Alkoholismus und geistige Behinderung

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Alkoholismus und geistige Behinderung treffen in den westlichen Ländern bei ca. 2,5% der mental retardierten Personen zusammen. Möglicherweise stellen geistig behinderte Personen eine besondere Risikogruppe für Alkoholismus dar - wenn auch die These einer genetischen Prädisposition geistig Behinderter für den Alkoholismus von Henry W.Goddard [1] aus dem Jahre 1912 seit langem widerlegt ist.

Deutschland

Das Thema Alkoholismus bei Personen mit Intelligenzminderung wird in der Bundesrepublik Deutschland - wie auch das Thema Sexualität oder Drogenmissbrauch durch geistig Behinderte - wenig thematisiert. Rund 64.000 der insgesamt etwa 420. 000 in Deutschland lebenden Personen mit einer geistigen Behinderung konsumieren in nennenswerten Mengen Alkohol - wie viele davon Alkoholiker sind, ist aber unbekannt. Besonders betroffen dürften Personen mit einer leichten (IQ 50 - 69) bis mittelgradigen (IQ 35 – 49) geistigen Behinderung sein, da sie aufgrund ihrer Wohn- und Betreuungsverhältnisse relativ leicht an Alkoholika gelangen.

Abbildung 1: Alkoholismus bei geistigen behinderten Menschen in Sachsen Anhalt
Abbildung 2: Pilotstudie in Sachsen 2001/2

In einer regionalen Untersuchung im Raum Wolfenbüttel/Braunschweig/Helmstedt im Jahr 1993 kam es zu folgenden Ergebnissen: Am Arbeitsort für Behinderte („Werkstätten“) und „Wohneinrichtungen“ konsumierten von 1619 Personen im Schnitt 3 % Alkohol und illegale Drogen. In den psychiatrischen Krankenhäusern wurden 1942 Fälle identifiziert, bei 4 % war es die erste und bei 9% die zweite Diagnose. Hinzu kamen bei diesem Personenkreis Medikamenten- und andere Suchtabhängigkeiten (Essen, Fernsehen etc.). Schließlich wurde eine repräsentative Untersuchung bei allen Einrichtungen und den dazugehörigen Suchthilfevereinen zum Thema „Alkoholkonsum von geistigen behinderten Menschen“ in Sachsen-Anhalt durchgeführt. Die Erhebung zeigte bei insgesamt 2560 untersuchten Personen, dass 6,7 % alkoholgefährdet und 4,2 % bereits alkoholabhängig waren (s. Abb. 1).

Eine Pilotstudie in Sachsen kam zu folgenden Ergebnissen: Menschen mit geistiger Behinderung bevorzugen es, zu Hause Alkohol zu konsumieren. Dies war der Fall bei 52 % der Befragten, 30 % von ihnen konsumierten lieber in Bars, gefolgt von bei Freunden und in anderen Gaststätten. Geistig behinderte Menschen konsumieren Alkohol am häufigsten (50 %) mit Freunden und in der Familie. Überraschenderweise gut 30 % der Alkoholkonsumenten behaupten, dass sie allein zu Hause oder außerhalb des Hauses trinken würden.

Hinzu kommt eine weitere Pilotstudie, die in Sachsen in den Jahren 2001/2002 von einem Diplom-Sozialpädagogen in einer Werkstatt für behinderte Menschen durchgeführt wurde. An der Befragung haben insgesamt 18 Personen zwischen 18 und 30 Jahren teilgenommen, davon waren 83 % männlich und 17 % weiblich. Die Ergebnisse waren (s. Abb. 2):

  • weniger als 5% der Männer und Frauen trinken nie Alkohol
  • ca. 9% der Männer und ca. 17% der Frauen trinken einmal jährlich Alkohol
  • ca. 27% der Männer und ca. 7% der Frauen trinken einmal im Monat Alkohol
  • ca. 39% der Männer und Frauen trinken wöchentlich Alkohol
  • ca. 11% der Männer und Frauen trinken täglich Alkohol

USA

Abbildung 3 Untersuchung von Huang A.M im Jahr 1981

Anfang der Achtzigerjahre untersuchte der Psychologe Huang in Amerika das Trinkverhalten von geistig behinderten Schülern und Schülerinnen. Er nahm hierfür als Vergleichskontrollgruppe Schüler/innen, die einen durchschnittlichen IQ hatten. Beide Gruppen waren zwischen 13 und 18 Jahre alt. Gruppe A bestand aus 190 Schüler/innen mit einer geistigen Behinderung und Gruppe B aus 187 mit einem durchschnittlichen IQ. Die Ergebnisse der Studie waren wie folgt:

  • ca. 24% von Gruppe A und ca. 27% von Gruppe B tranken selten Alkohol
  • ca. 30% von Gruppe A und ca. 47% von Gruppe B tranken ab und zu Alkohol
  • ca. 46% von Gruppe A und ca. 27% von Gruppe B tranken häufig Alkohol

Eine weitere Untersuchung wurde von Krishef und DiNitto im Jahr 1983 durchgeführt. Sie haben in Vereinen für behinderte Bürger „Associations for Retarded citizens“ und in anderen Organisationen für Alkoholbehandlung “Alcohol Treatment Programs“ Interviews durchgeführt. Insgesamt haben 214 geistig behinderte Personen an der Untersuchung teilgenommen. Die Befragten hatten eine leichte mentale Retardierung, wovon 54% der Interviewten männlich und im Alter zwischen 18 bis 45 Jahren waren. Ergebnisse: 52% der Befragten antworteten, mindestens zweimal im Untersuchungszeitraum Alkohol konsumiert zu haben, wobei ungefähr 7 % der Teilnehmer täglich Alkohol zu sich nahmen und 33 % mindestens einmal in der Woche alkoholische Getränke konsumierten.

Ursachen

Wie bekannt, wird Alkohol in der Bevölkerung meistens aufgrund seiner Wirkung getrunken. Wenn man ihn konsumiert, bringt das positive Gefühle oder man trinkt, um die eigenen Probleme zu vergessen. Menschen mit einer geistigen Behinderung konsumieren Alkohol aus denselben Gründen wie die übrige Bevölkerung. Trotz dieser Generalisierung gibt es besondere Anlässe bei geistig behinderten Menschen für massiven Alkoholmissbrauch. Meistens betrinken sie sich aus Resignation, Einsamkeit und Depression, auch wegen fehlender sozialer Kontakte (Partnerschaft), manche aus Langeweile (unorganisiertes Leben). Das erste Signal für dieses Verhalten ist, dass sie sich zurückziehen, sich selbst von der Außenwelt isolieren und lieber zu Hause oder im Heim bleiben. Besonders Menschen mit einer leichten mentalen Retardierung werden zu Einzelgängern und suchen sich ihre sozialen Kontakte in korrumpierten Gruppen. Wenn wir ihr Lebensumfeld betrachten, dann ist folgendes festzustellen: Trotz der Inklusion und Selbstbestimmung, die sie in der Gesellschaft haben, werden Menschen mit geistiger Behinderung anders als normale Bürger behandelt, sie werden schon von Anfang an vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und diskriminiert. Außerdem haben in unserer heutigen Gesellschaft, in der Freundeskreise manchmal nur noch durch Internet und Handy gepflegt werden, Menschen mit Behinderung bzw. mit geistiger Behinderung ein erhebliches Problem, ein stabiles soziales Netzwerk aufzubauen. Sie versuchen Glücksmomente auf einem anderen Weg (Alkohol, Drogen, Medikamente, Essen, Fernsehen und andere) zu bekommen.

Die Ergebnisse einer Pilotstudie auf die Frage, warum Menschen mit einer geistigen Behinderung Alkohol konsumieren und was sie dabei fühlen sind:

  • es geht mir gut, wenn ich trinke 83.3%
  • dadurch habe ich mehr Freunde 11.1%
  • ich fühle mich schlecht 5.6%
  • ich habe mit meinen Freunden Probleme 5.6%
  • ich möchte noch mehr trinken 11.1%
  • ich habe ein schlechtes Gewissen 0%
  • andere Gründe 5.6%

Weitere Gründe für den Alkoholkonsum nach A. M. Haung (1981):

  • with parents for celebration 36%
  • their friends drink 31%
  • they have reached the age to drink 24%
  • to be with the crowd 22%
  • for pleasure 21%
  • to avoid being laughed 14%

Das Einstiegsalter für Alkoholkonsum wurde schon in verschiedenen Studien untersucht. Im Durchschnitt liegt das Alter, in dem die Kinder/Jugendlichen das erste Mail trinken, zwischen 12 und 14 Jahren. Huang (1981) verglich in seiner Studie den Zeitpunkt des ersten Alkoholkonsums bei Jugendlichen mit normaler Intelligenz und bei Jugendlichen mit verminderter Intelligenz. Die Tabelle zeigt, dass Jugendliche mit geistiger Behinderung zum größten Teil den ersten Kontakt mit Alkohol im Alter von 15 bis 18 Jahren haben (28%), während die meisten Jugendliche ohne geistige Behinderung schon früher mit Alkohol in Kontakt kommen, nämlich 30% schon im Alter von 10 bis 12 Jahren.

Abschließend lässt sich sagen, dass Menschen mit geistiger Behinderung das gleiche Trinkverhalten zeigen, wie Menschen ohne geistige Behinderung. Ein Unterschied ist aber, dass weniger Menschen mit geistiger Behinderung Alkohol trinken und dass sie später damit anfangen.

Folgen

Die Folgen des Alkoholmissbrauchs können sich auf unterschiedlicher Art und Weise bemerkbar machen. Gewöhnlich sind festzustellen:

  • körperliche Schäden (unkontrollierter Genuss von Alkohol schadet wichtigen Körperorganen)
  • psychische und psychosoziale Problematik

Außer diesen Folgen lassen sich bei geistig behinderten Alkoholkonsumenten noch weitere Problematiken aufzählen:

  • Probleme im Heim bzw. mit dem Betreuer (schlimmstenfalls halten sich Betroffene vom Heim fern, werden obdachlos)
  • kriminelle Vergehen
  • Selbstaggression (Suizid)
  • Personen werden hilflos
  • soziale Beziehungen: hierbei sind besonders die Familien (Eltern) betroffen, die guten sozialen Beziehungen gehen meistens verloren
  • Probleme an der Arbeitsstelle und in Werkstätten. Diese zeigen sich durch Arbeitsversäumnisse, unentschuldigtes Fehlen, Mängel an Zuverlässigkeit, heimliches Trinken am Arbeitsplatz, Probleme mit den Arbeitskollegen etc.

Maßnahmen

Die Behandlung von Alkoholikern dauert normalerweise ein paar Jahre und verläuft in mehreren Phasen. Phasen:

  • Kontaktphase
  • Entgiftungsphase
  • Entwöhnungsphase
  • Nachsorgephase (Weiterbehandlung)

Bei der Behandlung von geistig behinderten Alkoholikern werden die Bezugspersonen (Eltern, Betreuer) stark miteinbezogen. Außerdem benötigen sie eine passende Therapie und einen geeigneten Aufenthaltsort. Die Therapie kann je nach Wahl des Betroffenen und seiner Betreuer in stationärer, halbstationärer oder ambulanter Behandlung erfolgen. Laut Therapiestelle und Einrichtungen nehmen erfahrungsmäßig Personen mit Intelligenzminderung mehr Zeit und Kosten in Anspruch. Gründe hierfür sind mangelnde und ungenügende Therapieangebote und unpassende Infrastruktur für diese Klientel. Außerdem stellen Klienten mit Intelligenzminderung höhere Anforderungen an die Einrichtungen und Fachleute als normale Patienten. Ursächlich ist hierfür der biographische Hintergrund (kognitive Einschränkung, doppelte Diagnose (intellektuell behindert und psychisch gestört)). Daraus resultiert, dass dieser Personenkreis Schwierigkeiten hat, in Suchtfachkliniken unterzukommen. Die Menschen mit geistiger Behinderung und einer Suchterkrankung brauchen eine speziellere und differenziertere fachliche Unterstützung als Personen ohne diese Diagnose; sie brauchen handlungsorientierte Interventions- und Präventionsmaßnahmen wie die Entwicklung von Lösungs- und Handlungsstrategien. (siehe DIDAK)

Literatur

  • Haase, Kristina: Alkoholismus bei Menschen mit einer geistigen Behinderung; Diplomarbeit 2009
  • Hildebrand, Jan: Möglichkeiten heilpädagogisch-therapeutischer Angebote für geistig behinderte Menschen mit einer Alkoholproblematik; Diplomarbeit, 2009
  • Huang AM.: The drinking behavior of the educable mentally retarded and the nonretarded student, 1981
  • Schanze, Christian: Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung, S.63
  • Soyka, Michael; Feuerlein, Wilhelm; Küfner, Heinrich: Alkoholismus, Mißbrauch und Abhängigkeit, S. 153

Weblinks