegefälle zum jeweiligen französischen Original nicht eben origineller werden. Viele der deutschen Modeschüler haben eine fatale Neigung, sich als Geheimnisträger ihrer Meister zu begreifen. „Schleiermacher“ wäre für sie die angemessene Berufsbezeichnung, wenn den Namen nicht schon einer der Gründungsväter der Hermeneutik trüge. Gehört jemand nicht zu ihnen, so geben sie ihm zu verstehen, daß er ihnen leid tut, wenn (und weil) er sie nicht versteht, wo doch umgekehrt jeder seiner Sätze ihnen selbst nur allzu durchsichtig erscheint. Was sie dagegen zu Papier bringen, überbietet an Dunkelheit häufig jene Autoren, die sie nachahmen. Und die haben sich schon nicht wenig angestrengt, anderen was vorzumachen. – Beispiel für den blühenden Blödsinn, der sich gegenwärtig an den Rändern der Sozial- und Geisteswissenschaften ausbreitet. ...– (Denn kaum etwas ist wichtiger als die Frage, was Menschen dazu bringt, sich einer unsinnigen Sprache zu bedienen.) Hier liegt der Verdacht nahe, daß der Text ironisch oder gar geistreich sein soll. Tatsächlich ist er aber wohl eher komisch. Seine Sätze kommen, obwohl sie so tief klingen, fast ohne Inhalt daher. Sie erzeugen eine diffuse Spannung, die in eine Folge von Fragen aufgelöst wird und sich dann im Leeren verläuft. Wortreich sprechen sie aus, daß sie nichts zu sagen haben und daß sich gerade das nicht einfach ausdrücken läßt. - Der Verstopfung ihres sprachlichen Ausdrucksvermögens dient jene Rhetorik als Klistier, die sich heute in trivialwissenschaftlichen Texten dieser Art bis in die Wortwahl hinein an französischen Mustern orientiert. ..Nein, diese Sprache verstellt sich den Blick auf die Realität. Sie kennt sie nur als etwas Abwesendes. Im übrigen ist sie sich selbst genug. ... Ihre Autoren haben offenbar mal gehört, Zeichen seien arbiträr. Das mißverstehen sie jetzt dahingehend, sie seien in jeder Weise folgenlos. Dies Mißverständnis hat sie blind gemacht für fast alles, was der Fall ist. ... Auch wenn in ihren Sätzen kaum noch Fragmente einer Wirklichkeit erscheinen, knüpfen sie unverdrossen weiter an den Netzen der Sprache. Es gibt für sie nichts außerhalb des Texts. Kein Wunder, daß sie sich in ihm verheddern. Über dieser Prosa liegt der Bann, sich aller Inhalte zu entschlagen. Sie will und soll über nichts informieren. Das Ziel ihrer Rhetorik besteht weder in einer argumentierenden Überredung des Lesers noch gar in dessen emotionaler Erschütterung, sondern in einer rhapsodischen Nobilitierung der Inhaltsleere, in einer geradezu frenetischen Gegenstandsverflüchtigung. „Um Himmels willen, bloß keine Inhalte!“ würden die Autoren gewiß ausrufen, wenn sie auf einzelne Aussagen festgelegt werden sollten. - Der Gegenstandsverflüchtigung dient in anderen Texten ein Verfahren, das einmal erkämpft wurde, weil es dazu dienen sollte, Gegenstände der Wissenschaft bei mehr als nur einem Namen zu nennen: die Interdisziplinarität. Von der Frankolatrie wird sie nicht dazu benutzt, die Grenzen der Einzelwissenschaften zu überschreiten, um neue Forschungsperspektiven zu eröffnen, sondern sie wird ihr zum Anlaß, die Ansprüche der eigenen Grenzenlosigkeit zu demonstrieren. Diese Autoren „können“ grundsätzlich alles: von der Linguistik über Philosophie, Psychoanalyse, Nationalökonomie und Kunstgeschichte bis hin zur Theologie oder Judaistik. ... Die Adepten der Frankolatrie wollen vor allem eines nicht – verstanden werden. Vielmehr wehren sie bereits den Anspruch des Verstehens als Zumutung ab. (Daß es auch dabei Unterschiede sogar unter ihren Vordenkern gibt, belegt etwa die von Searle berichtete Äußerung Foucaults, der Stil Derridas sei ein „obscurantisme terroriste“.) Jedes Begreifen scheint ihnen vom Übel. Sie wittern darin den verfügenden Zugriff einer allgegenwärtigen Macht, der sie sich um keinen Preis aussetzen wollen. Begriffe sind für sie nur sprachliche Formen jenes Allgemeinen, für das sie meist den Namen „System“ parat haben. Ihm gilt ihr unversöhnlicher Haß. Er richtet sich deshalb auch auf die Sprache der Begriffe, weil sie in ihr das Modell und Medium der gesellschaftlichen Herrschaft sehen. Völlig unverständlich erscheint ihnen der Gedanke, die Sprache könne auch ein Mittel der Versöhnung sein oder gar politisch und juristisch Freiheitsgarantien sichern. - Sie betreiben, paradox genug, eine gezielte Kommunikationsverweigerung und bedienen sich doch zugleich eines konventionellen Kommunikationsmediums. Was sie schreiben, klingt nach wie vor, als handle es sich um deutsche Sätze. Ja, diese Sprache hält trotz allem Unsinn, den sie uns oft zumutet, augenscheinlich am Duktus wissenschaftlichen Rede fest. Sie geht nicht einfach in Begriffslyrik über. Denn ihr fehlt die gesteigerte Expressivität des einsamen Sagens ebenso wie das kunstvolle Parlando beiläufig wirkender Ausdruckssicherheit. Mit Poesie hat sie nur so viel gemein, daß auch sie eine durchgängige Fiktionalisierung der Welt im Medium von Texten betreibt und nicht in erster Linie Informationen übermitteln oder gar eine Argumentation entfalten will. ...Nein, Argumentation ist die Sache dieser Autoren nicht. Sie gliedern ihre Arbeiten selten in eine Abfolge überprüfbarer Einzelschritte, welche die Möglichkeit einer Widerrede einräumen. Sie nehmen den Leser nicht an die Hand, stellen ihm keine Fragen und beweisen ihm nichts. Er kommt, bei ihnen höchstens insofern vor, als sie bemüht sind, sich ihm zu entziehen. Aber auch das wird ihm nur indirekt mitgeteilt. Die Mittel, mit denen es geschieht, reichen von gehäuften Zweideutigkeiten und gesuchten Paradoxa über absichtslose Unklarheiten bis hin zu gezielter Desinformation. Dadurch gewinnen frankolatrische Texte etwas Monologisches. Gerade weil sie sich vorrangig auf sich selbst konzentrieren, fehlt ihnen beinahe nie ein Hang zum Narzißmus. Der kann sich als Esoterik einzelner oder als Sektierertum kleinerer Gruppen äußern. ...Statt ihren Gedanken Beine zu machen, stellen diese Sätze die Sprache auf Stelzen. Verabschiedet werden sollen mit ihnen, worin sie doch formuliert sind: die Begriffe. Eine kopflastigere Sprache als diese, die so gern das Gegenteil sein möchte, ist schwer vorstellbar. Sie würde am liebsten in Bildlichkeit ertrinken und will nicht wahrhaben, daß ihr die Ersetzung der Begriffe durch Metaphorik nur halb gelingt. Sie kann das eine nicht lassen und das andere nicht tun. Denn sie klebt an dem Intellozentrismus, von dem sie sich befreien soll. Statt sprachlichem Saftgulasch bietet sie Gedankenschonkost, statt flüssiger Süffigkeit ein quatschendes Gepansche.“