Abolitio

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Das lateinische Wort abolitio bezeichnete die extern veranlasste Beendigung eines Strafverfahrens vor dem Urteilsspruch (Abolition). Abolitionen hatten vor allem zwei Funktionen: erstens die Beförderung der Popularität eines Herrschers, bzw. Herrschaftssystems, und zweitens die Korrektur einiger Systemprobleme des Justizsystems.

Bestimmungen über die abolitio finden sich in dem als Digesten oder Pandekten bekannten Teil des auf Betreiben von Kaiser Justinian I. (527-565) kompilierten Corpus Iuris Civilis (CIC). Die abolitio ist Gegenstand des 16. Kapitels des 48. Buches (D. 48.16), wobei die Wirkungen der abolitio auf laufende Strafverfahren wegen Ehebruchs viel Raum einnehmen.

Umstrittene Bedeutung

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Pandekten (533 n.Chr.) war die Institution der Abolition womöglich schon 500 Jahre alt. Sie gilt als Erfindung der römischen Kaiserzeit (frühe und hohe: 27 v. - 284 n. Chr; späte: 285 bis 476). Theodor Mommsen hielt die abolitio für quantitativ und qualitativ unbedeutend, da Hinweise auf diese Rechtsinstitution in den Quellen eher spärlich seien und die abolitio auch nicht in das streng prinzipiengeleitete römische Recht gepasst habe. Möglicherweise war hier allerdings - so die neuere Forschung - der Wunsch der Vater des Gedankens. Mommsen war mit den Imperfektionen des Rechts seiner Zeit unzufrieden und idealisierte womöglich die römische Strafrechtspflege als nahezu more geometrico funktionierend (Gamauf 2013: 299). Institutionen wie die abolitio mussten ihm wie systemwidrige Reste unsystematischer Willkür erscheinen.

Heute wird die Bedeutung der abolitio im Zusammenhang mit den Funktionsproblemen der damaligen Strafjustiz gesehen. Im römischen Recht wurden Strafverfahren durch Privatanklagen in Gang gebracht. Die Erhebung einer Privatanklage war leicht und oftmals von Vorteil für den Kläger (obwohl für die falsche Beschuldigung - calumnia - Strafen vorgesehen waren). Da es aber an Möglichkeiten mangelte, einmal in Gang gesetzte und von den Klägern nicht energisch weiterbetriebene Klagen zu einem effektiven Verfahrensabschluss zu bringen, drohten unerledigte Verfahren das System zu paralysieren. Hier konnte eine generelle Einstellung laufender Verfahren einen Ausweg bieten, indem Beschuldigte von der Last der Anklage befreit und "Karteileichen" aus dem Akten des Gerichts aussortiert wurden.

Strukturprobleme der Strafrechtspflege

Dieses System, so der Rechtshistoriker Richard Gamauf (2013: 301) "versetzte böswillige Zeitgenossen sogar in die Lage, Anklagen aus persönlicher Feindschaft zu erheben (inimicos suos reos fecerunt) und die Verfahren zu Lasten ihrer Opfer in der Schwebe zu halten." Zudem hatte bereits die Aufnahme des Angeklagten in die Anklageliste für den Betroffenen nachteilige Rechtsfolgen. Strafanzeigen wurden auch dadurch begünstigt, dass dem Ankläger bei erfolgreichem Abschluss des Prozesses eine Belohnung aus dem Vermögen des Verurteilten winkte.

In einer Rede (oratio) vor dem Senat äußerte sich Kaiser Claudius (41-54) überaus erzürnt über die "Tyrannei der Ankläger" und der Konsul Cassio Dio beklagte anlässlich seines Amtsantritts unter Septimius Severus (193-211), dass die Gerichte Roms mit nicht weniger als 3000 offenen Ehebruchsverfahren überlastet seien.

Erfahrungsgemäß waren viele Ehemänner, die ihre Frauen des Ehebruchs beschuldigt hatten, nach einiger Zeit durchaus bereit, ihre Klagen zurückzunehmen, sahen sich daran aber durch die mit der calumnia verbundene Strafdrohung, die nun ihnen drohte, daran gehindert. Für sie war es daher naheliegend, das Verfahren nicht einzustellen, sondern einfach nicht weiter zu betreiben, was für die betroffenen Frauen ebenso wie für die Gerichte eine dauernde Belastung darstellte.

Abolitio publica

Unter den (von Papinian unterschiedenen) drei Arten der abolitio (ex lege, privata, publica) kam der abolitio publica die größte Bedeutung zu. Die abolitio ex lege betraf die Einstellung eines Strafverfahrens als Folge eines im Gesetz bezeichneten Umstandes (vor allem: Tod oder Unfähigkeit des Anklägers); die abolitio privata betraf die Aufhebung eines schwebenden Anklageverfahrens auf Wunsch des Anklägers (wer die Anklage fallen ließ, ohne diese Aufhebung erwirkt zu haben, war wegen tergiversatio strafbar). Da eine Wiederaufnahme der Anklage nach einer Privatabolition so gut wie ausgeschlossen war, war die Erlaubnis zur abolitio private schwer zu erlangen (Gamauf 2013: 311 f.).

Mit der abolitio publica wurden alle Anklagen (mit Ausnahme schwerster Verbrechensvorwürfe) von Staats aus Anlass eines Festes oder freudigen Ereignisses vom Senat (oder vom Kaiser) aufgehoben. Nach Ablauf einer bestimmten Frist konnte die Anklage allerdings wieder aufgenommen werden. Die Abolition beseitigte also nur das schwebende Verfahren, nicht die Möglichkeit einer weiteren Verfolgung des Angeklagten wegen der ihm zur Last gelegten Tat durch denselben oder einen anderen Ankläger. Für die völlige Befreiung des Angeklagten von weiterer Verfolgung bedurfte es eines beneficium generale oder einer indulgentia specialis.

Ehebruchsverfahren gegen inhaftierte Sklaven wurden allerdings trotz einer abolitio publica weitergeführt und in Untersuchungshaft befindliche Sklaven waren von abolitiones sowieso ausgenommen. Am stärksten profitierten von den Abolitionen die Angehörigen der Oberschicht.

Politische Funktion

"Es verband sich ein strenges Strafrecht mit einer sehr großzügigen Gnadenpraxis, die ebenfalls dazu beitrug, daß lediglich ein kleiner Teil der überführten Straftäter der ganzen Schärfe des Gesetzes unterworfen wurde. Amnestien waren seit der frühen Kaiserzeit ein gängiges Mittel kaiserlicher Politik. Insbesondere der Amtsantritt eines neuen Kaisers war regelmäßig Anlaß, um eine Amnestie zu verkünden. Begnadigungen trugen viel zur Popularität des Kaisers bei. Und es wurden nicht nur Straftäter nach bereits erfolgter Verurteilung amnestiert, sondern auch noch laufende Verfahren niedergeschlagen (abolitio publica). Auch die abolitio publica war ein ganz probates Mittel für die Kaiser, ihre Popularität zu steigern: Sie wurde etwa anläßlich von herausragenden Ereignissen, die es zu feiern galt, wie Siegen über auswärtige Feinde, beschlossen. Von kaiserlichen Amnestien profitierten also nicht nur verurteilte Straftäter, die aus dem Exil zurückgerufen, von der Zwangsarbeit befreit oder aus dem Gefängnis, wo sie auf ihre Hinrichtung warteten, entlassen wurden, sondern auch Untersuchungshäftlinge. In der Spätantike wurden regelmäßig insbesondere anläßlich des Osterfestes Amnestien gewährt: Es wurden alle in den Gefängnissen Einsitzenden freigelassen, mit Ausnahme lediglich derer, die sich eines Schwerverbrechens (Majestätsverbrechen, Mord, Giftmischerei, Ehebruch, Vergewaltigung) schuldig gemacht hatten. Alle anderen Straftäter konnten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie spätestens beim nächsten Osterfest wieder auf freien Fuß gesetzt würden" (Krause 2004: 79-80).



Literatur

  • Abolitio in de.wikisource = Rudolf Leonhard, Abolitio, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I, 1. In dem Beitrag finden sich als Quellen genannt:
  • Geib Gesch. d. r. Kriminalproz. 572–576. 585–588.
  • Rein röm. Kriminalrecht 273–276.
  • Rudorff röm. Rechtsg. II § 139 S. 460f.
  • Schulin Lehrb. d. Gesch. d. r. R. 562.

Siehe auch